Ein Nachmittag
Lisa hatte ihren Freund Tim angerufen und ihn gefragt, ob er nicht Lust habe mit ihr zusammen zum Badesee zu fahren. Eine warme Juliluft ist draußen, sagte sie und überhaupt, die Haut braucht Luft. Luft und Sonne.
„Ja.“, sagte Tim, „Aber soviel Sonne auch nich.“
„Neeee.“
„Ich habe noch zu tun.“, sagte er.
„Dein Zettelkram?“, fragte sie.
„Sag das nicht. Es ist ein Vortrag.“
„Welches Fach?“, wollte Lisa wissen.
„In Geschichte.“
Nach einer Pause sagte sie: „Du kannst doch am Strand üben. Vor mir.“
„Wenn du meinst. Ja, in Ordnung.“, sagte er. „Und wann?“
„Treffen wir uns in einer halben Stunde am Neustädter Kreuz. Und bring dir `ne Hose mit. Dort ist kein FKK.“
„In Ordnung Lisa. Bis gleich.“
„Bis gleich.“
Am Neustädter Kreuz trafen sich die beiden. Sie küssten sich auf den Mund und spielten mit ihren Händen. Sie sagte, dass es gut sei, dass er das weiße Hemd anhabe. Das mache ihn stattlicher. Es erinnerte sie an Italien und das blaue Meer mit der weißen Stadt.
„Italien kenne ich nicht.“, sagte Tim. „ Aber Schweden und Österreich.“
Lisa stutzte. Österreich, der graue Fleck in ihrem Atlas. Das Land, das aussah wie ein Wiener Schnitzel. Ein Durchfahrtsland mit ulkigen Bräuchen. Sie schmunzelte.
„Wann fährt der Bus?“, fragte Tim mit Blick auf die Uhr.
„In fünf Minuten, glaub ich.“
„Dann sollten wir rübergehen, oder?“
Als die beiden in den Bus stiegen, bemerkte Lisa die dicken Brillengläser des Busfahrers. Sie wurde verlegen und zeigte dem Fahrer ihren Fahrschein.
„Hast du seine Brillengläser gesehen?“, fragte Lisa ihren Freund, der sich neben sie setzte.
„Ja.“
„Die sind so dick wie Rathausuhren.“, stichelte sie. „Und wenn er einen Unfall baut?“
„Glaub ich nicht.“, sagte Tim. “Die würden ihn sonst nicht fahren lassen.“
„Denkst du das?“, fragte sie. „Weißt du, ich werde morgen Klavier spielen und daran denken, wie wir hier sitzen und der Fahrer uns durch die Straßen schaukelt. Und jeden Moment kann ein Unfall passieren und wir müssen einander retten. Ich spiele mein eigenes Stück. Schön.“
Tim griff nach Lisas Hand und hielt sie an seine Wange. „Du wirst immer so sentimental, wenn wir Bus fahren. Ich mag dich.“
Sie zog ihre Hand zurück und blickte in seine Augen. Wasser, das sich sammelt, dachte sie. Blaue Wasser. Irgendwo ...
Der Bus trug sie über die Straßen der Stadt, vorbei an Geschäften und Häusern. An den Haltestellen stiegen die Menschen aus und ein. Die neuen Passagiere suchten sich Sitzplätze, oder blieben stehen. Als der Bus voller wurde roch es nach Schweiß. Lisa kramte in ihrem Beutel und fand eine Zeitung, mit der sie sich zufächelte. Tim blickte auf die Anzeigentafel mit roter Schrift.
Nachdem der Bus die Türen öffnete, stiegen sie aus. Lisa schaute auf den Busfahrplan.
„Drei Stunden könnten wir bleiben.“, sagte sie. „Der letzte Bus fährt halb neun.“
„In Ordnung.“, sagte Tim. „Bleiben mir noch zwei Stunden zum Üben.“
„Welches Thema hast du denn?“, fragte Lisa
„Das Leben und Wirken Admiral Nelsons.“
„Aha. Klingt langweilig. Hast du Zigaretten mit?“
„Ja.“, sagte Tim und suchte in seinen Taschen.
Lisa zog ihre Sandalen aus und hielt sie ihm vor die Nase.
„Hier.“, sagte sie. „Trag sie für mich. Mir tun die Füße weh.“
Tim verzog das Gesicht.
„Lisa! Ich kann nicht zwei Dinge gleichzeitig tun.“
„Nicht?“, fragte sie und blickte auf seine Zähne. „Aber du trägst sie trotzdem.“
Sie ergriff seinen linken Arm und schob seine Finger durch die Schlaufen der Sandalen.
„So.“, sagte sie. „Jetzt können wir baden gehen.“
Tim fühlte sich wie ein Maultier, dass man beladen hatte und nun zur Tränke trieb.
„Hast du deine Hose eingepackt?“, fragte Lisa.
„Ja. Hab ich.“
Der Weg, der zum See führte, verlief durch ein Waldstück.
„Wie ein Dach.“, sagte Lisa, und schaute nach oben. „Diese Natur, das Licht ... . Es ist so schön.“
„Wenn es regnet aber nicht mehr.“, sagte Tim und gab ihr eine Zigarette.
„Ach du.“, sagte sie und drehte den Filter zwischen Daumen und Zeigefinger. „Du liest zuviel Houellebecq, glaub ich. Genieß das Einfache.“
„Nein.“, rief Tim und durchbrach die Stille. „Wenn es regnet, ist es nicht mehr so schön. Oder?“
„Du bist unsensibel. Gib mir Feuer!“
„Aber Lisa ... ich wollte doch nur ...“
„Ist egal jetzt. Du hast es zerstört.“
„Aber ...! Es tut mir leid.“, sagte er und gab ihr Feuer.
Sie beschleunigte ihren Schritt, so dass sie nicht mehr nebeneinander liefen. Das Geräusch ihrer Füße auf dem Sandboden, erinnerte ihn an das Schlagen auf Trommeln. Tim fühlte sich leer, ohne Substanz. Was meinte sie mit Houellebecq und was hatte das mit einem Dach zu tun? Er kratzte sich am Kopf. Aus der Tasche seines Hemdes zog er ein Papier hervor.
„Ich übe jetzt.“, rief er ihr zu.
„Ok.“, sagte sie. „Ich werde dich nicht stören.“
Sie erreichten eine Anhöhe, von der man weit in die Ferne blicken konnte. Tim wurde von der Sonne geblendet und hielt sich die Hand vor die Augen.
„Erkennst du was?“, fragte er Lisa.
„Ja, ein wenig.“, sagte sie und zeigte auf eine leere Stelle am Strand. „Da vorne sieht es gut aus.“
Sie liefen den Strand hinunter und breiteten eine Decke aus, die Lisa eingepackt hatte. Tim setzte sich und zog sein Hemd und seine Schuhe aus. Aus einer weißen Umhängetasche holte er eine Badehose hervor. Er stand auf und zog seine Hosen aus. Lisa stand hinter ihm und cremte sich ein.
„Gehst du gleich ins Wasser?“, fragte sie ihn.
„Wieso? Du wohl nicht?“
„Doch.“, sagte sie. „Aber gehen wir zusammen?“
„Ja klar. Komm!“
Tim nahm ihre Hand und zusammen liefen sie den Strand hinunter. Am Ufer tauchten sie ihre Füße ins Wasser und fingen an, sich nass zu spritzen. Tim stürzte sich ins Wasser und schwamm mit rudernden Armen bis zu dem Punkt, an dem er wendete und wieder zurückschwamm. Nach der halben Strecke begegnete ihm Lisa. Er griff nach ihrer Hand und zog sie zu sich heran..
„Kannst du hier stehen?“, fragte er.
„Nein.“, sagte sie. „Aber ich könnte dich als Boot benutzen.“ Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und legte sich auf seine Brust.
„Bring mich an Land zurück.“, sagte sie.
„Jetzt schon?“, fragte er.
„Ja, bitte. Mir ist kalt.“
Sie stiegen aus dem Wasser und trockneten sich ab. Am Strand spielten Kinder mit ihren Spielsachen, oder bauten Sandburgen. Tim setzte sich auf die Decke und schaute ihnen zu. Er hörte ihr Lachen, ihr Toben und dachte an die eigene Kindheit. An die Mutter, die ihn aufzog. An den Vater, der wegging.
„Was ist mit deinem Vortrag?“, fragte Lisa.
Tim drehte sich um und sah einem Mädchen ins Gesicht, dass seine Freundin war und Lisa hieß. Sie hatte ihre Beine angewinkelt und lag auf dem Rücken.
„Ich rauch noch zu Ende.“, sagte er.