Mitglied
- Beitritt
- 25.08.2007
- Beiträge
- 35
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Ein Nachmittag in der City
Ich war mit dem Zug in die Stadt gefahren, um mir irgendeine Nachmittagsvorlesung anzuhören. An der Uni angekommen und die Treppe zum Auditorium erklommen, stand ich vor geschlossenen Türen – die Vorstellung hatte offensichtlich bereits begonnen. Und ich verspürte ebenso plötzlich wie heftig eine Abneigung dagegen, reinzugehen und zwischen gelangweilten, unmotivierten und desinteressierten Studenten Platz zu nehmen, nur um ihre Anzahl um einen zu erhöhen. Also beließ ich die Türen in ihrem Zustand – und machte kehrt ...
...
Mein Spaziergang durch den urbanen Zauberwald voller Autos, Gestank, uninteressanter MenschInnen, Autos, Lärm, Betonungetüme und Autos hatte mir nichts gebracht. Weder Spaß noch neue Erkenntnisse, jedenfalls. Ich wollte zurück zum Bahnhof, wieder nach Hause fahren, auch weil es inzwischen recht unangenehm zu nieseln begonnen hatte, und suchte die nächste U-Bahn-Station auf. Dort, direkt vor der Rolltreppe, lungerte ein Pulk Penner herum. Normalerweise fielen mir diese Gestalten schon lange nicht mehr auf, aber diese hier, sie taten es.
Sie machten einen fröhlichen Eindruck.
Sie lachten.
Lachten, während sie an ihren Selbstgedrehten zogen und eine große Flasche Rotwein reihum gehen ließen. Und der Nieselregen auf ihre ungepflegten Haare fiel ...
Unwillkürlich blieb ich stehen und betrachtete den Haufen. Er mich nicht. Eine Frau kam vorbei und drückte einem der Kerle ein Geldstück in die Hand. Er zog seinen dreckigen Hut, sagte: „Gott segne Sie, meine Dame!“ Die Dame lachte und verschwand per Rolltreppe abwärts.
Der Penner setzte seinen Hut wieder auf, griff sich die Weinflasche, nahm einen dicken Schluck und reichte sie weiter.
Und lachte ebenfalls.
Ich folgte der Dame und ließ mich nach unten befördern. Mein Geld blieb da, wo es hingehörte.
...
Am Bahnhof angekommen, verriet mir ein Blick auf den Fahrplan, dass ich die Stadt frühestens in knapp einer Dreiviertelstunde verlassen können würde. Richtung Heimat und per Zug, jedenfalls. Und mein Magen teilte mir mittlerweile recht unmissverständlich mit, dass er gestopft werden wollte, also suchte ich den übernächsten Junkfoodladen auf. Den übernächsten deshalb, weil der nächste direkt im Bahnhofsgebäude chronisch überfüllt war. Der Nieselregen war da das kleinere Übel. Aber von wegen: Als ich die Bude nach sieben oder acht feuchten Minuten erreicht hatte, präsentierte sie sich brechend voll. So verdammt voll, dass man den Eindruck gewinnen konnte, die ganze Stadt wäre eine Woche lang auf Nulldiät gesetzt worden und hätte nun die Erlaubnis bekommen, wieder fressen zu dürfen.
Oder den Befehl dazu ...
Mein Magen zwang mich, es hinzunehmen und mich anzustellen. Hinter dem Tresen war Hochbetrieb. Die Angestellten kamen den Bestellungen kaum nach. Es hatte alles irgendwie etwas von einem Ameisenhaufen – von einem multikulturellen Ameisenhaufen. Nur ein einziger darin war deutsch. Und das unverkennbar: Jung. Blond. Arisch. Dynamisch.
Er trieb die anderen Ameisen an und beschränkte sich dabei auf zwei elementare Weisungen: „Hopp, hopp“ und „Zack, zack“ – nur der Schwarze an der Friteuse schien eine Ausnahmestellung inne zu haben, wurde der Blonde ihm gegenüber doch etwas detaillierter: „Ja los, schneller, schneller!“
Ja, der Ameisenkönig war echte deutsche Wertarbeit. Schaffte es sogar, nebenbei noch Dienst an einer Kasse zu tun – an meiner Kasse ...
„... Sie wünschen, bitte?“
Oh. Ich war dran. Ich bestellte mein Mahl – zu schnell, um König Ameise zu einem weiteren flotten „Hopp, hopp“ oder ähnlichem zu provozieren. Er wiederum knallte mir mein Futter zu fix aufs Tablett, als dass ich dazu gekommen wäre, meine situationsbedingte Überlegenheit auskosten zu dürfen. Schade. Ich zückte meinen Geldbeutel, löhnte, und dann durfte der Ameisenkönig wieder mit seinem Friteusenneger spielen. Nachdem ich endlich einen freien Platz ergattert hatte, konnte ich mit dem Dinieren beginnen. Wie viele Kühe wohl für meine Burger ins Gras gebissen hatten? Auf jeden Fall konnte mit dem Gras nicht alles in Ordnung gewesen sein ... Na, egal.
Als ich ungefähr die Hälfte verputzt hatte, war bereits ein ziemliches Völlegefühl erreicht. Also legte ich eine Pause ein. Und sah mich um. Menschen, alles voller Menschen. Oder besser: alles voller Visagen, die nicht zu differenzieren waren. Beileibe nichts Neues, aber hier ging es noch weiter: Alle schienen exakt dasselbe auf ihren Tabletts zu haben, um es mit demselben leeren Blick gen nirgendwo mit denselben Bewegungen im selben Tempo zu verschlingen. Ich sah wieder auf mein Tablett: auch dasselbe.
Irgendwie hatte ich keinen Hunger mehr. Aber ich hatte für das Zeug bezahlt, verdammt, also runter damit! Allerdings einen Gang flotter ...
Schließlich packte ich das müll- und ketchupfleckenübersäte Tablett und schob es in den dafür vorgesehenen Wagen. Der Typ, der für diesen Wagen offenbar verantwortlich war – ein alter, dicker Italiener oder so – stand dabei neben mir, grinste debil und murmelte „Danke schön!“. Ich erwiderte nichts und verzog mich wieder raus in den Nieselregen.
...
Ich bemühte mich, zügig zum Bahnhof zu kommen. Nicht nur wegen des verfluchten Nieselns. Ich wollte nicht auf den letzten Drücker in den Zug steigen, weil dann so gut wie sicher nur noch prall gefüllte Abteile vorzufinden waren und man sich jede Hoffnung auf einen halbwegs vernünftigen Sitzplatz in die Haare schmieren konnte.
Wieviel Zeit hatte ich denn eigentlich noch? Ein kurzer Blick auf die ...
„‘tschuldigung!“
Leicht erschrocken blickte ich auf. Ein abgerissener Typ stand da plötzlich vor mir. Ein sehr abgerissener.
„Hamse vielleicht `n bißchen Kleingeld?“
Ich blickte kurz nach links, kurz nach rechts, und dann gab ich ihm was Großes. Genau in den Sack.
Ich wartete nicht lange darauf, dass er mir wechseln würde, sondern ging weiter. Noch ein gutes Stückchen schneller als davor, allerdings. Bloß nicht auf den letzten Drücker in den Zug ...
...
Der Bahnhof quoll fast über. Menschen, Menschen, Menschen. Ein einziger Brei. Aber mit Ellbogeneinsatz konnte man sich durchlöffeln, wenn auch am anderen Ende kein Schlaraffenland warten würde, sondern lediglich ein schmieriger Regionalexpress. Aus dem Hintergrund vernahm ich plötzlich lautes Gegröle: „Aaaaaaaaauuuuuuuuuuuuuuusssssssssssscheiiiiiiiidaaaaaaaaahhhhhhhhhhhhhh!!!!“
„Ja, genau“, dachte ich mir, während ich mich unwillkürlich umdrehte; „genau ihr habt mir gerade noch gefehlt“. Aber das dachte ich nur im ersten Moment. Unmittelbar darauf zogen mir andere Gedanken durch den Kopf. Ganz andere: Diese besoffenen Ex-Vaterlandsverteidiger, die da in halbwegs sicherer Entfernung durch die Bahnhofshalle torkelten, hatten es hinter sich. Die hatten wenigstens etwas hinter sich. Ich hatte ein solches, ich hatte dieses Gefühl schon lange nicht mehr verspürt. Scheiße ...
Schließlich und endlich hatte ich meinen Zug erreicht. Auf den letzten Drücker.
Ich enterte das erstbeste Abteil – es war leer. Ich ließ mich in einen Sitz fallen und blickte aus dem Fenster: Der Regen begann stärker zu werden, laut und dick prasselten die Tropfen herab.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Eine gute Stunde lag nun vor mir, in der ich hoffentlich meine Ruhe haben würde. „Morgen“, dachte ich, „morgen dann wieder die gleiche Show ...“ – ja, vielleicht. Vielleicht aber auch nicht ...
Ungefähr zwanzig Minuten später ist der Zug dann entgleist. Es gab ein paar Tote, ich jedoch gehörte nicht dazu.
Also tatsächlich wieder die gleiche Show.
Aber mal ehrlich, wen interessiert das schon?