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Ein letztes Fest
John fummelte in seinem Aktenkoffer rum, wo er den Schlüssel suchte, er fand und steckte ihn in das Schloss, woraufhin sich die Türe zur Wohnung öffnete. Ein Geruch von frisch zubereiteter Pute stieg ihm entgegen. Er wusste, dass er sich nun geistig fallen lassen konnte und mit seiner Familie, die aus Tanja und Lissi bestand, ein schönes Fest feiern würde. Wäre da nicht dieses Gefühl, welches ihn schon den ganzen Tag begleitete, als würde etwas nicht stimmen, als wäre die Welt aus den Fugen geraten. Den Gedanken ignorierend setzte er den Aktenkoffer ab, zog die durchnässte Jacke aus, blickte zu seiner Frau, die das Weihnachtsessen vorbereitete, und sagte mit einem Funken Sarkasmus: „Weiße Weihnacht war gestern, heutzutage sind es dreißig Grad und Regen zugleich … was ein Fest.“ Seine Frau sah ihn spielerisch und zugleich vorwurfsvoll an, während sie weiter die Kartoffeln schälte. Sie trug ihre rote Schürze mit dem Aufdruck “Beste Mutter der Welt“, ihre Haare waren mit einem Band sorgfältig nach hinten gebunden und auf ihrer Stirn glänzten Schweißperlen wie kleine Diamanten. John musste sie einfach lieben, so schön wie sie war.
„Ja, es ist wirklich verrückt wie warm es heute ist. Ich war gerade eben im Garten gewesen, du wirst es nicht glauben, es zeigte tatsächlich 31 Grad Celsius an.“ Sagte Tanja und wusch sich die Hände.
„Ich glaube es dir. Mir war heute in der Praxis so warm, dass mir wärend einer Operation die Op-Helferinnen die Stirn abtupfen mussten. Ich könnte jetzt wieder über die Klimapolitik der vergangenen Jahrzehnte meckern, aber ich möchte die Stimmung nicht versauen.“ John setzte sich an den Esstisch, legte seine Unterarme auf das warme Holz und sah Tanja an.
„Lass uns wirklich lieber über etwas anderes sprechen. Apropos, Lissi spielt gerade, sie möchte ihre Puppen auf eine neue Freundin vorbereiten …“, Tanja kam näher an John heran und flüsterte ihm ins Ohr, „… Du hast doch an die Puppe gedacht, oder?“
„Na klar, sie ist in meinem Aktenkoffer, eingepackt in Geschenkpapier.“ Er lächelte breit und gab seiner Frau einen leidenschaftlichen Kuss. Aus dem Flur ertönte ein Geräusch von kleinen Füßen, die schnell über den Parkettboden flitzten. Die Tür sprang auf und Lissi stürmte in den Raum, auf dem Gesicht ein breites Grinsen in Richtung ihres Vaters.
„Papa“, rief sie freudig und schmiss sich in Johns Arme.
„Heute Abend kommt der Weihnachtsmann, der bringt mir gaaanz viele Geschenke … Papa, warum fährst du so schnell?“ Johns Magen zog sich zusammen, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn und ein eigenartiges Gefühl flutete seinen Körper.
„Was hast du gerade gesagt?“ Seine Stimme war kaum zu hören. Tanja stellte die Kartoffeln auf die Herdplatte und lächelte in ihre Richtung.
„Na, dass der Weihnachtsmann heute kommt, du Dummerchen“ antwortete Lissi etwas verwirrt, aber noch immer putzmunter.
„Äh … ja genau, der Weihnachtsmann …, du warst so ein braves Mädchen dieses Jahr, ich bin mir sicher, dass er kommt und dir die tollsten Geschenke bringt.“ John blickte, noch immer etwas neben sich, zu dem Weihnachtsbaum, der prunkvoll geschmückt war mit allerlei roten und silbernen Christbaumkugeln, weißem Lametta und an der Spitze ein alles überthronender Stern. Vor Johns Sicht flackerten viele kleine graue Quadrate. John blinzelte mehrmals und hob seine Tochter von seinem Schoß herunter.
„Ich glaube ich brauch erstmal einen Kaffee …“, sagte John und schritt zur Kaffeemaschine.
„War ein anstrengender Tag heute im Krankenhaus. Dieser neue Patient und vor allem diese Hitze.“ Er strich sich mit der Hand über die nasse Stirn.
„Was für ein Patient?“, fragte Tanja.
„So ein reicher Knabe mit noch reicheren Eltern hatte gestern einen schweren Autounfall. Wir konnten ihn retten, doch die Operation hat ihre Spuren hinterlassen, er liegt im Koma …“ - John schaute gedankenversunken auf seine gepflegten Hände - „… Die Eltern machten uns die Hölle heiß, als ob wir die Schuldigen für den Unfall wären. Ich darf dir nicht so viel über den Fall erzählen, wie ich gerne würde, aber ich sag mal so, ganz nüchtern war er nicht. Am Ende haben wir unser Bestes gegeben, doch trotz der hochpräzisen Operationsassistenten waren uns Grenzen gesetzt. Vor einigen Jahren hätte dieser Unfall zu 100% seinen Tod bedeutet. Wir konnten die beiden etwas besänftigen, indem wir ihnen zusicherten, dass er wieder aufwachen würde und dass er für ein kleines Vermögen in den Genuss eines dieser Komaassistenten kommen könnte.“
„Komaassistent?“
„Ja, eine Maschine, mit integrierter KI, die darauf programmiert ist dem Patienten ein Leben in einer künstlich erschaffenen Welt zu ermöglichen, in der alle Erinnerungen und Erfahrungen des Menschen zu einer alternativen Realität zusammenfließen, aber wie ich schon angedeutet habe, super teuer und ethisch noch umstritten.“ John redete sich förmlich in Rage, während seine Hände wild umherflogen.
„Okay, hört sich spannend an.“ John wusste, wenn es drei allgemeingültige Gesetze im Kosmos der Existenz geben musste, dann waren es: Jeder Mensch wird irgendwann das Zeitliche segnen, der Mensch überschätzt sein Dasein und Tanja ist nicht interessiert, wenn sie mit einem “Okay“ beginnt. Er bewegte die heiße Tasse zu seinem Mund und blickte seine Tochter an, die verzweifelt versuchte einen Schokoladenweihnachtsmann am Stiel mit einem Bissen zu verschlingen und musste grinsen. Diese kindliche Freude über die kleinsten Dinge, gemischt mit einer tiefen Neugierde zur Welt wünschte er sich sehnlichst zurück. Damals war die Welt eine buntere, wenn Oma Pila zu Besuch kam. An den Seiten ihrer braunen Tragetasche wölbten sich Geschenke hervor. Dann klopfte sein Vater ihm auf die Schulter, sagte, dass das Christkind gleich käme und er nun schnell ins Zimmer huschen solle, damit er es nicht verschrecke. Nach langer Warterei, klingelte ein mystisches Glöckchen. Sein junges Vorstellungsvermögen stellte sich vor, wie das Christkind schnell hinauseilte, damit es nicht gesehen werden würden. Und dann das Beste, die Geschenke. Denn im Gegensatz zu seiner Tochter, bekam er nur zum Geburtstag und zu Weihnachten etwas geschenkt, wodurch die Vorfreude in ihm brannte, wie die Wälder zur Dürrezeit.
Er wurde von einem lauten Hupen aus seinen Gedanken gerissen und erschrak. Die Wohnung zitterte durch das donnernde Geräusch-Orchester und John drückte sich die Handinnenflächen gegen die Ohren. Es war also wäre ein LKW durch das Zimmer gerast, doch er sah weder innerhalb noch außerhalb des Raumes die Quelle für die lauten Geräusche. Plötzlich tauchte ein grelles weißes Licht vor seinem inneren Auge auf und schien näher zu kommen. Ein Krach ertönte. Dann … Stille.
„Mein Schatz, das Essen ist fertig!“ Die warme Stimme seiner Frau ließ ihn wieder zu Bewusstsein kommen und er richtete sich auf, wobei sein benommener Geist die Situation noch nicht ganz verarbeitet hatte. Lissi und Tanja saßen wie bestellt am Esstisch, vor ihnen jeweils Teller mit Kartoffeln und Pute, deren Dampf sich wabernd im Raum verteilten. Im Dampf des Essens glitzerten kleine Partikel, die zersplitterten Glas ähnelten. Langsam verzogen sich Tanjas und Lissis Gesichter zu schreienden Fratzen.
„Was zum Teufel ist hier los?“ brach es aus John heraus, während sich seine Augen mit Tränen füllten und ihre Gesichter wieder zu ihrer normalen, fröhlichen Struktur zurücksprangen.
„Ich weiß nicht was du meinst, du hast dir doch Pute zu Weihnachten gewünscht, oder?“, sagte Tanja. Lissi starrte ihn an, als wäre jegliches Leben aus ihren Augen erloschen. Im Hintergrund glänzte der Weihnachtstern auf dem Baum im warmen Licht der Advendskerzen. Der Regen prasselte gegen das Fenster.
John hatte das Gefühl jeden Moment erneut das Bewusstsein zu verlieren, doch er versuchte sich zusammenzureißen. Er bewegte sich wie ein alter Mann mit Hüftproblemen zum Esstisch und setzte sich. Tanja und Lissi blickten noch immer starr auf die Stelle, wo John zuvor stand. Tanjas Mund bewegte sich, doch John hörte nicht was sie sagte, als würde er einen Stummfilm schauen. Er folgte seinem ersten Impuls und zwickte sich, in der Hoffnung zu schlafen. Der versuch misslang mit einem roten Fleck am Unterarm. Plötzlich begann sich der Raum zu drehen. Erst langsam, dann immer schneller, während sich nach und nach die Umgebung veränderte. Der Schmuck des Weihnachtsbaumes löste sich und wirbelte durch den Raum, hinter sich zog alles einen Schweif aus Farben her, der sich teilweise auflöste oder wild blinkte. Auch andere Möbelstücke und Deckorationen folgten der unsichtbaren Kraft, die an ihnen zerrte und sie ohne erkennbares Ziel umherschmiss. Die Kerzen Blinkten unnatürlich hell. Ein Strudel bildete sich, in deren Mitte sich Formen und Farben chaotisch sammelten. Das Glas der Fensterscheiben splitterte und der Regen, der eine feste Form angenommen hatte, fügte sich in dem Chaos ein. Alles verlor seine Strukturen, dann schloss John die Augen.
Er sah eine Straße, ringsherum schmückten Gräser, Bäume und Büsche, gehüllt in Dunkelheit, die Landschaft. John‘s Kopf begann zu schmerzen, während die Erinnerung sich wie ein Film vor seinem inneren Auge abspielte. Er sah aus der Frontscheibe des Wagens, die Scheinwerfer sorgten für etwas Licht.
„Papa, warum fährst du so schnell?“ ertönte es vom Rücksitz.
„Lissi, wir sind spät dran. Der Zug fährt in 20 Minuten ab, die Tickets sind schon gekauft“ sagte Tanja, die auf der Beifahrerseite saß.
„Mach dir keine Sorgen mein Schatz, dein Papa ist ein sehr guter Autofahrer.“
„Ich wäre lieber zu Hause geblieben, der Weihnachtsmann kommt doch morgen. Der denkt sicher, wir sind abgehauen und ich bekomme keine Geschenke.“ Lissi schmollte und überkreuzte die Arme.
„Mach dir da mal keine Sorgen, wir haben dem Weihnachtsmann gesagt, dass wir dieses Jahr bei Oma und Opa sind …“ sie neigte sich zu John und flüsterte „… Fahr bitte ein bisschen langsamer, du machst ihr Angst! Wenn wir den Zug verpassen, können wir immer noch den nächsten nehmen.“
„Weißt du wie voll die Züge heute sind, wir würden keine Sitzplätze mehr bekommen, es ist Weihnachten. Wir schaffen das!“ Lissi fing an zu weinen und John drehte sich nach hinten, um sie zu beruhigen.
„John pass auf!“ schrie Tanja. Vor ihnen waren große grelle Scheinwerfer zu sehen und sie kamen direkt auf sie zu. Ein ohrenbetäubendes Hupen ertönte und John riss das Lenkrad nach links. Der LKW wich ebenfalls aus und fuhr vorbei, wobei der Fahrer ununterbrochen die Hupe drückte. Mit hoher Geschwindigkeit fuhr das Auto von der Straße ab, vor ihnen, im Licht der Scheinwerfer tauchte ein Baum auf …
„Verdammt … wo bin ich?“
John öffnete die schweren Augenlider und nahm einen rauchigen Gestank war, gleichzeitig fühlte er sich völlig benebelt, als wäre er gerade aus einem langen Schlaf erwacht. Langsam formten sich schemenhafte Formen zu einer Umgebung. Er war nicht mehr in seiner Wohnung zusammen mit Lissi und Tanja, sondern in einem Krankenhaus. Weiße Betten, minimalistische Möbeleinrichtung, viele Kabel und Schläuche, die an seinem Arm befestigt waren und ein leichter Rauch. Er sah nach rechts und erblickte ein Gerät, an dem viele der Kabel zu ihm führten. Der Bildschirm flackerte sporadisch, an der Oberseite trat weiß schwarzer Dampf aus und John wusste, dass mit dem Gerät so einiges nicht stimmte.
„Wahrscheinlich diese verdammte Hitze“, dachte er sich. KA9100. Diese Nummer kannte er. Er kniff die Augen zusammen, dachte so scharf nach wie es sein schwacher Geist zuließ und … erschrak.
John, angeschlossen an einen Komaassistenten, geriet in Panik. Er riss hektisch die Elektroden von seinem Arm und versuchte aus diesem gottverdammten Zimmer zu fliehen, doch seine verkümmerten Beine ließen ihn im Stich. Die Erinnerungsfetzen des Unfalls traten zum Vorschein. Er schlug die Hände vors Gesicht, schrie, weinte und wollte nichts mehr als zu rennen, weit weg, dort wo ihn niemand hätte finden könnte, nicht mal er sich selbst.
„Ich habe sie getötet. Ich … ich hätte ausweichen können. Verdammt, ich bin der Mörder meiner eigenen Familie!“ Er vergrub die Hände fest in seinen Haaren. Die Tränen flossen an den Wangen hinunter und bildeten auf dem Boden eine kleine Pfütze, in der sich sein verzerrtes Gesicht spiegelte.
Er saß dort noch einige Minuten, bis er die Kraft fand sich zu bewegen. Wegen seiner schwachen Beine nahm er die Lehne eines Stuhls und hievte sich hoch, dann schob er sich mit dem Stuhl stückchenweise nach vorne, in Richtung des Fensters. Es war ein verschneiter Tag und die Sonne strahlte über dem leicht bewölkten Himmel. Unten auf dem großen Parkplatz war keine Menschenseele zu sehen. Einzelne mit Schnee bedeckten Bäume standen in bestimmten Abständen zueinander verteilt auf der Fläche. Weiter hinten zog sich eine Straße, ebenfalls ohne irgendein Anzeichen von Leben, durch die dörfliche Landschaft. Verwundert blickte er sich um, in der Hoffnung die Ursache für das Fehlen der Menschen zu finden, doch außer ein paar Vögel am Himmel war nichts Lebendiges zu sehen. Den Blick zum Komaassistent richtend machte sein Herz plötzlich einen Sprung. Der Rauch war weg. Der Komaassistent schien wie neu, auch das Bedienungsfenster blinkte nicht mehr.
John hörte ein leichtes rauschen, gemischt mit einem Ton ähnlich zu dem, wenn man keinen Radioempfang hat. An der Wand bildeten sich kleine Blasen, die pochten und sich zu bewegen schienen. Die Kommode begann zu schmelzen, sodass eine braune zähflüssige Pfütze entstand. Die Luft zitterte, glitzerte und bilde langsam eine feste Materie, in der John zu ersticken fürchtete. Die Welt verlor erneut ihre festen Strukturen, ihre Gesetzte, ihre Kräfte, alles.
Auf dem Bedienfeld des Komaassistenten erschien ein Code mit rotem Rahmen und John wusste, er ist in seiner eigenen künstlich erschaffenen Realität, ein Gefängnis geschaffen durch eine KI.