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Ein nettes Paar
Seit einer Stunde sitzen sie sich gegenüber. Der Tisch ist noch gedeckt, die Teller sind bereits leer. Er hatte eine Pizza, sie Spaghetti. Die Gläser sind noch halb gefüllt. Ununterbrochen treffen sich ihre Blicke, während sie in alten Erinnerungen wühlen und neue Geschichten austauschen. Meistens lächeln sie, dann scheinen sie wieder ganz ernst. „Ein nettes Paar, wohl Beide um die 20 Jahre alt“, würden die anderen Gäste sicher denken, wenn noch welche da wären, denn der kleine Zeiger der großen Uhr an der Wand nähert sich bereits der Elf. Längst ist es ruhig um sie herum geworden. Die unaufdringliche, angenehme Musik spielt jetzt nur noch halb so laut.
Warum erzählst du mir diese Geschichten immer wieder? Natürlich höre ich dir zu, schließlich hast du mich deswegen treffen wollen. Nur deshalb hast du mit mir den Tag verbracht. Du weißt nicht, dass ich in der letzten Nacht jede halbe Stunde aufgewacht bin. Du würdest es mir auch nicht ansehen, viel zu sehr bist du damit beschäftigt, mir zu erzählen, wie deine Beziehung mit ihm zerbrochen ist. Du siehst gut aus, erholt, viel besser als zuvor. Deine Frisur ist auch neu, genau wie die Kleidung, die du trägst. So lange haben wir uns nicht gesehen, doch nun bist du wieder hier, bist bei mir, sitzt mir gegenüber, schaust mich an. Er ist ja jetzt auch nicht mehr dein Freund. Du bist frei, frei für...
Wem soll ich es auch sonst erzählen? Alle haben sich doch schon von ihm überzeugen lassen. Ich bin schuld! Ich war schließlich immer schuld. Ich habe es zerstört. Nein, ich trauere ihm nicht nach. Sicher hat er versucht, mich zurück zu bekommen. Aber bitte, mit welchen Mitteln? Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. Immer habe ich nur die zweite Geige spielen müssen. Seine Freunde waren ja so viel wichtiger und seine Familie. Seine Mutter, die mich doch sowieso niemals leiden konnte. Das hat mich alles so kaputt gemacht. Es ist schön, dass ich das alles jetzt jemandem sagen kann, mir brennt schließlich noch so Vieles auf der Seele...
Der Minutenzeiger hat jetzt die Zwölf passiert, und er hat sein Glas längst geleert. Das Ihre scheint voller, statt leerer zu werden. Die Kohlensäure muss doch schon entwichen sein. Wen wundert das? Sie redet ohne Pause, sieht ihm dabei in die Augen. Jetzt lächelt sie, nippt am Glas. Er öffnet den Mund, nicht weit. Wenige Worte entweichen ihm, klingen weder laut, noch sicher. Dann lächelt er sie an, seine schüchternen Augen suchen ein Leuchten in ihrem Blick – da, ein Leuchten, nicht das, welches er sucht? Er schaut auf die Uhr, wirkt hektisch. Will er gehen?
Dein Mund, er öffnet und schließt sich unaufhörlich. Kaum komme ich zu Wort, doch dein Lächeln hier und da entschädigt mich dafür. Dann kann ich zurücklächeln. Natürlich verstehe ich dich, doch du erzählst mir diese Geschichte heute schon zum dritten Mal. Viel mehr interessiert mich der Klang deiner Stimme, nicht der Inhalt deiner Worte, die ich ja schon kenne. Doch ich verstehe dich. Würdest du aufhören, über ihn zu reden, wenn ich dir erzähle, weshalb ich auch in dieser Nacht nicht schlafen werde? Wie würdest du mich ansehen, wenn ich dir gleich sage, dass sich ein einziges rotes Band durch meine Gedanken zieht, das deinen Namen trägt? Gleich werde ich es erfahren, gleich, werde es dir gestehen... noch zehn Minuten, lass mich nachdenken, nur nachdenken, an dich denken. Ich werde es dir beim nächsten Mal sagen. Muss noch überlegen, wie ich dir sage, dass ich dich...
Ja, mein Leben läuft im Moment einfach wunderbar. Schade, dass ich morgen schon wieder abreisen muss. Na ja, ich komme ja in einer Woche wieder, bin mit dem Thema ja auch noch nicht fertig. Wir können uns ja wieder treffen, wenn du magst. Ich freue mich, dass du mir zuhörst. Immer sagen alle, ich sei schuld. Ich hätte mich anders verhalten müssen. Es hätte nicht zerbrechen müssen. Mir ist das alles jetzt so egal, denn ich brauche ihn nicht mehr. Er soll merken, was er an mir verloren hat. Er wird es merken, er merkt es jetzt schon. Aber ich gehe nicht zurück zu ihm. Lass uns doch beim nächsten Mal weiterreden. Es ist spät, und ich bin so müde. War ja auch ein anstrengender Tag. Das viele Gerede über ihn hat mich so erschöpft. Es freut mich, dass es noch Menschen gibt, die zuhören können, die mir so zuhören wie du, die auch so denken. Lass uns gehen. Wir sehen uns in einer Woche ja wieder...
Sie hebt den Arm. Die Kellnerin hat längst darauf gewartet. Seit fast einer Stunde sind sie die einzigen Gäste. Ein wenig Trinkgeld gibt es auch für die nette Dame, die so freundlich gefragt hat, ob das Essen denn geschmeckt habe. Natürlich hat es, doch nun müssen sie gehen. Es ist spät. Die Kellnerin von eben schaut ihnen noch nach. „Ein nettes Paar“, denkt sie kurz, hat es aber wohl schon wieder vergessen, als sie wenige Sekunden später die Tür abschließt und die fast völlig heruntergebrannte Kerze auf dem Tisch löscht, auf welchem noch das benutzte Geschirr steht.
Schon in einer Woche werden die Beiden wieder da sein, im gleichen Restaurant, am gleichen Tisch in der linken hinteren Ecke unter dem Fenster, durch welches man die Leute aus dem anliegenden Kino kommen sehen kann. Er wird eine Pizza bestellen, sie Spaghetti, dazu vielleicht ein Wasser, er eine Cola. Sie wird viel zu berichten haben, wird ihm von ihrem neuen Freund erzählen, wie lieb er ist, wie viel besser, als der Mann, über den sie sich vor Kurzem doch noch so geärgert hat. Er wird ihr zuhören, wird ihr in die Augen schauen, sie anlächeln. „Ein nettes Paar“, werden die anderen Gäste denken, und niemand wird seinen müden Blick bemerken oder die Trauer in seinem Lächeln entdecken.