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Ein kurzer Lagebericht

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08.06.2004
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Ein kurzer Lagebericht

Ich habe einen leichten Schlaf, hatte ihn früher schon. Nachts wache ich vermutlich häufig auf - vielleicht wegen des Straßenlärms, vielleicht wegen der Träume. Sonderlich lang können die Wachphasen nicht sein, denn am nächsten Morgen erinnere ich mich nicht mehr an sie.
Vielleicht ist mein Schlaf einfach nicht tief genug, um erholsam zu sein.
Es gibt so viele Möglichkeiten.
So oder so, die Müdigkeit bleibt.
Die Welt um mich herum ist zu schnell geworden, meine Realität zu langsam – je nachdem, aus welcher Perspektive man es betrachtet.
Wenn ich etwas sehe, ist der Moment schon fast vorüber, was ich höre, häufig schon verhallt und was ich spüre, schon beinah Vergangenheit.
Mein Leben liegt einige Sekunden hinter dem der Anderen.
Das ist Müdigkeit.

Meine Beine sind schwer, wie jeden Morgen, erschöpft, als wäre ich die ganze Nacht hindurch gelaufen. Die Stirn schweißnass.
"Ein leichter Schlaf verlängert das Leben", sagte mein Ausbilder. Lieber müde als tot, dachte ich damals.
Ich schlage die Decke zurück und setzte mich auf.
Die Digitalanzeige des Funkweckers zeigt sechs Uhr dreißig. Ein Piepen zerreißt die Stille. Ich drücke die Schlummertaste.
"Wie hast du geschlafen?", fragt Sandra hinter mir gedämpft durch das Bettlaken.
"Es geht", sage ich, weil Lügen zu anstrengend wäre.

Wir schlafen in getrennten Betten. Sandra findet keine Ruhe neben mir. Ich würde mich zu viel bewegen, wäre zu unruhig. Sandra braucht ihren Schlaf, einer muss das Geld für die Miete verdienen. Mein Sold ist für die Polstergarnitur und den Spanienurlaub draufgegangen. Damals, als wir noch dachten, alles sei nur eine Frage der Zeit.
Gähnend streicht Sandra die blonden Strähnen aus ihrem Gesicht und schlurft in Richtung Küche. Besonders hübsch ist sie nicht, auch nicht klug, eigentlich noch nicht einmal interessant. Aber sie liebt mich. Das genügt.
"Kaffee?", fragt sie aus der Küche.
"Ja, danke."
Über sieben Stunden Schlaf. Und ich bin müder als zuvor.
"Was machst du heute?"
"Ich weiß noch nicht, mal schauen. Wieso?"
"Kannst du einkaufen gehen?"
"Klar."
"Ich leg dir 'nen Zettel hin, ja?"
"Okay."
"Bist ein Schatz."
Sie kommt zurück. In ihren Händen zwei dampfende Becher.
"Du siehst echt fertig aus. Vielleicht solltest du doch noch mal zum Arzt gehen", sagt sie und reicht mir den Kaffeebecher. "Oder?"
Ich zucke mit den Schultern. Vielleicht.
"Ich verstehe schon, dass du keinen Bock drauf hast. Hätte ich auch nicht. Trotzdem, es muss was passieren."
"Ja, ja, hast Recht."
"Markus, ich meine das ernst." Die Stimmung droht zu kippen. "Das Geld reicht vorne und hinten nicht. Du musst wieder anfangen zu arbeiten. Früher oder später."
Ich stehe auf und nehme sie in den Arm; etwas umständlich, weil die dampfenden Becher im Weg sind.
"Ich kümmere mich darum, okay?", sage ich.
"Okay."
Sie vergräbt ihr Gesicht an meiner Schulter.
"Vertrau mir, wir kriegen das schon wieder hin."
"Okay."
Sie löst sich von mir und geht zurück in die Küche.

Ich habe mit Sandra nie über die Katzen gesprochen. Über ihr Weinen, ihr Klagen, die langgezogenen Schreie, die ich jede Nacht höre.
Obwohl ich hier an der Bundesstraße nie eine freilaufende Katze gesehen habe, und die Fenster nachts wegen des Verkehrslärms immer geschlossen bleiben.

Nachdem Sandra gegangen ist, dusche und rasiere ich mich, ziehe mich an. Ich brauche lange dafür, jeder Handgriff, jede Tätigkeit muss genau geplant werden.
Ich hatte Glück, die Amnesie umfasst nur einen kurzen Zeitraum. Eine Woche, zehn Tage – im Nachhinein ist das schwer zu sagen. Der Arzt ist der Meinung, dass mein prozedurales Gedächtnis nicht betroffen war. Trotzdem muss ich vieles neu lernen.
Gegen Mittag gehe ich einkaufen. Um diese Zeit sind die Geschäfte leer. Ich gebe es zu, Menschenmengen machen mir Angst. Ich verliere schnell den Überblick.
Die dicke Kassiererin mit der Dauerwelle denkt, ich sei geistig behindert. Ich sehe es ihr an. Die zu zahlende Summe liest sie laut und deutlich vor. Ihr grell geschminkter Mund formt dabei jede Silbe einzeln, als wäre ich aufs Lippenlesen angewiesen. Wenn ich nicht sofort reagiere, wiederholt sie ihr kleines Schauspiel und zeigt auf die Digitalanzeige.
Beim ersten Mal spielte ich noch kurz mit dem Gedanken, sie anzuschreien und an den Haaren durch den Laden zu schleifen.
Stattdessen ging ich eine Zeit lang abends einkaufen. Doch es dauerte nicht lange, bis die Kollegin von der Spätschicht mir einen ähnlichen Service bot. Anscheinend haben sich die beiden über mich unterhalten – möglicherweise ist es auch ein und dieselbe Kassiererin. Ich kann mir Gesichter schlecht merken.

Früher war ich Busfahrer. Das geht nun nicht mehr.
Meine Beine fangen an zu zittern. Sobald ich einen Bus betrete, werden sie taub. An schlechten Tagen reicht die Kraft nicht, um stehen zu bleiben. Für fünfzehn Minuten querschnittsgelähmt.
Wie ein Turner hangele ich mich an den Haltegriffen entlang zur Tür – meine Beine ziehe ich hinter mir her. Der Bus hält und ich stemme mich nach draußen.
Es dauert einige Minuten, bis ich das Kneifen in meinem Oberschenkel wahrnehme. Nur langsam spüre ich meine Beine wieder. Die Muskeln sind so hart wie die Holzbank, auf der ich sitze. Verkrampft durch die Strapazen der Busfahrt.
Wie auf Stelzen wanke ich nach Hause.
Heute ist kein guter Tag.

"Du hast schon wieder Post", sagt Sandra.
Ich schaue nicht auf. Ich weiß, wovon sie spricht.
Schon das zweite Mal diese Woche.
Keine Ahnung, ob das ein schlechtes Zeichen ist. Ein gutes ist es sicher nicht.
"Wer schickt dir die nur?"
Ich zucke mit den Schultern.
"Ich glaube ja immer noch, du hast ein Kind im Vorschulalter, das du mir verschweigst."
Sandra lacht und legt die Karte auf den Tisch.
Der Hafen in der Abenddämmerung. In der Mitte ein gigantisches Kreuzfahrtschiff. Im Hintergrund die untergehende Sonne, davor Möwen. Ein schönes Motiv.
Ich nehme die Karte in die Hand und drehe sie um. Es steht nichts darauf, wie immer. Nur die Adresse in kindlicher Schreibschrift.
Sandra sieht mich an, irgendwie erwartungsvoll.
"Ja, Liebling", sage ich, "du weißt ja, wie wir Seeleute sind: In jedem Hafen eine andere Braut."
Meine Stimme hört sich hohl an.
Aber Sandra lacht – laut und befreiend – und ich lache mit ihr.

Sandra schläft schnell ein. Bei ihr im Laden ist zurzeit viel los. Außerdem sind zwei Kolleginnen krank.
Ich liege allein in der Dunkelheit, starre an die Decke. Ab und an zieht ein dünner Fächer Licht über die Tapete. Die zu hoch eingestellten Scheinwerfer eines Lastwagens, der auf die Bundesstraße einbiegt.
Irgendwann schließe ich die Augen. Anfangs ist es still, nur das dumpfe Verkehrsgrollen in der Ferne, Sandras Atmen neben mir. Vertraute Geräusche, die das Gehirn leicht ausblendet.
Auf Zehenspitzen schleicht sich das Weinen in mein Bewusstsein. Erst nur ein einzelnes Wimmern, weit weg, doch bald lauter, bald verzweifelter. Wie Katzenjammer. Oder Babygeschrei.
Öffne ich die Augen, wird es leiser, entfernt sich. Schließe ich sie wieder, kommt es näher, pirscht sich heran.
Früher lag ich nächtelang wach. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt. So gut es geht.
Vielleicht ist es eine Spätfolge des Gedächtnisverlustes, die irgendwann von allein verschwindet. Vielleicht ist es auch ein Gehirntumor. Aber selbst der verschwindet irgendwann auf die eine oder andere Art.
Mein Bewusstsein zieht sich zurück und immer mehr Stimmen kommen hinzu. Als ich in den ruhelosen Schlaf hinüber gleite, hallt ein dutzendfaches Weinen durch meinen Kopf.

Sandra steht im Mantel in der Tür. Ihr Chef hat angerufen. Eine dritte Kollegin ist krank geworden.
"Es muss etwas passieren", sagt Sandra und ihr Blick irrt an mir vorbei durch den Raum, bleibt kurz bei der Postkarte hängen, die immer noch auf dem Küchentisch liegt.
"Ja."
"Es muss etwas passieren", sagt sie wieder, dieses Mal leiser, mehr zu sich.
"Und was?"
"Ich weiß es nicht, Markus", sie wendet sich ab, "ich weiß es wirklich nicht."
Dann fällt die Haustür ins Schloss.

Die Frau hinter dem Schalter im Postamt stellt keine Fragen. Schon lange nicht mehr. Wahrscheinlich denkt sie, ich sei nicht ganz richtig im Kopf. Bekloppt, aber ungefährlich.
Ich glaube, sie heißt Grabner, aber ich kann mir Namen so schlecht merken.
Mit einer Lupe untersucht sie den Poststempel und tippt einige Zahlen in den Computer. Einen Augenblick später nennt sie mir das Postamt, in dem die Karte gestempelt wurde.
Beim Hinausgehen höre ich das Getuschel. Man redet über mich – vielleicht bilde ich es mir auch nur ein.

Ich gehe in den Keller, hole den Stadtplan aus dem alten Schreibtisch. Vorsichtig entfalte ich ihn, damit die Fähnchen nicht abfallen.
Vierzehn Stück sind es insgesamt, durchnummeriert. Die ersten vier stecken alle in dem Postamt, in dem Frau Grabner arbeitet. Die darauffolgenden zehn Fähnchen beschreiben eine Art Spirale, entfernen sich immer weiter vom Ursprung. Nummer fünfzehn setzt diesen Trend fort; weit im Südosten im Industriegebiet.
Gleich wer mir diese Postkarten schickt, er oder sie entfernt sich von mir. Immer schneller.
Oder ich flüchte. Jedes Mal ein Stückchen weiter.

Wir reden wenig beim Abendessen. Ich sitze in der Küche, Sandra nebenan im Wohnzimmer.
Der Fernseher dröhnt dumpf durch den kleinen Flur.
"Warst du beim Arzt?", fragt sie in einer Werbepause.
Ich schüttele den Kopf.
Das Brot ist trocken. Wie ein Schwamm saugt es den Speichel auf und verklebt zu kleinen teigartigen Bällen.
"Markus, warst du heute beim Arzt?" Dieses Mal lauter.
Ich trinke einen Schluck Wasser, um die Bälle hinunter zu spülen.
Plötzlich steht Sandra in der Küche.
"Was soll das, Markus?"
Geräuschvoll schlucke ich den Brotklumpen hinunter.
"Ich hatte gerade den Mund voll. Entschuldige."
"Und?"
"Was, und?"
"Ob du beim Arzt warst?"
Ich schaue wieder auf meinen Teller, beiße von dem trockenen Brot ab. Mein Kiefer schmerzt vom Kauen.
Sandra stellt ihr Geschirr in die Spüle und geht hinaus. Später höre ich die Wohnungstür.

"Du kannst dich an nichts erinnern?", fragt Sandra in die Dunkelheit des Schlafzimmers.
"Nein", sage ich, weil die Wahrheit zu schwer, zu groß, zu mächtig erscheint.
"Wirklich an überhaupt nichts?"
Ihre Stimme hat etwas Flehendes, etwas Verzweifeltes.
"Lass uns schlafen, ja? Ich bin hundemüde", sage ich und drehe mich auf die Seite.
Eine Zeit lang höre ich Sandra leise weinen.
Irgendwann wird es still und die Katzen in meinem Kopf erwachen.

Ich öffne die Augen. Und renne.
Mit einem Schlag bin ich hellwach. Mein Bewusstsein kehrt zurück und meine Beine verlieren den Rhythmus – ich strauchele, falle hin.
Mein Herz schlägt zu schnell, meine Lunge ist zu klein. Über mir das Licht der Straßenlaterne und in mir für einen Augenblick lang die Gewissheit, sterben zu müssen.
Dann beruhigt sich der Gummiball in meiner Brust. Schließlich schaffe ich es, mich aufzusetzen.
Eine schmale Straße, parkende Autos, dahinter Vorgärten und Einfamilienhäuser.
Ich weiß nicht, wo ich bin.
Mir ist kalt, der Asphalt nass. Es nieselt.
Als der Himmel im Osten sich langsam färbt, stehe ich auf.
An der nächsten Kreuzung ist eine Bushaltestelle. Ich schaue auf den kleinen Stadtplan.
Weit im Osten, kurz hinter der Stadtgrenze. Die Spirale dreht sich weiter.

Sandra ist gegangen. Zu ihrer Mutter, wie mir eine kurze Notiz verrät. Um zur Ruhe zu kommen, wieder zu sich selbst zu finden.
Ich gehe in die Küche und lege die Postkarten auf den Tisch. Die Motive nach unten, sorgfältig nebeneinander wie ein Memoryspiel. Auf jeder steht nur die Adresse, in kindlicher Schreibschrift. Keine Botschaft, keine Nachricht.
Stift und Papier liegen bereit. Sorgfältig schreibe ich die drei Zeilen untereinander. Erst mit rechts, dann mit links. Das Ergebnis erstaunt mich nicht einmal.
Ich schließe die Haustür ab, ziehe die Vorhänge zu, schalte das Licht aus.
Lange starre ich in die Dunkelheit, während Tränen auf den Küchentisch tropfen.
Irgendwann schließe ich die Augen und die Katzen weinen mit mir.
Dieses Mal rieche ich auch das verbrannte Fleisch.
Qualm brennt in meinen Augen. Jenseits der Tränen sehe ich Flammen, den völlig zerstörten Jeep.
Über mir nur die Sonne und sengende Hitze. Unter mir nur staubiger Sand und Asphalt.
Zwei Armlängen entfernt ein Armeestiefel, aus dem ein weißer Stumpf ragt.
Jetzt, am Ende meiner Flucht, liege ich wieder bäuchlings auf der staubigen Straße.
Es ist ganz still.
Nur das Weinen, das Stöhnen, die Schreie verhallen im strahlend blauen Himmel, während meine Kameraden sterben.


Hamburg, 02.11.06 – 12.11.06 / 22.12.06 – 23.12.06 / 25.12.06

 

Hallo Don Jorgo,

mitreissende Story ... nur das Ende verstört mich etwas, aus zweierlei Gründen: Der trotz allen Elends etwas unmotiviert erscheinende Selbstmord und das nicht gelöste Rätsel der weinenden Katzen und der Postkarten mit der Kinderschrift.

LG,

N

 

Moin Nicole!

Danke fürs Kommentieren.
Freut mich zu hören, dass dir die Geschichte gefällt - trotzdem für dich einiges unklar ist.
Wenn der Absender der Postkarten unbekannt bleibt, geht der Geschichte meiner Meinung nach viel verloren. Ich werde allerdings noch ein paar Kritiken abwarten, bevor ich mich für oder gegen eine explizitere Darstellung entscheide.
Später also mehr dazu.

J

 

Hallo Don Jorgo,

Du hast etwas geschafft, was mir hier selten passiert. Du hast mich in den Bann Deiner Geschichte so richtig reingezogen. :thumbsup:

Im ersten Moment ging es mir ähnlich wie Nicole. Ratlosigkeit! Aber beim zweiten Lesen bin ich der Lösung denke ich, auf die Spur gekommen. Du hast ja einen entscheidenden Hinweis gegeben.

Mich stört der Selbstmord am Ende nur aus einem Grund: Irgendwie ist das so eine epidemische Erscheinung in Kurzgeschichten :D

Liebe Grüße
melisane

 

Hey Don Jorgo,

tolle Geschichte. Dieses Gefühl des Zerfaserns, des sich nicht selbst trauens, hast du hervorragend eingefangen. Sandra taucht immer am Rand der Wahrnehmung auf, der Leser weiß durch ihr Verhalten mehr über sie als der Protagonist. Ich hab schon am Anfang nach den Hinweisen auf Sold usw. vermutet, dass es sich um irgendein Kriegstrauma handelt und so war es wohl auch.
Wirklich tolle Geschichte, hat mich von der Grundstimmung an den Film Memento erinnert -und der hat eine wahnsinnig tolle Grundstimmung.

Hut ab
Quinn

 

Hi Don Jorgo,

ich kann mich nur wiederholen. Du bist erzählerisch in der letzten Zeit unheimlich gereift.
Das macht sich auch in dieser Geschichte deutlich bemerkbar.
Zwei Dinge, die ich trotzdem moniere:

"Ich leg dir 'nen Zettel, ja?"
hier fehlt mir irgendwie trotz wörtlicher Rede das "hin".
Über mir nur die Sonne und senkende Hitze
sengende

Dir einen lieben Gruß und ein schönes Weihnachtsfest, sim

 

Moin Melisane!

Mich stört der Selbstmord am Ende nur aus einem Grund: Irgendwie ist das so eine epidemische Erscheinung in Kurzgeschichten.
Und genau derselbe Gedanke beschäftigt mich ebenfalls.
Auf der einen Seite empfinde das Ende als konsequent und stimmig, auf der anderen Seite ist es vielleicht zu typisch - vor allem für diese Art von Plot.
Ich denke über Alternativen nach, bislang ist jedoch noch nicht sonderlich viel dabei raus gekommen.
Du hast mich in den Bann Deiner Geschichte so richtig reingezogen.
Das ist mir sehr wichtig. Danke.

Moin Quinn!

Ich hab schon am Anfang nach den Hinweisen auf Sold usw. vermutet, dass es sich um irgendein Kriegstrauma handelt und so war es wohl auch.
Ja, so habe ich mir das vorgestellt.
Ehrlich gesagt fällt mir ein Stein vom Herzen, dass die Geschichte doch verstanden wird. Sie bietet halt nur Hinweise, keine Erklärungen. Umso mehr freut es mich, dass sie funktioniert.
Dieses Gefühl des Zerfaserns, des sich nicht selbst trauens, hast du hervorragend eingefangen.
Vielen Dank, auch für die Empfehlung.

Moin sim!

Du bist erzählerisch in der letzten Zeit unheimlich gereift.
Was soll ich dazu noch sagen?

Vielen Dank.

Euch dreien noch schöne Festtage und danke, dass ihr euch die Zeit genommen habt.

J

 

Hallo Don Jorgo,

hmm, musste noch mal über Dein Ende nachdenken ;)

Klingt jetzt vielleicht doof, aber irgendwie hebst Du - in meiner vollkommen unmaßgeblichen Wahrnehmung - mit dem Selbstmord die langsame und bedrückende Stimmung des Textes auf. Er verliert an Tiefe und der Gashahn wirkt eher wie ein unerwarteter Dampfhammer. So, das Leben war scheiße, ich bin traumatisiert und jetzt mach ich dem mal ein dramatisches Ende...

Du lässt so viele rote Fäden aus Deiner Geschichte rausbaumeln, irgendwie wünschte ich mir, einen davon am Ende wiederzufinden. Die Idee mit den Postkarten, mit denen er sich immer mehr von zu Hause wegbewegt, fand ich übrigens ziemlich gut.

Liebe Grüße
melisane

 

Moin Melisane!

So, ich habe den Selbstmord ersatzlos gestrichen. Und siehe da - die Geschichte funktioniert trotzdem.
Das ist eigentlich ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Selbstmord nur einen Selbstzweck hatte - sprich, Effekthascherei.
Davon abgesehen habe ich allerdings nichts geändert. Die Fäden "baumeln" also noch genauso weit auseinander wie zuvor. Ich habe, gerade wenn es um die menschliche Psyche geht, immer die Befürchtung, Kausalketten zu konstruieren, die fernab jeglicher Realität sind.
Deshalb kein richtiges "Knäuel" am Ende.

Danke, dass du nicht lockergelassen hast.

J

 

Grüß dich, Don!

Wow, ich schließe mich sim einmal einfach vorbehaltslos an: du hast wirkliche ein e schöne Entwicklung durchgemacht, seit ich die letzte Story von dir gelesen habe.
Die Geschichte hat mich durch ihren melancholisch, depremierenden Grundton sofort gepackt, und sich das Grundmuster durch die ganze Story zieht, auch nicht wieder losgelassen. Ehrlich gesagt war auch mir durch die netten Andeutungen klar, dass es sich um ein Kriegstrauma handelt. Aufgrund der Anspielungen auf die Moderne (Digitalwecker) habe ich auch sofort an den Irak gedacht, und ich glaube dort ist es ihm auch widerfahren.
Weiters sehr gut gefallen haben mir die Katzen, dieses Jaulen, das er im Schlaf hört - ich interpretiere diesen hohen Ton als das Geräusch der Rakete oder der Granate vor dem Einschlag in den Jeep. Andererseits, vermischt mit Babygeschrei natürlich wieder das Wimmern der Kameraden. Ja, ich finde, man kann da viel hineininterpretieren.

Nur um die Postkarten richtig zu verstehen. Er hat sie sich selbst geschickt, oder irre ich mich?
Zwei Sachen nur:

Wenn ich etwas sehe, ist der Moment schon fast vorüber, was ich höre, häufig schon verhallt und was ich spüre, schon halb Vergangenheit.
Toller Satz!

Vielleicht ist es eine Spätfolge des Gedächtnisverlustes, die irgendwann von allein verschwindet. Vielleicht ist es auch ein Gehirntumor. Aber selbst der verschwindet irgendwann auf die eine oder andere Art.
Stört mMn den Rhythmus ein wenig. Vielleicht beim ersten Mal ‚irgendwann’ mit ‚einmal’ ersetzen. Ansonsten ein wunderbarer Vergleich mit eiskalter, leicht verbitterter Logik.


Gruß,
One

 

Moin Jorgo.

Bezüglich deines Schreibstils schließe ich mich meinen Vorkritikern an.

Die Welt um mich herum ist zu schnell geworden, meine Realität zu langsam – je nachdem, aus welcher Perspektive man es betrachtet.

"Ein leichter Schlaf verlängert das Leben", sagte mein Ausbilder. Lieber müde als tot, dachte ich damals.

Besonders hübsch ist sie nicht, auch nicht klug, eigentlich noch nicht einmal interessant. Aber sie liebt mich. Das genügt.

Diese drei Sätze möchte ich einmal stellvertretend zitieren. Auf dem ersten Blick recht simpel gestrickt, so entfalten sie doch einen enorme Wirkung. Das nenn ich Schreibkunst.

Wenn ich etwas sehe, ist der Moment schon fast vorüber, was ich höre, häufig schon verhallt und was ich spüre, schon halb Vergangenheit.
Hier irritierte mich ein wenig das halb. Ich weiß, was du ausdrücken wolltest, doch gibt es den Begriff "halbe Vergangenheit" überhaupt?
"Kaffee?", fragt sie aus der Küche.
"Ja, danke."
Über sieben Stunden Schlaf. Und ich bin müder als zuvor.
"Was machst du heute?"
"Ich weiß noch nicht, mal schauen. Wieso?"
"Kannst du einkaufen gehen?"
"Klar."
"Ich leg dir 'nen Zettel hin, ja?"
"Okay."
"Bist ein Schatz."
Sie kommt zurück. In ihren Händen zwei dampfende Becher.
"Du siehst echt fertig aus. Vielleicht solltest du doch noch mal zum Arzt gehen", sagt sie und reicht mir den Kaffeebecher. "Oder?"
Ich zucke mit den Schultern. Vielleicht.
"Ich verstehe schon, dass du keinen Bock drauf hast. Hätte ich auch nicht. Trotzdem, es muss was passieren."
"Ja, ja, hast Recht."
Gute Dialoge machen eine gute Geschichte aus. Wenn es ein Autor schafft, durch Dialoge Charaktere zu erschaffen, dann ziehe ich vor ihm den Hut. Wirklich äußerst gelungen.

Die dicke Kassiererin mit der Dauerwelle denkt, ich sei geistig behindert. Ich sehe es ihr an. Die zu zahlende Summe liest sie laut und deutlich vor. Ihr grell geschminkter Mund formt dabei jede Silbe einzeln, als wäre ich aufs Lippenlesen angewiesen. Wenn ich nicht sofort reagiere, wiederholt sie ihr kleines Schauspiel und zeigt auf die Digitalanzeige.
Hier musste ich richtig lachen. Eine geile Umweltbetrachtung! :thumbsup:

Insgesamt eine sehr einfühlsame und nachdenklich stimmende Geschichte, die vor allem durch ihren professionellen Stil zu überzeugen weiß.

Gruß und guten Rutsch! Salem

 

Moin One!

Schön, von dir zu lesen.

Aufgrund der Anspielungen auf die Moderne (Digitalwecker) habe ich auch sofort an den Irak gedacht, und ich glaube dort ist es ihm auch widerfahren.
Ja, so habe ich mir das auch gedacht. Wobei das Land natürlich recht austauschbar ist - Schauplätze gibt es zurzeit leider reichlich.
Nur um die Postkarten richtig zu verstehen. Er hat sie sich selbst geschickt, oder irre ich mich?
Ja, er schickt sich von jedem seiner nächtlichen Ausflüge selbst eine Ansichtskarte.
Wow, ich schließe mich sim einmal einfach vorbehaltslos an: du hast wirkliche eine schöne Entwicklung durchgemacht, seit ich die letzte Story von dir gelesen habe.
Vielen Dank, One. Großes Kompliment.
Freut mich, dass dir meine Geschichte gefällt.

Moin Salem!

Hier irritierte mich ein wenig das halb.
Hast Recht, "halb" ist ungenau formuliert. Hab 's gegen "beinah" ausgetauscht.
Insgesamt eine sehr einfühlsame und nachdenklich stimmende Geschichte, die vor allem durch ihren professionellen Stil zu überzeugen weiß.
Vielen Dank für dein Lob, Salem.
Ich muss sagen, dass mir das Schreiben bei dieser Geschichte auch sehr viel Spaß gemacht hat - vor allem was den Stil, diese stark verkürzte, immer wieder nach innen gerichtete Perspektive angeht.
Ich habe da wirklich keinerlei Kompromisse gemacht. Und wenn das dem Leser dann genauso gefällt, ist man als Autor natürlich wunschlos glücklich.

Guten Rutsch euch beiden!

J

 

Werter Don,

beeindruckend, wieder einmal.
Erzählerisch fährst Du hier großes Kopfkino auf, machst neugierig auf mehr, berichtest, zeigst mehr, und das alles mit erfreulicher Konsequenz. In der Sprache, den Bildern, in dem, was Du an Blickwinkeln verknüpfst und wie Du die verschiedenen Ebenen verwebst, zu dem Stoff, aus de, eine wirklich gute Kurzgeschichte gemacht ist.
Der Prot, sein Umfeld und seine Geschichte entsteht vor meinen Augen, immer mehr Details werden klarer, die Puzzlesteine setzen sich zusammen zu einem harmonischen Gesamtbild. Du hast mich gefesselt beim Lesen und festgehalten, noch mehr als bei Deinen anderen Geschichten.
Beeindruckend und für mich ein echter Genuss zu lesen.

Danke,
C. Seltsem

 

Moin Seltsem!

Entschuldige bitte, dass ich erst jetzt antworte - freie Zeit ist bei mir momentan rar gesät.

Der Prot, sein Umfeld und seine Geschichte entsteht vor meinen Augen, immer mehr Details werden klarer, die Puzzlesteine setzen sich zusammen zu einem harmonischen Gesamtbild.
Ich hatte anfangs noch die Befürchtung, es wären zu wenige Puzzelsteine bzw. das Bild, welches sie ergeben, könnte nicht klar genug sein. Der Pfad zwischen "nicht nachvollziehbar" und "Hollywood-psychologisch konstruiert" ist halt doch recht schmal.
Umso mehr freue ich mich natürlich, dass die Geschichte bei dir funktioniert hat.
Du hast mich gefesselt beim Lesen und festgehalten, noch mehr als bei Deinen anderen Geschichten.
Na ja, ich versuche, mich stetig weiterzuentwickeln (genauso wie viele andere hier wohl auch). Manchmal klappt das schon ganz gut, manchmal dafür aber auch überhaupt nicht.

Vielen Dank, Seltsem. Ich freue mich wirklich über dein Lob.

J

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Don,

hat sich echt gelohnt, deinen Text zu lesen. Werd ich empfehlen. Viel zu wenige Kommentare, wenn man andere Texte so sieht. Gut, dass du den Suizid gestrichen hast.

Du beschreibst die Personen sehr gut, schaffst es, einen Spannungsbogen einzuführen und beschreibst treffend die Beziehung der Personen, den langsamen Untergang …

„Die Welt um mich herum ist zu schnell geworden, meine Realität zu langsam – je nachdem, aus welcher Perspektive man es betrachtet.“

Prima - noch kann man die Perspektive verantwortlich machen.


"Es muss etwas passieren", sagt sie wieder, dieses Mal leiser, mehr zu sich.“

Die Wiederholung von "Es muss etwas passieren" ist ein schöner Kunstgriff!

„Eine Zeit lang höre ich Sandra leise weinen.
Irgendwann wird es still und die Katzen in meinem Kopf erwachen.“


Ein treffendes, wenn auch beklemmendes Bild: Das Eine geht, das Andere kommt, es gibt kein entrinnen.

L G,

tschüß Woltochinon

 

Moin Woltochinon!

Gut, dass du den Suizid gestrichen hast.
Ja, finde ich auch. Ich bin auch wirklich dankbar, dass einige Leser darauf so gepocht haben - hier allen voran Melisane und Nicole.
Du beschreibst die Personen sehr gut, schaffst es, einen Spannungsbogen einzuführen und beschreibst treffend die Beziehung der Personen, den langsamen Untergang …
Vielen Dank für dein Lob - ich freue mich sehr darüber. Natürlich auch über die Empfehlung.
Viel zu wenige Kommentare, wenn man andere Texte so sieht.
Damit kann ich gut leben.
Mir ist es lieber, zehn Leser mit meiner Geschichte wirklich zu erreichen, als hundert zu einem kurzen Kommentar zu motivieren.
Ich will nicht behaupten, dass sich diese beiden Möglichkeiten ausschließen, aber in den meisten Fällen ist es wohl recht schwer, beides zu erreichen.

J

 

Hi Don Jorgo,

auch mir gefällt deine Geschichte, insbesondere der nüchtern-melancholische Stil und der sachliche und positiverweise nichts sagende Titel. Allerdings bin ich erst bei der Lektüre der Kommentare darauf gekommen, was hinter den Postkarten steckt.

Gern gelesen,
-- floritiv.

 

Tach Don Jorgo!

Die Geschichte hat's wirklich verdient, wieder vorgekramt zu werden. Es ist wirklich schon seine Zeit her, dass ich so dermaßen in eine Geschichte verstrickt war ... Dieses In-der-Schwebe-Gefühl, die Anspielungen, das Geheimnisvolle, die Auflösung - fand ich toll umgesetzt.
In letzter Zeit war ich schwer begeistert von Filmen in dieser Richtung und hatte immer vor, das auch mal als Geschichte umsetzen ... na ja, jetzt weiß ich wie's gemacht wird. :)
Also: Tolle Stimmung, tolle Geschichte. Hat mir super gefallen!

Bis denne,
Fisch

 

Hallo Don Jorgo,

auch, wenn ich dir letztendlich nichts Neues mitteilen, also mich ebenfalls nur in die Reihe der Lobenden einfügen kann, so denke ich, dass es nicht vergebens ist, denn auf diese Weise weißt du, wie breit die Zustimmung zu dieser gelungenen Geschichte ist und sie kommt aus der Versenkung für eine Zeit wieder hervor und steht eine Weile im Vordergrund. Gut so.

Ich bin beeindruckt, wie sehr es dir gelingt mit Worten Athmosphäre zu schaffen, davon lebt diese Geschichte ganz besonders. Ich wünschte, ich könnte so schreiben.

Die Bedeutung der Postkarten habe ich zwar auch erst durch das Lesen der Kommentare verstanden, aber es hat mich auch nicht gestört, nicht zu wissen, was nun tatsächlich dahinter steckt. Für mich unterstrich es, wie von dir gewollt, die Situation des Protagonisten.

Lieben Gruß
lakita

 

Hallo Don Jorgo,

ich kenne deine Geschichte nur in der Endfassung und die ist rund und für mich auch verständlich. Die Spätfolgen des Ereignisses im Kampfgebiet stellst du sehr eindringlich dar. Am meisten hat mich geärgert/gestört, dass der Prot alleine gelassen wird und auch seine Partnerin nicht verstehen kann, was mit ihm geschehen ist. Ich kann mir gut vorstellen, dass dies auch in der Realität so ist und finde es beschämend von der Staatsmacht, die selbst hervorgebrachten Opfer so alleine zu lassen.

LG

Jo

 

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