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Ein nächtlicher Spaziergang
Vielleicht war mal wieder Vollmond und ich konnte deshalb nicht schlafen. Leider bin ich einer der vielen Menschen, die auf diese vermaledeite Phase einmal im Monat sehr anfällig reagieren. Stundenlang wälzte ich mich ruhelos in meinem Bett hin und her. Schließlich stand ich auf, ging in die Küche und trank einen Tee. Dabei schaute ich raus auf die Straße, die leer im spärlichen Licht der Laternen da lag. Frustriert fragte ich mich, warum diese friedliche Stille nicht auch in mir sein konnte.
Ich beschloss, Spazieren zu gehen. Manchmal half es, ein wenig in dieser Ruhe zu baden und sich dabei zu bewegen. Ich zog mich an und verließ die Wohnung.
Kälte empfing mich und drückte angenehm auf meine wunden Augen. Es ist Januar, doch momentan liegt kein Schnee. Ich schritt rasch aus und wandte mich zum Park, in dessen Mitte ein kleiner See lag. Auf meinen nächtlichen Ausflügen hatte ich mir angewöhnt, diesen so oft zu umrunden, bis ich meine Beine deutlich spürte, und mich dann noch etwas auf eine der Bänke zu setzen und auf das Wasser – oder jetzt die Eisfläche – zu schauen.
Nachdem ich mich also noch müder gelaufen hatte, bog ich auf einen kleinen Pfad ab und näherte mich meiner Lieblingsbank – die mit dem schönsten Blick auf den See. Als ich fast da war, sah ich, dass bereits jemand auf ihr saß. Ich überlegte kurz, ob ich umkehren und eine andere nehmen sollte, doch die Abstände zwischen den Bänken waren recht weit, von der nächsten hatte man nur einen Blick auf Gesträuch, und in die andere Richtung wollte ich nicht gehen, weil ich die Strecke dann auf dem Nachhauseweg wieder zurück müsste. Also legte ich den Rest des Weges zu meiner Stammbank zurück, die im äußersten Lichtschein einer Laterne stand, warf der Person auf ihr einen flüchtigen Blick zu - es handelte sich um einen älteren Mann; graue Haare lugten unter der Mütze hervor, er schaute aufs Eis - und ließ mich neben ihm nieder. Ich grüßte nicht, das erschien mir irgendwie unangebracht, und außerdem wollte der Mann wahrscheinlich nur genau wie ich die nächtliche Stille genießen und sich nicht unterhalten.
Ich saß eine Weile nur da, ließ meinen Atem sich beruhigen und nahm die frische, kalte Luft, den Blick auf das Eis und natürlich die Ruhe in mich auf.
Der Mann neben mir rührt sich nicht. Ich selbst habe mich ein paar Mal bequemer hingesetzt, die Beine ausgestreckt und wieder angezogen, mein Notizbuch herausgeholt, doch er sitzt nur ganz still da, schaut nicht einmal kurz, was ich da schreibe. Ich muss an meine Grundschulzeit denken, in der ich während des langweiligen Unterrichts oft ausprobiert hatte, wie lange ich absolut still sitzen konnte, und ob mich meine Mitschüler und die Lehrerin vorne vielleicht irgendwann nicht mehr wahrnehmen könnten und ich verschwinden würde. Tut das der Mann? Versuchen zu verschwinden? Oder schwebt sein Geist vielleicht gerade in so hohen gedanklichen Sphären, dass er sich ein Stück weit vom Körper gelöst hat, wie beim Meditieren?
Ich beobachte den Mann aus dem Augenwinkel. Ich warte auf Wasserdampf, der aus seiner Nase kommt.
Vielleicht ist er Schwimmer und hält so lange es geht die Luft an, um seine Lunge zu trainieren? Wie lange kann ein normaler Mensch die Luft anhalten - ein bis zwei Minuten?
Ich bemerke, dass er auch nicht zwinkert.
Verschwinden, Meditieren, Tauchen. Und was trainiert er damit? Vielleicht seine Nachtsicht?, fragt eine ironische Stimme mit leichtem Unbehagen in meinem Kopf.
Was für ein Schreck!
Während ich so dasaß und wartete, atmete ich sechzigmal aus und zwinkerte zwölfmal. Der Mann bewegte sich nicht, atmete nicht aus, zwinkerte nicht. Das ließ nur einen Schluss zu: Der Mann neben mir ist tot!
Mein erster Impuls war, aufzuspringen und wegzulaufen, doch ich war wie erstarrt.
Moment, dachte ich dann, keine voreiligen Schlüsse ziehen.
Voreilig?, warf die ironische Stimme von eben ein und klang dabei panisch.
„Äh…, geht’s Ihnen gut? Hallo?“, hörte ich eine krächzende Stimme fragen, die, wie ich kurz darauf bemerkte, aus meinem Mund kam.
Keine Reaktion.
Ich sah, wie eine Hand sich in Zeitlupe der Schulter des Mannes näherte, sie fasste und ein wenig rüttelte. Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass es meine Hand war.
„En… Entschuldigung?“
Keine Reaktion; keine Muskeln, die sich anspannten, um die Bewegung auszugleichen, nur ein regloser Körper.
Daraufhin bewegte sich meine Hand vor dem Gesicht des Mannes auf und ab.
„Sehen Sie das?“
Keine Reaktion.
Vielleicht, meldete sich eine ängstliche Stimme zu Wort, sich schnell einem anderen Aspekt zuwendend und etwaigen Erklärungen gegenüber ziemlich anspruchslos: Vielleicht hat er nur so ruhig geatmet, dass du es nicht gesehen hast! Also verharrten zwei meiner Finger artig unter der Nase des Mannes, warteten, dass ruhiger Atem über sie strich, um diese These zu bestätigen.
Aber: nichts.
Nach kurzer Überwindung legte sich meine Hand noch an die Wange des Mannes.
Kalt (und stoppelig). Zu kalt! Eine Art Schauder durchfuhr mich bei der Berührung, und ich zuckte zurück und rutschte so weit wie möglich weg von ihm.
Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Der Mann neben mir ist tot.
Nachdem ich mich wieder etwas beruhigt habe, kommt mir ein erschreckender Gedanke: War der Mann schon tot, als ich mich neben ihn gesetzt habe, oder ist er gestorben, während ich neben ihm saß? Es wäre möglich, ich kann es nicht sagen.
Ich betrachte den Mann genauer. Sein Gesicht ist fast ausdruckslos, aber ich glaube, eine Spur von Zufriedenheit zu erkennen.
Wer war der Mann wohl gewesen? War er vielleicht hier im Ort geboren und aufgewachsen? Hatte er auf diesem Weg am See Laufen gelernt? Hatte er in diesem Park mit anderen Jungen gespielt und unter einer der Buchen zum ersten Mal ein Mädchen geküsst? Hatte er hier zum ersten Mal seine zukünftige Frau getroffen, vielleicht bei einem Picknick mit ihren Freundinnen? Hatte er ihr hier den Antrag gemacht? Hatte er hier seinem Sohn oder seiner Tochter das Fahrradfahren beigebracht? Hatte er manchmal, wenn er nicht schlafen konnte, auf einer der Bänke gesessen und darüber gegrübelt, wie er auf einmal so alt hatte werden können, dass die Kinder schon aus dem Haus waren?
Was der Mann wohl jetzt ist?
Das Ereignis Tod gehört zum Leben.
Eine einfach zu verstehende, aber schwer zu akzeptierende Tatsache; es wird gestorben, wo immer auch gelebt wird.
Aber ich interpretiere Beruhigung und Hoffnung in diese Phrase: Der Tod gehört zum Leben. Nicht: Der Tod beendet das Leben.
Was passiert also mit uns nach dem Tod? Und was war mit uns vor unserer Zeit hier auf der Erde?
Alles im Universum verändert gelegentlich seine Form oder wechselt den Ort. Aber wirklich verloren geht nichts. Warum sollte es mit uns so sein? Sollen wir wirklich aus dem Nichts entstanden sein und wieder zu Nichts werden, wie die Atheisten behaupten? Einfach so soll Nichtdenkendes Denkendes erzeugen, also Unbewusstes Bewusstes? Ich weigere mich, diesen Unsinn zu glauben! Vielmehr glaube ich, dass unser Dasein hier nur ein kleiner Ausschnitt unserer gesamten Existenz ist, vielleicht so wie ein einzelner Tag im Jahreszeitengefüge. Dann wäre der Tod nur die Nacht, der Übergang zum nächsten …
Wir wissen, es gibt den Tod, wir wissen, er ist unvermeidlich, aber viel mehr wissen wir nicht. Durch das Sammeln und Vergleichen von Nahtoderlebnisberichten haben wir eine vage Ahnung, was mit uns nach dem (Beinahe-)Tod passiert; wiederkehrende Elemente wie ein dunkler Tunnel, das Verlassen des Leibes, Begegnung mit anderen, ein lichtes Wesen, die Rückschau auf das eigene Leben u.a. verschaffen uns einen undeutlichen Blick, der jedoch nicht weit in den Nebel hineinreicht.
Wir haben keine Chance, den Tod zu erkunden, ihn zu sezieren, wie wir es sonst immer mit Dingen tun, um sie zu verstehen. Trotz unserer Intelligenz. Der Tod erledigt seine Aufgabe, benimmt sich dabei wie ein Elefant im Porzellanladen - aber keiner tut etwas dagegen, kann etwas dagegen tun! Und plötzlich merken wir: Wir sind ja gar nicht frei, da ist etwas, was uns fremdbestimmt, etwas nicht Greifbares, was sich unseren Begriffen, Regeln und Gesetzen einfach entzieht! Etwas, dem wir schutzlos ausgeliefert sind. Das ist unheimlich und verstörend, und deswegen fürchten wir uns vor dem Tod.
Es gibt zwei, zugegeben etwas plakative, grundlegende Taktiken, mit dem Tod umzugehen: 1.) man versucht, ihn zu ignorieren, indem man ihn verschweigt (für ängstliche und bornierte Leute), oder 2.) man versucht, ihn so gut es geht zu akzeptieren und ihn als ein Bestandteil des Lebens in dieses zu integrieren (für kluge Leute).
Wir tun beides; einerseits ist das Sterben heutzutage in unserer Gesellschaft so tabuisiert wie Sex in den 50ern, andererseits ist der Tod das Thema schlechthin in unseren stilisierten Nachrichten und im Unterhaltungsbereich. Es gibt beispielsweise kaum ein Buch oder Film ohne ihn, seien die Intentionen und Tötungsdelikte auch noch so unterschiedlich (wie z.B. Mord aus Geldgier im klassischen Krimi gegenüber Selbstmord aus Liebe in Romeo und Julia).
Paradox.
Und an vorderster Front wird natürlich im Horrorgenre mit dem Tod gespielt und genüsslich das Tabu der eigenen Vergänglichkeit gebrochen. Aber wird dabei im Grunde nicht auch versucht, daran zu gewöhnen? So wie das Personifizieren des Todes (z.B. als Sensenmann) eine Bemühung ist, das Phantom greifbarer zu machen und in die kleine Passform unseres Verständnisses und unserer Wahrnehmung zu zwängen?
Eigentlich wissen wir das alles. Und trotzdem haben wir Angst vor dem Tod. Ich bin selbst das beste Beispiel, wie ich eben panisch von dem Mann neben mir weggerückt bin und am liebsten weggelaufen wäre, so als wäre der Tod ansteckend.
Wenn wir direkt mit ihm konfrontiert werden, dann ist da, abgesehen von der symbolischen Bedeutung – Das wird eines Tages auch mit mir passieren … – so eine vage Angst in unseren Köpfen, dass, wenn wir den Tod in dem leblosen Körper vor uns betrachten, der Tod vielleicht auch aus diesem heraus uns betrachtet.
Außerdem fühlt es sich so an, als wäre das Reden und Nachdenken über den Tod, die Beschäftigung mit ihm eine geistige Heraufbeschwörung, die ihm die Möglichkeit gibt, näher heranzukommen und realer zu werden. Wie ein Hai, der von einem Blutstropfen im Wasser angelockt wird.
Ist das Aberglaube, Okkultismus, ein Produkt des Nicht-Verstehens, der Tabuisierung, der Fantasie?
Manchmal denke ich, wie lächerlich das ist: Der Tod umgibt uns wie die Luft, die wir atmen, ist uns ständig näher als unsere Kleidung, kann jederzeit auf mannigfaltigste Art und Weise zuschlagen, und wir tun so, als gäbe es ihn nicht und versuchen, unsere kleinen Leben so mit Belanglosigkeiten vollzustopfen und auszufüllen, bis wir das tatsächlich glauben ... Ein Gedanke mit der Macht, in den Wahnsinn zu treiben.
Vielleicht umschleicht mich der Tod genau in diesem Moment, in dem ich dies schreibe, wie ein überheblicher Kater seinen Menschen, in dem Wissen, dass dieser ihm gehört, lacht über meine kümmerlichen Versuche, ihn zu analysieren oder schüttelt seufzend den Kopf.
Noch so ein Schreck!
Meine Güte, langsam ist es genug mit den Schrecken für eine Nacht! Ich war in meinem Kopf gerade noch mit dem Bild des Katers beschäftigt, als ich plötzlich aus dem Augenwinkel ein felliges Tier mit langem Schwanz wahrnahm, das sich schnell näherte. Ich erschrak heftig und mein Herz setzte aus. Mein erster Gedanke war, dass der Tod meine Versuche, in seine Privatsphäre einzudringen, satt hatte und mich jetzt holen kam, ironischerweise in der Form, in der ich ihn mir gerade vorgestellt hatte. Würde der Kater zum Sprung in mein Gesicht ansetzen und es mit seinen scharfen Krallen und den spitzen Zähnen bearbeiten? Würde er versuchen mich töten oder als Lektion in Ehrfurcht und Respekt geblendet und vernarbt weiterleben lassen?
Doch es war gar kein Kater, sondern ein Eichhörnchen, und mein Herz setzte wieder ein. Da ich noch wie erstarrt war, kam es ganz dicht heran, schnupperte kurz an einem Schuh des Mannes neben mir, lief aber sogleich weiter, als hätte es festgestellt: „Mh, tot.“ Es blieb ein Stück vor mir stehen und schaute mich mit seinen schwarzen Knopfaugen bestimmt zehn Sekunden lang einfach nur an, so als wollte es sagen: „Er ist tot. Aber du …?“ Dann tippelte es weiter, den buschigen Schwanz gerade hinter sich herziehend, und verschwand im Gesträuch.
Das Eichhörnchen hat recht! Der Mann sitzt neben mir auf der Bank und ist tot. Ich sitze neben dem Mann auf der Bank und lebe. Ich sollte nach Hause gehen und weiter versuchen zu schlafen, um morgen fit zu sein. Wahrscheinlich steckt auch etwas Weisheit in dem Verhalten der Menschen, den Tod zu ignorieren. Es ist nicht gesund, sich übermäßig mit diesem Thema zu beschäftigen. Es schafft kein froheres Gemüt und lohnt sich letztendlich nicht. Genau wie alle anderen komme auch ich irgendwann nicht weiter und muss spekulieren, vermuten und annehmen. Aber was bringt das? Letzten Endes muss ich mich wie alle, Denker und Nichtdenker, dem Tod beugen und einsehen, dass das Leben nicht dessen Zeit ist. Ich frage mich, ob die Denker es früher tun und irgendwann bereuen, überhaupt mit dem Nachdenken über den Tod angefangen zu haben, und ob die Nichtdenker glücklicher und unbeschwerter leben. Ich glaube, ja.
Jeder hat oder macht sich irgendein Bild vom Tod. Und diese Bilder sind zwar alle verschieden, dienen aber letztendlich nur dem einzigen, immer wiederkehrendem Zweck; den Tod einzuordnen, ihn zu akzeptieren und sich mit ihm zu arrangieren, sodass man mit ihm leben kann. Es wird dabei viel Schindluder getrieben: Oft wird der Tod von Menschen als Schreckgespenst dargestellt, vor dem es sich zu Fürchten gilt, um andere Menschen in ihren fragwürdigen Gedankengebäuden, Theorien und Ideologien zu fangen. Davon sollte man sich nicht beeindrucken lassen, denn auch die wissen nicht mehr als jeder andere, verstehen sich nur meist besser auf Manipulation.
Hier ist mein Bild: In meiner Vorstellung ist der Tod kein amoklaufender Soziopath, sondern ein alter, einsamer Mann, der nur seine Arbeit macht, ein Werkzeug seines Zecks, und uns vielleicht sogar ab und zu in einem ruhigen Moment etwas neidisch betrachtet. Ich weiß, dass er irgendwann kommen wird, um mich abzuholen, und ich stelle mir vor, dass er ein bisschen wie ein Großvater ist; gemütlich, mit Geist, Humor, wachen Augen mit Lachfalten und großen, warmen Händen, und dass er angenehm riecht, vielleicht nach Wolle und Pfeifentabak. Er wird sagen: „Michael, es ist Zeit“, so wie ein gütiger Großvater seinen Neffen wecken würde, um ihn in die Schule zu schicken, oder eine liebevolle Mutter ihr Kind, wenn das Taxi vorfährt. Und ich werde mich freuen, ihn zu sehen und sagen: „Dann lass uns aufbrechen.“ Er wird lächeln, nicken und mir seine große, warme Hand hinhalten, die ich nehmen werde, und dieser Griff – warm, trocken, nicht zu fest und nicht zu weich, sondern einfach genau richtig – wird mir den Abschied erleichtert. Und dann werden wir gehen.
Mit diesem Bild kann ich leben.
Und vielleicht war er es, der das Eichhörnchen geschickt hat.
Er ist tot. Aber du …?
Wie lange sitze ich schon hier und grübele? Gut zwei Stunden? Ich betrachte den toten Mann neben mir. Es kommt mir vor, als hätten wir beide eine weite Reise hinter uns, und irgendwie empfinde ich Dank ihm gegenüber. Dank dafür, dass er heute Nacht hergekommen ist und dafür, dass ich vielleicht dabei sein durfte, als er abgeholt wurde.
Was er wohl für ein Bild vom Tod hatte? Vielleicht ein ähnliches wie ich, seinem leicht zufriedenem Ausdruck nach zu urteilen.
Ich packe nun meine ganzen Erkenntnisse in eine Schatulle in meinem Herzen, drehe den Schlüssel zweimal herum und schiebe sie ganz nach hinten ins Regal.
Gleich werde ich nach Hause gehen; mir ist eiskalt und ich fühle mich geschafft wie lange nicht mehr. Vielleicht kann ich jetzt endlich schlafen.
Sollte ich jemandem wegen des Mannes Bescheid sagen? Wem? Dank Tabuisierung habe ich keine Ahnung, was man in so einem Fall tut. Aber eigentlich will ich es auch gar nicht; es käme mir wie Verrat vor und würde die Sache irgendwie zerstören. Aber was, wenn er morgen von Kindern gefunden würde, wenn ich jetzt einfach gehe? Das würde sie gewiss traumatisieren. Kann ich das verantworten?
Mensch, Michael, hast du die Schatulle zu weit ins Regal geschoben, deine gewonnenen Erkenntnisse schon wieder vergessen? Ich fühle mich ja fast ketzerisch, aber: Der Tod gehört nun einmal zum Leben! Alte Menschen (und nicht nur die) sterben! Warum sollen sie das nicht auf einer Parkbank tun? Natürlich würden die Kinder daran zu knusen haben, aber es ist normal!
Es wäre eine Lektion, die sie früher oder später sowieso lernen müssen.
Ich werfe dem Mann einen fragenden Blick zu – und er scheint einverstanden zu sein.
Ich werde noch einen Moment lang die stille, kalte Nacht und den Blick auf das Eis genießen. Und mein leichtes Inneres, das sich wie von einer Last befreit anfühlt, so als hätte ich endlich etwas erledigt, was mir schon lange auf der Seele lag.
Und dann werde ich aufstehen, dem Mann noch einmal zunicken und gehen.