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Ein kurzer Lagebericht
Ich habe einen leichten Schlaf, hatte ihn früher schon. Nachts wache ich vermutlich häufig auf - vielleicht wegen des Straßenlärms, vielleicht wegen der Träume. Sonderlich lang können die Wachphasen nicht sein, denn am nächsten Morgen erinnere ich mich nicht mehr an sie.
Vielleicht ist mein Schlaf einfach nicht tief genug, um erholsam zu sein.
Es gibt so viele Möglichkeiten.
So oder so, die Müdigkeit bleibt.
Die Welt um mich herum ist zu schnell geworden, meine Realität zu langsam – je nachdem, aus welcher Perspektive man es betrachtet.
Wenn ich etwas sehe, ist der Moment schon fast vorüber, was ich höre, häufig schon verhallt und was ich spüre, schon beinah Vergangenheit.
Mein Leben liegt einige Sekunden hinter dem der Anderen.
Das ist Müdigkeit.
Meine Beine sind schwer, wie jeden Morgen, erschöpft, als wäre ich die ganze Nacht hindurch gelaufen. Die Stirn schweißnass.
"Ein leichter Schlaf verlängert das Leben", sagte mein Ausbilder. Lieber müde als tot, dachte ich damals.
Ich schlage die Decke zurück und setzte mich auf.
Die Digitalanzeige des Funkweckers zeigt sechs Uhr dreißig. Ein Piepen zerreißt die Stille. Ich drücke die Schlummertaste.
"Wie hast du geschlafen?", fragt Sandra hinter mir gedämpft durch das Bettlaken.
"Es geht", sage ich, weil Lügen zu anstrengend wäre.
Wir schlafen in getrennten Betten. Sandra findet keine Ruhe neben mir. Ich würde mich zu viel bewegen, wäre zu unruhig. Sandra braucht ihren Schlaf, einer muss das Geld für die Miete verdienen. Mein Sold ist für die Polstergarnitur und den Spanienurlaub draufgegangen. Damals, als wir noch dachten, alles sei nur eine Frage der Zeit.
Gähnend streicht Sandra die blonden Strähnen aus ihrem Gesicht und schlurft in Richtung Küche. Besonders hübsch ist sie nicht, auch nicht klug, eigentlich noch nicht einmal interessant. Aber sie liebt mich. Das genügt.
"Kaffee?", fragt sie aus der Küche.
"Ja, danke."
Über sieben Stunden Schlaf. Und ich bin müder als zuvor.
"Was machst du heute?"
"Ich weiß noch nicht, mal schauen. Wieso?"
"Kannst du einkaufen gehen?"
"Klar."
"Ich leg dir 'nen Zettel hin, ja?"
"Okay."
"Bist ein Schatz."
Sie kommt zurück. In ihren Händen zwei dampfende Becher.
"Du siehst echt fertig aus. Vielleicht solltest du doch noch mal zum Arzt gehen", sagt sie und reicht mir den Kaffeebecher. "Oder?"
Ich zucke mit den Schultern. Vielleicht.
"Ich verstehe schon, dass du keinen Bock drauf hast. Hätte ich auch nicht. Trotzdem, es muss was passieren."
"Ja, ja, hast Recht."
"Markus, ich meine das ernst." Die Stimmung droht zu kippen. "Das Geld reicht vorne und hinten nicht. Du musst wieder anfangen zu arbeiten. Früher oder später."
Ich stehe auf und nehme sie in den Arm; etwas umständlich, weil die dampfenden Becher im Weg sind.
"Ich kümmere mich darum, okay?", sage ich.
"Okay."
Sie vergräbt ihr Gesicht an meiner Schulter.
"Vertrau mir, wir kriegen das schon wieder hin."
"Okay."
Sie löst sich von mir und geht zurück in die Küche.
Ich habe mit Sandra nie über die Katzen gesprochen. Über ihr Weinen, ihr Klagen, die langgezogenen Schreie, die ich jede Nacht höre.
Obwohl ich hier an der Bundesstraße nie eine freilaufende Katze gesehen habe, und die Fenster nachts wegen des Verkehrslärms immer geschlossen bleiben.
Nachdem Sandra gegangen ist, dusche und rasiere ich mich, ziehe mich an. Ich brauche lange dafür, jeder Handgriff, jede Tätigkeit muss genau geplant werden.
Ich hatte Glück, die Amnesie umfasst nur einen kurzen Zeitraum. Eine Woche, zehn Tage – im Nachhinein ist das schwer zu sagen. Der Arzt ist der Meinung, dass mein prozedurales Gedächtnis nicht betroffen war. Trotzdem muss ich vieles neu lernen.
Gegen Mittag gehe ich einkaufen. Um diese Zeit sind die Geschäfte leer. Ich gebe es zu, Menschenmengen machen mir Angst. Ich verliere schnell den Überblick.
Die dicke Kassiererin mit der Dauerwelle denkt, ich sei geistig behindert. Ich sehe es ihr an. Die zu zahlende Summe liest sie laut und deutlich vor. Ihr grell geschminkter Mund formt dabei jede Silbe einzeln, als wäre ich aufs Lippenlesen angewiesen. Wenn ich nicht sofort reagiere, wiederholt sie ihr kleines Schauspiel und zeigt auf die Digitalanzeige.
Beim ersten Mal spielte ich noch kurz mit dem Gedanken, sie anzuschreien und an den Haaren durch den Laden zu schleifen.
Stattdessen ging ich eine Zeit lang abends einkaufen. Doch es dauerte nicht lange, bis die Kollegin von der Spätschicht mir einen ähnlichen Service bot. Anscheinend haben sich die beiden über mich unterhalten – möglicherweise ist es auch ein und dieselbe Kassiererin. Ich kann mir Gesichter schlecht merken.
Früher war ich Busfahrer. Das geht nun nicht mehr.
Meine Beine fangen an zu zittern. Sobald ich einen Bus betrete, werden sie taub. An schlechten Tagen reicht die Kraft nicht, um stehen zu bleiben. Für fünfzehn Minuten querschnittsgelähmt.
Wie ein Turner hangele ich mich an den Haltegriffen entlang zur Tür – meine Beine ziehe ich hinter mir her. Der Bus hält und ich stemme mich nach draußen.
Es dauert einige Minuten, bis ich das Kneifen in meinem Oberschenkel wahrnehme. Nur langsam spüre ich meine Beine wieder. Die Muskeln sind so hart wie die Holzbank, auf der ich sitze. Verkrampft durch die Strapazen der Busfahrt.
Wie auf Stelzen wanke ich nach Hause.
Heute ist kein guter Tag.
"Du hast schon wieder Post", sagt Sandra.
Ich schaue nicht auf. Ich weiß, wovon sie spricht.
Schon das zweite Mal diese Woche.
Keine Ahnung, ob das ein schlechtes Zeichen ist. Ein gutes ist es sicher nicht.
"Wer schickt dir die nur?"
Ich zucke mit den Schultern.
"Ich glaube ja immer noch, du hast ein Kind im Vorschulalter, das du mir verschweigst."
Sandra lacht und legt die Karte auf den Tisch.
Der Hafen in der Abenddämmerung. In der Mitte ein gigantisches Kreuzfahrtschiff. Im Hintergrund die untergehende Sonne, davor Möwen. Ein schönes Motiv.
Ich nehme die Karte in die Hand und drehe sie um. Es steht nichts darauf, wie immer. Nur die Adresse in kindlicher Schreibschrift.
Sandra sieht mich an, irgendwie erwartungsvoll.
"Ja, Liebling", sage ich, "du weißt ja, wie wir Seeleute sind: In jedem Hafen eine andere Braut."
Meine Stimme hört sich hohl an.
Aber Sandra lacht – laut und befreiend – und ich lache mit ihr.
Sandra schläft schnell ein. Bei ihr im Laden ist zurzeit viel los. Außerdem sind zwei Kolleginnen krank.
Ich liege allein in der Dunkelheit, starre an die Decke. Ab und an zieht ein dünner Fächer Licht über die Tapete. Die zu hoch eingestellten Scheinwerfer eines Lastwagens, der auf die Bundesstraße einbiegt.
Irgendwann schließe ich die Augen. Anfangs ist es still, nur das dumpfe Verkehrsgrollen in der Ferne, Sandras Atmen neben mir. Vertraute Geräusche, die das Gehirn leicht ausblendet.
Auf Zehenspitzen schleicht sich das Weinen in mein Bewusstsein. Erst nur ein einzelnes Wimmern, weit weg, doch bald lauter, bald verzweifelter. Wie Katzenjammer. Oder Babygeschrei.
Öffne ich die Augen, wird es leiser, entfernt sich. Schließe ich sie wieder, kommt es näher, pirscht sich heran.
Früher lag ich nächtelang wach. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt. So gut es geht.
Vielleicht ist es eine Spätfolge des Gedächtnisverlustes, die irgendwann von allein verschwindet. Vielleicht ist es auch ein Gehirntumor. Aber selbst der verschwindet irgendwann auf die eine oder andere Art.
Mein Bewusstsein zieht sich zurück und immer mehr Stimmen kommen hinzu. Als ich in den ruhelosen Schlaf hinüber gleite, hallt ein dutzendfaches Weinen durch meinen Kopf.
Sandra steht im Mantel in der Tür. Ihr Chef hat angerufen. Eine dritte Kollegin ist krank geworden.
"Es muss etwas passieren", sagt Sandra und ihr Blick irrt an mir vorbei durch den Raum, bleibt kurz bei der Postkarte hängen, die immer noch auf dem Küchentisch liegt.
"Ja."
"Es muss etwas passieren", sagt sie wieder, dieses Mal leiser, mehr zu sich.
"Und was?"
"Ich weiß es nicht, Markus", sie wendet sich ab, "ich weiß es wirklich nicht."
Dann fällt die Haustür ins Schloss.
Die Frau hinter dem Schalter im Postamt stellt keine Fragen. Schon lange nicht mehr. Wahrscheinlich denkt sie, ich sei nicht ganz richtig im Kopf. Bekloppt, aber ungefährlich.
Ich glaube, sie heißt Grabner, aber ich kann mir Namen so schlecht merken.
Mit einer Lupe untersucht sie den Poststempel und tippt einige Zahlen in den Computer. Einen Augenblick später nennt sie mir das Postamt, in dem die Karte gestempelt wurde.
Beim Hinausgehen höre ich das Getuschel. Man redet über mich – vielleicht bilde ich es mir auch nur ein.
Ich gehe in den Keller, hole den Stadtplan aus dem alten Schreibtisch. Vorsichtig entfalte ich ihn, damit die Fähnchen nicht abfallen.
Vierzehn Stück sind es insgesamt, durchnummeriert. Die ersten vier stecken alle in dem Postamt, in dem Frau Grabner arbeitet. Die darauffolgenden zehn Fähnchen beschreiben eine Art Spirale, entfernen sich immer weiter vom Ursprung. Nummer fünfzehn setzt diesen Trend fort; weit im Südosten im Industriegebiet.
Gleich wer mir diese Postkarten schickt, er oder sie entfernt sich von mir. Immer schneller.
Oder ich flüchte. Jedes Mal ein Stückchen weiter.
Wir reden wenig beim Abendessen. Ich sitze in der Küche, Sandra nebenan im Wohnzimmer.
Der Fernseher dröhnt dumpf durch den kleinen Flur.
"Warst du beim Arzt?", fragt sie in einer Werbepause.
Ich schüttele den Kopf.
Das Brot ist trocken. Wie ein Schwamm saugt es den Speichel auf und verklebt zu kleinen teigartigen Bällen.
"Markus, warst du heute beim Arzt?" Dieses Mal lauter.
Ich trinke einen Schluck Wasser, um die Bälle hinunter zu spülen.
Plötzlich steht Sandra in der Küche.
"Was soll das, Markus?"
Geräuschvoll schlucke ich den Brotklumpen hinunter.
"Ich hatte gerade den Mund voll. Entschuldige."
"Und?"
"Was, und?"
"Ob du beim Arzt warst?"
Ich schaue wieder auf meinen Teller, beiße von dem trockenen Brot ab. Mein Kiefer schmerzt vom Kauen.
Sandra stellt ihr Geschirr in die Spüle und geht hinaus. Später höre ich die Wohnungstür.
"Du kannst dich an nichts erinnern?", fragt Sandra in die Dunkelheit des Schlafzimmers.
"Nein", sage ich, weil die Wahrheit zu schwer, zu groß, zu mächtig erscheint.
"Wirklich an überhaupt nichts?"
Ihre Stimme hat etwas Flehendes, etwas Verzweifeltes.
"Lass uns schlafen, ja? Ich bin hundemüde", sage ich und drehe mich auf die Seite.
Eine Zeit lang höre ich Sandra leise weinen.
Irgendwann wird es still und die Katzen in meinem Kopf erwachen.
Ich öffne die Augen. Und renne.
Mit einem Schlag bin ich hellwach. Mein Bewusstsein kehrt zurück und meine Beine verlieren den Rhythmus – ich strauchele, falle hin.
Mein Herz schlägt zu schnell, meine Lunge ist zu klein. Über mir das Licht der Straßenlaterne und in mir für einen Augenblick lang die Gewissheit, sterben zu müssen.
Dann beruhigt sich der Gummiball in meiner Brust. Schließlich schaffe ich es, mich aufzusetzen.
Eine schmale Straße, parkende Autos, dahinter Vorgärten und Einfamilienhäuser.
Ich weiß nicht, wo ich bin.
Mir ist kalt, der Asphalt nass. Es nieselt.
Als der Himmel im Osten sich langsam färbt, stehe ich auf.
An der nächsten Kreuzung ist eine Bushaltestelle. Ich schaue auf den kleinen Stadtplan.
Weit im Osten, kurz hinter der Stadtgrenze. Die Spirale dreht sich weiter.
Sandra ist gegangen. Zu ihrer Mutter, wie mir eine kurze Notiz verrät. Um zur Ruhe zu kommen, wieder zu sich selbst zu finden.
Ich gehe in die Küche und lege die Postkarten auf den Tisch. Die Motive nach unten, sorgfältig nebeneinander wie ein Memoryspiel. Auf jeder steht nur die Adresse, in kindlicher Schreibschrift. Keine Botschaft, keine Nachricht.
Stift und Papier liegen bereit. Sorgfältig schreibe ich die drei Zeilen untereinander. Erst mit rechts, dann mit links. Das Ergebnis erstaunt mich nicht einmal.
Ich schließe die Haustür ab, ziehe die Vorhänge zu, schalte das Licht aus.
Lange starre ich in die Dunkelheit, während Tränen auf den Küchentisch tropfen.
Irgendwann schließe ich die Augen und die Katzen weinen mit mir.
Dieses Mal rieche ich auch das verbrannte Fleisch.
Qualm brennt in meinen Augen. Jenseits der Tränen sehe ich Flammen, den völlig zerstörten Jeep.
Über mir nur die Sonne und sengende Hitze. Unter mir nur staubiger Sand und Asphalt.
Zwei Armlängen entfernt ein Armeestiefel, aus dem ein weißer Stumpf ragt.
Jetzt, am Ende meiner Flucht, liege ich wieder bäuchlings auf der staubigen Straße.
Es ist ganz still.
Nur das Weinen, das Stöhnen, die Schreie verhallen im strahlend blauen Himmel, während meine Kameraden sterben.
Hamburg, 02.11.06 – 12.11.06 / 22.12.06 – 23.12.06 / 25.12.06