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Ein Landleben
Heute ist ein schrecklicher Tag. Ich hasse diesen Kälte bringenden Wind, der über das Land fegt, den entmutigenden Regen. Doch Martha, die engagierte Tierärztin, wollte unbedingt hier leben, in dieser Einöde, bei ihren geliebten Pferden. Nun, ich bin mit ihr hierher gekommen, was tut man nicht alles aus Liebe. Aus Liebe zu Geld, ihrem Geld.
Sie steht vor mir, groß und kräftig. Greg, unser mächtiger, sonst widerspenstige Hund blickt bewundernd zu seiner Herrin auf. Umschwärmt wurde sie früher auch von mir, so, wie es ihren Wünschen entsprach. Marthas dichtes schwarzes Haar weht im Wind, eine grobe Jacke, ehemals grüne Gummistiefel, meine Frau. „Ich muss los, Fergusons Stier muss ruhig gestellt werden. Werde wohl über Nacht bleiben, es soll wieder Sturm geben, spätestens morgen früh.“ Sie springt in ihren zerschrammten Landrover, das Funkgerät blinkt nervös, es ist unser Handyersatz. Wo leben wir? Der nächste Nachbar ist zwölf Meilen entfernt, hat aber immerhin seine wild gewordene Kuh zu bieten. Martha startet den Motor. „Pass gut auf dich auf, du weißt, der Irre“, rufe ich. Sie kann mich nicht mehr hören, was soll's, ich hatte die fürsorgliche Bemerkung lediglich aus professioneller Gewohnheit gemacht.
Es wird bereits dunkel, die großen, kahlen Ulmen knarren im Wind. Ich hasse diese Bäume, sie sind alt, ihre dicken, staksigen Äste erinnern mich an Galgen. Frierend gehe ich in das niedrige, in eine Mulde geduckte Haus.
Erstaunlicherweise ist der Wind abgeflaut, trotzdem komme ich nicht zur Ruhe, denn ich bemerke ein störendes Geräusch, es gehört nicht zu dem üblichen Ächzen des Hauses. Ich kenne das Knarzen von Holzbalken, das Knacken des Kachelofens.
Ein Kratzen. An der Tür. Habe ich sie verschlossen? Ich lausche mit aller Kraft. Stille. Dann wieder, ein schabender Ton. Macht sich jemand am Schloss zu schaffen? Nur ruhig bleiben, völlig ruhig. Gut. Telefon - die Leitung ist tot, total. Eine Folge des gestrigen Sturms? Noch einmal, ganz deutlich, ein Scharren am Eingang. Verdammt, der Verrückte, der Serienmörder? Geduckt schleiche ich in die Küche. Das längste Messer. Deckung suchen. Lauschen. Meine Stirn ist feucht. Schweiß. Kalt. Sehr kalt. Etwas zuckt an meinem Hals. Schlagader. Zum Fenster hinaus? Weglaufen, verstecken, bei der Kälte?
Ich weiß nicht wie lange ich angespannt hinter dem großen Ledersessel gekauert habe, wartend, von panischer Angst beherrscht. Vielleicht war ich sogar vor Erschöpfung eingenickt. Es wird langsam hell. Kein Geräusch mehr an der Tür. Ich krieche zu ihr, das Messer in der Faust. Nun sehe ich einen Lichtstrahl am Türspalt. Ganz unten. Einige Holzspäne. Scheiße! Eine Maus! Wie aus der Ferne höre ich mich krankhaft kichern, allmählich fällt die Anspannung von mir ab: Ein erwachsener Mann normaler Größe und Stärke hat die Nacht voller Furcht zugebracht, vor einer Maus zitternd. Scheiße. Verdammte Scheiße! Ich bin mit den Nerven fertig, hasse diesen Wind, das Haus und diese ...
Erst jetzt wird mir bewusst, wie stürmisch es inzwischen geworden ist. Ach, leck mich. Ich will nur noch schlafen. Schwerfällig steige ich die Stufen zum Dachzimmer hinauf, lege mich in Kleidern auf das Bett, schaue durch das Fenster die blöden, windgepeitschten Bäume an und schlafe bald ein.
Irgendetwas hat mich geweckt. Ein Stich in meinen Arm. Jemand drückt mich kräftig in die Kissen. Wärme durchflutet mich. Schwere. Meine Arme. Meine Beine. Mein Körper gehorcht mir nicht mehr. „Tschüß, Liebling“ sagt Martha. Spöttisch. Sie geht. Bewegungsunfähig starre ich zum Fenster hinaus. Sturmböen erschüttern das Haus, die drohenden Bäume. Eine Ulme neigt sich ächzend. Äste krachen, Glas bricht. Ein zersplitterter Aststumpf zielt genau auf meine Brust. Noch ein Windstoß ... ich weiß, was dann geschieht. Ich fühle wieder diesen kalten Schweiß und überlege krampfhaft - hat sie das alles geplant?
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Ich habe noch einen alternativen Schluss geschrieben, welche Variante findet Ihr besser?
Ein zersplitterter Aststumpf richtet sich auf meine Brust. Ein erneuter Windstoß ... ich höre ein dumpfes Knacken in meiner Brust, gefolgt von einem stechenden Schmerz. Blutiger Schaum tritt aus meinem Mund, ein warmer, roter Fleck breitet sich auf meinem Hemd aus. Ich fühle wieder diesen kalten Schweiß und überlege - hat sie das alles geplant?
28.11.02
Siegbert Wolters