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Ein Mangel an dephlogistierter Luft

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23.10.2004
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Ein Mangel an dephlogistierter Luft

Die hasserfüllten Blicke der Menschen wühlen sich in ihr Innerstes. Die Abscheu, mit der ihre Existenz bedacht wird, schlägt ihr in einem kaum erträglichen Maße entgegen. Jeder Schritt vor die Haustüre ist ein Risiko. Deswegen wird das auch so oft wie nur möglich vermieden. Zum Einkaufen schiebt man sich die Mütze weit ins Gesicht. Zieht den langen Mantel an, einen Schal, lässt die Haare ins Gesicht hängen. Vergisst, dass dieser groteske Anblick wohl eher Blicke auf sich zieht als abweist. Fühlt sich zwar nicht ausreichend, aber dennoch, für den Moment, geschützt genug, um die Wohnungstüre hinter sich zuzuziehen und auf die Straße hinaus zu treten. Mit zitternden Händen wird eine Zigarette angemacht, dann fast schon gierig inhaliert. Man setzt sich in Bewegung. Geht leicht geduckt, schaut auf die Straße und zählt, um sich abzulenken, die Ritzen zwischen den Steinen. Ab und zu wird kurz aufgeschaut. Aber eher selten. Der Hass ist zu offensichtlich. Sie wird beobachtet, jede Sekunde ihres Lebens. Alles, was sie tut, wird gesehen und bewertet. Die Art und Weise, wie sie durch die Türe des Geschäftes geht, wie sie ihre Tasche hält und wie sie mit scheuem Blick das Toastbrot betrachtet.

Jetzt steht sie vor dem Kühlregal und ihr ist heiß. Sie kann ihre Atmung kaum kontrollieren.
Fahrig wischt sie sich über die feuchte Stirn, greift dann nach der Packung Ziegenkäse. Die Hand zittert. Schafft es kaum, den Käse zu umschließen und nicht fallen zu lassen. Irgendwie gelingt es ihr dann, ihre Tasche langsam zu füllen. Mit jedem Stück, das hineinwandert, scheint ihr Herz mehr Blut durch ihren Organismus zu pumpen. Immer schneller. Die Luft wird knapp. Reicht vielleicht, ganz vielleicht, noch für die Zeitspanne, die das Bezahlen und der Rückzug in ihre Wohnung beanspruchen wird. Vielleicht. Hoffentlich. Es ist nicht sicher. Nichts ist jemals sicher. Sie steht nun in der Schlange an der Kasse. Vor ihr ein großer, dicklicher Mann. Sein Nacken ist rot und wulstig. Der Kopf wird eher von Borsten als von Haaren bedeckt. Er riecht nach ranzigem Fett. Er könnte sie töten. Vielleicht wird er sie gleich, jeden Moment, in Sekundenschnelle, mit dem tiefgefrorenen Hähnchen, das sich unter seinen Einkäufen befindet, erschlagen. Die Verachtung und den Hass der Menschen damit in einer Handlung manifestieren. Sie hält das für sehr wahrscheinlich. Das Atmen fällt ihr immer schwerer. Sie ist eingekesselt zwischen ihrem Mörder und einer alten Frau. Es gibt kein Entkommen. Selbst wenn sie versuchen würde, zu flüchten, würde ihr die alte Frau bestimmt den Weg abschneiden. Alles Komplizen. Verschwörer. Verbrecher. Luft. Sie braucht Luft.

Schielt zur Kassiererin, die nun die Einkäufe des Wulstigen bearbeitet. Darunter auch die Mordwaffe, das Hähnchen. Wird er sie erst töten, wenn er bezahlt hat? Er würde sie töten, aber niemals, ohne vorher den Gegenstand, mit dem er die Tat vollstrecken wird, rechtmäßig zu erwerben. Sie blinzelt angestrengt, ihre Lider kleben fast an ihren trockenen, gehetzten Augäpfeln. Sie sieht, wie alle Einkäufe des Mannes in eine große Tasche wandern. Auch das Hähnchen. Er merkt, dass er beobachtet wird und schaut auf. Sieht sie an. Dann dreht er sich um und geht. Und sie lebt noch. Vielleicht wird er draußen lauern. Sie ist sich sicher. So wird es sein. Sie bezahlt, wagt dabei kaum aufzuschauen, denn sie weiß, dass sie den Hass in den Augen der Kassiererin nicht ertragen kann. Luft. Sie bekommt nicht genug Luft. Greift sich ihre Tasche und verlässt den Laden.
Schnell, geduckt, ohne sich umzuschauen.
Nun ist sie draußen. Sie schaut sich auch jetzt nicht um. Wenn er sie tötet, will sie es nicht kommen sehen. Sie will einfach den Schlag auf den Hinterkopf spüren und dann ins Nichts fallen.
Sie geht geduckter als sonst, die Schultern fast bis zu den Ohrläppchen hochgezogen.
Erwartet jeden Moment den stechenden Schmerz, ausgelöst durch einen wulstigen Mann und ein tiefgefrorenes Hähnchen.
Rechnet damit. Die ganze Zeit.
Erreicht schließlich ihre Straße, ihr Haus, ihre Wohnungstür.
Schließt auf, geht hinein, schließt ab. Und lebt noch. Atmet ein, ebenso gierig, wie kurz zuvor den Rauch ihrer Zigarette. Zieht Mantel, Schal, Mütze und Schuhe aus. Verstaut die Lebensmittel. Bis auf ein Päckchen Ziegenkäse. Das legt sie vor sich auf den Küchentisch. Das Atmen fällt ihr nun leichter. Jetzt ist sie hungrig. Sie schneidet ein Stück vom Käse ab und steckt es langsam in ihren Mund. Kaut bedächtig. Schluckt runter. Merkt, wie die zermalmte Masse ihre Speiseröhre hinunter gleitet. Merkt, wie etwas Hartes plötzlich den Weg für das Gekaute blockiert. Zieht scharf die Luft ein. Es kommt kaum etwas davon in ihren Lungen an. Sie hustet. Atmet wieder heftig ein. Luft. Sie braucht mehr Luft. Sie hustet. Keucht. Würgt.
Und dann fällt sie ins Nichts.

 

Frau Piratin schrieb unter ihre Geschichte:

Anmerkung: Öhm...ich bin mir, was die Rubrik angeht, nicht sicher...aber da Einkaufen etwas recht alltägliches ist, hab ich es mal nach hier verfrachtet.
bitte Kommentare immer als Extra-Posting.
Grüße
Anne

 

Ahoi!

Gefällt. Schön kurz.Treffend. Eigener Stil. Abgeschlossene Handlung. Aussage. Was will man mehr? Die Pointe fand ich gut. Nicht unbedingt überraschend, aber sehr gut rübergebracht. Ich finde, du beschreibst den Alltag deiner Prot ganz gut. Dass du zum Ende hin immer häufiger auf das Subjekt verzichtest drückt, finde ich, ganz gut ihre Atemnot aus, das Schlucken, keuchen nach Luft. Die kurzen Sätze bringen Tempo und Spannung rein. Stil und Inhalt passen gut zusammen. Es gibt ja wirklich Menschen, für die ist selbst Einkaufen ein Horror-trip, insofern passt es ganz gut in die Kategorie Alltag, denn es ist ja ihr Alltag. Dein etwas schwarzer Humor (Zynismus) schimmert bei der Mordwaffe am stärksten durch (ein Hähnchen?!). Dieser grausam humoristische Aspekt unterstützt aber nur noch das Gefühl beim Lesen, dass deine prot sich selbst eine Welt aus Angst schafft. Sicher weiss sie das auch selber. Oder zweifelt sie keinen Moment lang an ihrer Wahrnehmung?

Hier der Kleinkram:

Deswegen wird das auch so oft wie nur möglich vermieden

Der Wechsel in die Dritte person kommt etwas "hart" rüber. Vielleicht (das würde zu den kurzen Sätzen passen): Es wird vermieden. Oder auch anders, weiß nicht.

Vergisst, dass dieser groteske Anblick wohl eher Blicke auf sich zieht als abweist.

Vom Gefühl her würde ich sagen, nach dem "zieht" ein Komma.

Fühlt sich zwar nicht ausreichend, aber dennoch, für den Moment, geschützt genug, um die Wohnungstüre hinter sich zuzuziehen und auf die Straße hinaus zu treten.

Vom Gefühl her: Kein Komma hinter "Moment"

Er würde sie töten, aber niemals, ohne vorher den Gegenstand, mit dem er die Tat vollstrecken wird, rechtmäßig zu erwerben.

:-)

Er merkt, dass er beobachtet wird und schaut auf. Sieht sie an. Dann dreht er sich um und geht. Und sie lebt noch.

Das ist eine richtig gute Stelle. Sie geht leider ein wenig unter. Ist zu kurz. Dieser Blick könnte noch mehr ausgebaut sein. Denn hier ist sie ja für eine Sekunde lang, die Beobachtende. Es ist ein wenig wie ein Rollenwechsel. Du musst das nicht ausbauen, aber wenn du Lust hast, kannst es dir ja überlegen. (Nach "Sie lebt noch" würde ich einen Absatz machen, als Lesepause.)

Erreicht schließlich ihre Straße, ihre Haus, ihre Wohnungstür.

- ihr Haus

Grüße aus dem Nachklärbecken. Anker lichten. In den Sonnenuntergangfahren. S´war schön mit euch. Adieu.

 

Hallo Piratin,
beim Lesen deiner Geschichte kann man wirklich erahnen, was die Hauptfigur mitmacht und wie sie unter dem permanenten Verfolgungswahn leidet. Einen Moment lang dachte ich sogar daran, dass sie wirklich recht haben könnte - schliesslich gibt es auch einige ähnliche Geschichten, in denen die Hauptfigur wider aller Erwartungen mit ihren Verdächtigungen richtig liegt. Geschrieben ist der Text trotz der vielen kurzen Sätzen sehr flüssig und deshalb spannend. Probleme hatte ich höchstens mit dem zweiten Abschnitt, der nach dem ersten eigentlich unnötig ist - man hat bereits begriffen, dass die Hauptfigur in allem und jedem eine potentielle Gefahr sieht und das wird hier eigentlich nur noch wiederholt. Andererseits wäre die Geschichte ohne diesen Teil zu kurz, um dem Thema gerecht zu werden, etwas streichen könnte man aber trotzdem. Und das Ende? Na ja, klar, irgendwas musste noch geschehen und die Idee, dass die Todesursache schlussendlich überhaupt nichts mit den Ängsten der Person zu tun hat, ist ganz nett, nur kommt sie mir sehr bekannt vor und irgendwie wirkt die Pointe auch etwas künstlich und gewollt. Alles in allem aber hat mir der Text gefallen. Du schaffst es, die Denkweise der Protagonistin dem Leser klar zu machen und das mit gutem Schreibstil.

Viele Grüsse,
Sorontur

 

Hallo Frau Piratin,

um den (vielleicht) anderen Unwissenden die Suche zu ersparen:

dephlogistieren= verkalken bzw. oxidieren

Nach deinem Text dachte ich: Ja, so könnte ich mir jemanden vorstellen, der Lebensängste, eine Phobie oder psycho-reizbedingte Asthmaanfälle hat.
Anfangs dachte ich noch, du beschreibst eine richtige Prol-Frau, aber die hat wahrscheinlich ansatzweise die gleichen Probleme mit der Umwelt.

Eine der guten Geschichten hier - die Prot hätte nicht mal sterben müssen; im Gegenteil, wenn sie nach dem Käse einigermaßen relaxt in ihren Sessel gessen wäre, hätte sie mir am Schluß noch besser gefallen. Aber das ist nur ein Detail am Rande. Ich würde mich auf mehr Geschichten von dir freuen.

Ach...dann war da noch: zermalmen

Lieber Gruß
bernadette

 

Danke für's Lesen und Kommentieren. Freut mich, dass ihr euch Gedanken gemacht und mir diese mitgeteilt habt. Die Flüchtigkeitsfehler etc. habe ich nun elegant entfernt.

@ Sorontur: Kann sein, dass der zweite Abschnitt ein wenig nach Wiederholung schmeckt, ist aber notwendig, denn die arme Lady in der Geschichte wird ebenfalls so permanent mit diesen Ängsten konfrontiert. Für sie ist es sicher auch eher überflüssig. ;)

Und das Ende? Na ja, klar, irgendwas musste noch geschehen und die Idee, dass die Todesursache schlussendlich überhaupt nichts mit den Ängsten der Person zu tun hat, ist ganz nett, nur kommt sie mir sehr bekannt vor und irgendwie wirkt die Pointe auch etwas künstlich und gewollt.

Da hast du wahrscheinlich recht. Ich hatte einfach große Lust, eine mental etwas traumatisierte Dame an einem Stück Ziegenkäse ersticken zu lassen. Das Thema ist zwar ernst, die Geschichte an sich auch, aber ich hatte auch im Hinterkopf, die Ambivalenz zwischen Tragik und Lächerlichkeit ein wenig deutlich zu machen.

So. Danke again. Man liest sich eventuell.

Die Piratin

 

Hallo!

Tja, was soll ich noch sagen, meine Vorredner haben praktisch alles schon angesprochen. Hab die Geschichte insgesamt auch sehr gern gelesen.

Eines ist mir beim Lesen allerdings passiert: Weil sich die Protagonistin so verhüllt und es so scheint, als würde der befürchtete Hass der Leute durch das Ansehen ihres Körpers und ihres Gesichtes veruracht werden, musste ich an jemanden mit Entstellungen oder sowas denken. Irgendwie hat das mit der "Abscheu, die ihr entgegenschlägt" zu dieser Auffassung beigetragen.
Im weiteren Textverlauf gibt es aber keinen Hinweis mehr darauf, ich habe einfach beim Weiterlesen immer mehr Zweifel daran gehegt.
Hat vermutlich nix mit deiner Schreibweise zu tun, ist auch kein Fehler oder so. Ist nur so eine wertfreie Anmerkung von mir, es ist mir halt beim Lesen so gegangen.

Lob übrigens dafür, dass du nach so langer Pause eine weitere Geschichte in dieses Forum gepostet hast. Ich hoffe, man hört noch mehr von dir, denn schreibst recht gut.

Bis dann!
Seth Rock

 

Ich kann mich dem Lob meiner Vorkritiker nur bedingt anschließen. Für meinen Geschmack hält sich der Text zu sehr damit auf, das Gefühl der Protagonistin eindringlich zu beschreiben. Mich hätte interessiert, welche Gedanken hinter der reinen Angst stecken, welche Motivationen. So abstrus diese auch sein könnten.

Den Wechsel von “man” zu “sie” vom ersten auf den zweiten Absatz halte ich für ungünstig.

Noch einige Kleinigkeiten, teilweise sehr subjektiv:

  • Die hasserfüllten Blicke der Menschen wühlen sich in ihr Innerstes - Mir mißfällt das Bild, meiner Meinung nach sollten haßerfüllte Blicke eher stechen oder schlagen, aber nicht wühlen. Wühlen ließe sich mit Mißtrauen kombinieren.
  • Deswegen wird das auch so oft wie nur möglich vermieden. - Nur ein Beispiel für den obengenannten Kritikpunkt: weshalb die “man”-Perspektive?
  • Irgendwie gelingt es ihr dann - Das ist mir zu schwach, vielleicht ein wenig illustrativer.
  • ganz vielleicht - Gut, wird in Gedanken formuliert. Gefällt mir aber trotzdem nicht.
  • Nichts ist jemals sicher. - Diese Aussage erscheint mir paradox: Ist sich die Protagonistin nicht sicher, daß sie die Welt genau erkennt? Du stellst ihre Wahnvorstellungen dar, als sei sie vollkommen davon überzeugt, und nun soll sie an allem zweifeln?
  • Selbst wenn sie versuchen würde, zu flüchten - Ohne Komma.
  • Alles Komplizen. Verschwörer. Verbrecher. Luft. - Sieht so aus, als sei “Luft” in dieser Aufzählung enthalten. Vielleicht besser Kommata zuvor? Die Aufzählung will mir auch nicht behagen, vielleicht so: “Alles Verbrecher, oder deren Komplizen, Verschwörer allesamt.”
  • Er merkt, dass er beobachtet wird und schaut auf. - Hier könntest Du vielleicht etwas mehr daraus machen. Vielleicht schenkt der Wulstige ihr noch einen bösen Blick?
  • ausgelöst durch einen wulstigen Mann und ein tiefgefrorenes Hähnchen. - wie wäre: “ausgelöst durch den gezielten Schlag eines wulstigen Mannes mit einem tiefgefrorenen Hähnchen”?
  • Bis auf ein Päckchen Ziegenkäse. - “das Päckchen”, wurde ja schon genannt

 

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