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Ein Mangel an dephlogistierter Luft
Die hasserfüllten Blicke der Menschen wühlen sich in ihr Innerstes. Die Abscheu, mit der ihre Existenz bedacht wird, schlägt ihr in einem kaum erträglichen Maße entgegen. Jeder Schritt vor die Haustüre ist ein Risiko. Deswegen wird das auch so oft wie nur möglich vermieden. Zum Einkaufen schiebt man sich die Mütze weit ins Gesicht. Zieht den langen Mantel an, einen Schal, lässt die Haare ins Gesicht hängen. Vergisst, dass dieser groteske Anblick wohl eher Blicke auf sich zieht als abweist. Fühlt sich zwar nicht ausreichend, aber dennoch, für den Moment, geschützt genug, um die Wohnungstüre hinter sich zuzuziehen und auf die Straße hinaus zu treten. Mit zitternden Händen wird eine Zigarette angemacht, dann fast schon gierig inhaliert. Man setzt sich in Bewegung. Geht leicht geduckt, schaut auf die Straße und zählt, um sich abzulenken, die Ritzen zwischen den Steinen. Ab und zu wird kurz aufgeschaut. Aber eher selten. Der Hass ist zu offensichtlich. Sie wird beobachtet, jede Sekunde ihres Lebens. Alles, was sie tut, wird gesehen und bewertet. Die Art und Weise, wie sie durch die Türe des Geschäftes geht, wie sie ihre Tasche hält und wie sie mit scheuem Blick das Toastbrot betrachtet.
Jetzt steht sie vor dem Kühlregal und ihr ist heiß. Sie kann ihre Atmung kaum kontrollieren.
Fahrig wischt sie sich über die feuchte Stirn, greift dann nach der Packung Ziegenkäse. Die Hand zittert. Schafft es kaum, den Käse zu umschließen und nicht fallen zu lassen. Irgendwie gelingt es ihr dann, ihre Tasche langsam zu füllen. Mit jedem Stück, das hineinwandert, scheint ihr Herz mehr Blut durch ihren Organismus zu pumpen. Immer schneller. Die Luft wird knapp. Reicht vielleicht, ganz vielleicht, noch für die Zeitspanne, die das Bezahlen und der Rückzug in ihre Wohnung beanspruchen wird. Vielleicht. Hoffentlich. Es ist nicht sicher. Nichts ist jemals sicher. Sie steht nun in der Schlange an der Kasse. Vor ihr ein großer, dicklicher Mann. Sein Nacken ist rot und wulstig. Der Kopf wird eher von Borsten als von Haaren bedeckt. Er riecht nach ranzigem Fett. Er könnte sie töten. Vielleicht wird er sie gleich, jeden Moment, in Sekundenschnelle, mit dem tiefgefrorenen Hähnchen, das sich unter seinen Einkäufen befindet, erschlagen. Die Verachtung und den Hass der Menschen damit in einer Handlung manifestieren. Sie hält das für sehr wahrscheinlich. Das Atmen fällt ihr immer schwerer. Sie ist eingekesselt zwischen ihrem Mörder und einer alten Frau. Es gibt kein Entkommen. Selbst wenn sie versuchen würde, zu flüchten, würde ihr die alte Frau bestimmt den Weg abschneiden. Alles Komplizen. Verschwörer. Verbrecher. Luft. Sie braucht Luft.
Schielt zur Kassiererin, die nun die Einkäufe des Wulstigen bearbeitet. Darunter auch die Mordwaffe, das Hähnchen. Wird er sie erst töten, wenn er bezahlt hat? Er würde sie töten, aber niemals, ohne vorher den Gegenstand, mit dem er die Tat vollstrecken wird, rechtmäßig zu erwerben. Sie blinzelt angestrengt, ihre Lider kleben fast an ihren trockenen, gehetzten Augäpfeln. Sie sieht, wie alle Einkäufe des Mannes in eine große Tasche wandern. Auch das Hähnchen. Er merkt, dass er beobachtet wird und schaut auf. Sieht sie an. Dann dreht er sich um und geht. Und sie lebt noch. Vielleicht wird er draußen lauern. Sie ist sich sicher. So wird es sein. Sie bezahlt, wagt dabei kaum aufzuschauen, denn sie weiß, dass sie den Hass in den Augen der Kassiererin nicht ertragen kann. Luft. Sie bekommt nicht genug Luft. Greift sich ihre Tasche und verlässt den Laden.
Schnell, geduckt, ohne sich umzuschauen.
Nun ist sie draußen. Sie schaut sich auch jetzt nicht um. Wenn er sie tötet, will sie es nicht kommen sehen. Sie will einfach den Schlag auf den Hinterkopf spüren und dann ins Nichts fallen.
Sie geht geduckter als sonst, die Schultern fast bis zu den Ohrläppchen hochgezogen.
Erwartet jeden Moment den stechenden Schmerz, ausgelöst durch einen wulstigen Mann und ein tiefgefrorenes Hähnchen.
Rechnet damit. Die ganze Zeit.
Erreicht schließlich ihre Straße, ihr Haus, ihre Wohnungstür.
Schließt auf, geht hinein, schließt ab. Und lebt noch. Atmet ein, ebenso gierig, wie kurz zuvor den Rauch ihrer Zigarette. Zieht Mantel, Schal, Mütze und Schuhe aus. Verstaut die Lebensmittel. Bis auf ein Päckchen Ziegenkäse. Das legt sie vor sich auf den Küchentisch. Das Atmen fällt ihr nun leichter. Jetzt ist sie hungrig. Sie schneidet ein Stück vom Käse ab und steckt es langsam in ihren Mund. Kaut bedächtig. Schluckt runter. Merkt, wie die zermalmte Masse ihre Speiseröhre hinunter gleitet. Merkt, wie etwas Hartes plötzlich den Weg für das Gekaute blockiert. Zieht scharf die Luft ein. Es kommt kaum etwas davon in ihren Lungen an. Sie hustet. Atmet wieder heftig ein. Luft. Sie braucht mehr Luft. Sie hustet. Keucht. Würgt.
Und dann fällt sie ins Nichts.