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Ein neues Leben

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29.08.2001
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Ein neues Leben

Bald, ja bald werden sie mich lieben. Dann werde ich so sein wie sie und endlich dazu gehören. Nicht mehr Außenseiter sein. Nicht mehr der, auf den sie mit Fingern zeigen.

Wie schnell wächst sowas eigentlich zusammen, wie schnell verheilen Narben? Ich habe das schon oft im Fernsehen gesehen. Jeder macht das heutzutage, diese Schönheitsoperationen.
Alle lassen sich straffen, aufpolstern, ausstopfen. Aber wirklich keiner hat es so nötig gehabt wie ich. Diese Kompletterneuerung habe ich dringend gebraucht.

Seit ich denken kann, haben mich die Leute wegen meines Aussehens verspottet und gemieden. Selbst meine Eltern haben meine Häßlichkeit nicht ertragen. Aus mir sprach immer ihre Schuld, ich war ihnen ein einziger Vorwurf. Das am Kopf hab ich schon seit der Geburt. Mein Vater hat meiner Mutter in den Bauch getreten als sie mit mir schwanger ging. Dabei hat auch mein Gleichgewicht etwas abbekommen. Deshalb war ich immer etwas tolpatschig und unsicher auf den Beinen. Das hat mir unmengen an Ohrfeigen eingehandelt.
Die Narben hier im Gesicht, die sich bis zum Oberkörper verteilen, sind von Verbrennungen. Das war noch als Baby. Ich habe geschrien und mein Vater hat den Topf mit kochender Milch irgendwie in mein Bett fallen lassen... er war wohl auch etwas betrunken.
Er hatte schon ein Pech mit mir. Später einmal, ich war schon etwas älter, da ist er mit einer Weinflasche in der Hand gestolpert, wobei er mich am Kopf mit der Flasche traf. Seitdem habe ich diese kahle Stelle, hier wo kein Haar wächst.

Ich fühle mich gut in meiner neuen Haut. Ein bisschen tut es schon noch weh. Ist aber nichts gegen die Schmerzen hier innen drin, die sie mir alle angetan haben. Das hier geht vorrüber. Wenn alles verheilt ist werden sie staunen. Ich werde endlich schön sein. Gut das ich mich zu dieser Operation entschlossen habe. Ich werde ein neuer Mensch sein und endlich normal leben können.

Meine Eltern hatten ein schweres Leben. Hier in der Kleinstadt kennt jeder jeden und sie haben immer versucht nach Aussen hin den besten Eindruck zu machen. Da war ich natürlich fehl am Platz. Sie haben sich geschämt für mich obwohl ich ja nichts dafür konnte. Ich war immer der Idiot und der Sündenbock für alles. Mühe habe ich mir gegeben, nicht immer im Weg zu sein. Aber irgendwie war ich immer und überall falsch.
Die Leute sagen ich bringe Unglück, ich sei vom Teufel besessen und so Sachen.
Ich versteh das gar nicht. Ich bin immer freundlich. Aber man meidet mich und traut mir nicht über den Weg. Die Nachbarin bekreuzigt sich immer wenn sie mich sieht und murmelt was von Sünde.

Mit den Jahren wurde es immer schlimmer. Die Leute hatten nun auch Angst vor mir.
Keiner wollte mit mir zu tun haben. Die Gleichgewichtsstörungen wurden stärker und es fing auch mit den Erinnerungslücken an. Es fehlte einfach ein Stück vom Tag. Nun war ich erst Recht für alles schuld. Ob etwas verschwunden war, etwas zerstört oder jemand nachts angefallen wurde – immer sollte ich es gewesen sein.
Aber ich habe ihnen nie etwas Böses gewollt. Ich wollte nur dazugehören und akzeptiert werden. Ja, manchmal, wenn die Kinder nicht aufhören wollen mir hinterher zu rennen und mich zu beschimpfen, dann jage ich ihnen schon mal einen gehörigen Schrecken ein. Das der Kleine vom Bäcker dabei vor ein Auto fiehl war nicht meine Schuld. Ich habe ihn nicht gestoßen wie sie behaupteten. Ich kann mich auch nicht erinnern ihn gewürgt zu haben.
Die denken sich das aus um mir weh zu tun. Seitdem habe ich aber wenigstens vor den Bälgern meine Ruhe.

Manchmal habe ich versucht mit ihnen zu reden und zu zeigen, das ich auch ein Mensch bin wie sie. Da war dieses Mädchen. Sie war so schön mit ihren langen, dunklen Locken, und den großen Augen. Sie wirkte so zerbrechlich. Ich habe am Stadtrand auf sie gewartet. Da war sie endlich mal alleine, ohne ihre Freundinnen, die mich immer verspotteten. Ich dachte, sie wird mich verstehen wenn ich ihr alles erkläre und von mir erzähle. Ganz einfach mit ihr reden. Aber sie wollte gar nicht zuhören. Sie wollte nur wegrennen. Sie fing an um sich zu schlagen und zu schreien. Ich versuchte sie zu beruhigen, aber sie kreischte so, daß es mich ganz wahnsinnig machte.
Da wurde ich wirklich böse. Sie WOLLTE einfach nicht zuhören! Ich fasste sie an den Schultern schüttelte sie immer und immer wieder um sie zur Vernunft zu bringen. Mehr wollte ich doch gar nicht. Ich wollte nur das sie mir zuhört.
Den Baum hinter ihr habe ich erst gesehen als sie plötzlich verstummte und zusammensackte. Bis es dunkel wurde habe ich dort mit ihr gesessen, sie im Arm gehalten, ihr rotes Haar gestreichelt und mit ihr geredet. Als ich Rufe und Schreie näher kommen hörte, bin ich gegangen. Man hätte mir ja doch nicht geglaubt, daß sie gegen den Baum gefallen ist.
Sie war eben sehr zerbrechlich.

Wenn ich die Arme und Beine beuge spannt es noch sehr. Das wird sich aber hoffentlich noch dehnen. Im Fernsehen sehen die Operierten immer ganz blau und geschwollen aus, danach. Ich bin ja eher noch etwas blass...fühle mich auch noch etwas müde und matt.
Durch die ganzen Fernsehreportagen ist man ja, ein Glück, sehr gut informiert über solche Dinge. Da hab ich schon ganze Operationen verfolgen können und gesehen wie das gemacht wird. Da gibt es Leute, die sind todunglücklich über eine zu große Nase. Da kann ich nur lachen. Was würden die tun wenn sie so aussehen würden wie ich? Die würden sich umbringen!

Das hab ich auch einmal versucht. Ich wollte das alles vorbei ist und stieg auf den Kirchturm. Ich überlebte den Sprung und habe seitdem dieses steife Bein. Alle anderen Knochen sind wieder einigermaßen gerade zusammengewachsen, nur das Knie war hinüber.
Die Leute sagten, das war die Strafe Gottes weil ich ausgerechnet vom Kirchturm gesprungen bin. Jedenfalls habe ich dann versucht so vor mich hin zu leben und möglichst allen Leuten aus dem Weg zu gehen. Ich lebte sehr einsam, meine Eltern waren längst gestorben.

Eines Tages kam es dann doch zu einer Veränderung. Unser Ort bekam einen neuen Pfarrer. Dieser junge Mann machte es sich zur Aufgabe jeden aus seiner Gemeinde aufzusuchen und kennenzulernen. So kam er auch an meine Tür. Ich kann mich nicht erinnern, daß jemals jemand so freundlich zu mir war. Er sprach mit mir und erkundigte sich nach meinem Leben. Ich war ganz verwirrt. Er hatte mich sehr beeindruckt: diese schlanke, stattliche Gestalt, kräftiges, volles Haar, das freundliche Gesicht, die weißen Zähne, diese schönen, zierlichen Hände...

Ich durfte ihn regelmäßig besuchen. Er war immer sehr freundlich, ich ging ihm zur Hand indem ich den Hof kehrte, die Gräber säuberte und was sonst so anfiehl. Manchmal bat er mir sogar Kaffe an und ich durfte mich bei ihm im Haus ein wenig umsehen. Er hatte einen guten Geschmack und so schöne Sachen. Ich begann ihn zu bewundern und zu beneiden.
Obwohl alle Leute den Kopf schüttelten, kümmerte er sich weiter um mich und ich genoß es in seiner Näe zu sein.
Manchmal entwendete ich etwas aus seiner Wohnung und stellte es bei mir zu Hause hin nur um etwas von dem Glanz der alle seine Sachen umfing mitzunehmen.
Die Wirkung hielt nicht lange an, so dass ich immer wieder Nachschub brauchte. Hier, diese Porzellanfigur gehörte ihm. Leider ist der eine Arm abgebrochen – ich bin doch so tollpatschig.

Ich verehrte ihn, wollte so sein wie er. So schön, so geschmeidig und so beliebt.
Alle liebten ihn. Ich beobachtete ihn und übte so zu laufen wie er, so zu reden, seine Handbewegungen. Ich kämmte mein Haar wie er, was schwierig war an den kahlen Stellen. Ich nahm Kleidung von ihm, die diesen gewissen Geruch von Hostien und Weihrauch trug. Ich hoffte so würde etwas von ihm auf mich übergehen und man würde mich mehr akzeptieren. Doch nichts änderte sich - sie gingen mir weiter aus dem Weg.

Dann, eines Tages fand er heraus, daß ich diese ganzen Sachen genommen hatte. Ich versuchte ihm zu erklären warum und das ich es nicht tat um ihn zu bestehlen. Aber er schrie nur und fuchtelte mit den Armen, war ganz ausser sich und gar nicht mehr freundlich. Er hörte gar nicht mehr auf, so dass es mich ganz wahnsinnig machte. Da wurde ich sehr böse.

Moment, ich muß diesen Verband ein wenig lockern. Er schnürt mich doch etwas zu sehr ein. Ich muß für eine gute Durchblutung sorgen, damit alles gut zusammenwächst... Vor allem die Haare sind mir wichtig. Das macht doch viel aus in der gesamten Erscheinung. So schöne Locken...

Ich wurde also sehr böse und griff ihn. Ich schüttelte und schüttelte und als ich ihn dann fallen ließ, fiel er einfach mit dem Kopf auf diese Tischkante. Ich kann nichts dafür. Er sollte mir nur zuhören. Dann bewegte er sich nicht mehr. Und wie er da so vor mir lag, begann ich ihn zu studieren. Was war es, was ihn so beliebt machte? Er hatte keine Verbrennungen sondern schöne glatte Haut, kein steifes Bein, volles, lockiges Haar und einen schön geformten Schädel. Er lag da so friedlich und schien wieder zu lächeln. Das alles wollte ich haben.

Es war ganz schön viel Arbeit, aber es hat sich bestimmt gelohnt. Wenn nur erst mal alles verheilt ist...ich kann es kaum abwarten. Aber ich bin noch so müde, so müde... Und der Herr Pfarrer, hihi, der sieht jetzt schon komisch aus...so ganz ohne seine Haut... wie er mich da aus der Ecke anstarrt aus seinen Augenhöhlen... und was für ein hämischen Grinsen er jetzt hat! Ich habe jetzt sein freundliches Lächeln, daß alle so lieben. Wenn er mir bloß nicht diesen Dreck machen würde...all das Blut... Aber ich bin so müde, ich muß jetzt schlafen, nacher... räum ich das alles weg, nachher fängt mein neues Leben an...

 

Hallo Lilly,

Das ist ja mal wieder eine ausgezeichnete Story, die Du da lieferst. Ich finde sie sogar fast noch besser als die Nullgeschichte.
So eine skurille Tragikomik, bei der man immer ein Schuldgefühl hat wenn man lacht, finde ich ziemlich gut.
Ein gutes Beispiel dafür ist diese Szene:

Hier, diese Porzellanfigur gehörte ihm. Leider ist der eine Arm abgebrochen – ich bin doch so tollpatschig.

Nur ein Detailfehler ist mir aufgefallen. Halbverweste Leichen können doch gar nicht bluten.

 

Hi 13en,
wie kommst du darauf, daß die Leiche halbverwest ist? Es ist ja gerade erst passiert, zumindest in den letzten paar Stunden...
Freut mich das die Geschichte dir gefällt.

 

Lilly ist wieder da! :)

Und wieder, wie nicht anders zu erwarten war, mit einer fantastischen Geschichte, fantastisch gut und fantastisch irre.
Ich stelle mir lieber nicht allzu genau vor, was für eine merkwürdige Operation dein "Quasimodo" da an sich selbst vorgenommen hat. :eek:
Diesmal habe ich aber einen winzigkleinen Kritikpunkt anzumelden.
Die Sprache des Protagonisten ist zu intelligent für seine einfältige Denkweise.

Alle lassen sich straffen, aufpolstern, ausstopfen. Aber wirklich keiner hat es so nötig gehabt wie ich. Diese Kompletterneuerung habe ich dringend gebraucht.

Solche Sätze passen nicht zu dem
Gesamtbild deiner "Kreatur".

Ich hab deine Geschichte aber trotzdem mit Gänsehautfeeling genossen. <IMG SRC="smilies/thumbs.gif" border="0">

Gruß.....Ingrid

 

wie kommst du darauf, daß die Leiche halbverwest ist? Es ist ja gerade erst passiert, zumindest in den letzten paar Stunden...

Ich dachte eigentlich wegen:

Und der Herr Pfarrer, hihi, der sieht jetzt schon komisch aus...so ganz ohne seine Haut...

Aber ich habs jetzt kapiert. Teil der Operation war also ein "Gesichtsaustausch".

 

JO,l auch mir hat die Story gut gefallen! Mit der "Nullgeschichte" konnte ich ja nichts anfangen... aber die hier ist echt gut!

Grizze
stephy

 

@ischi:
Du hast recht. Das empfinde ich auch so, aber es war ein Problem für mich mit einfacher Sprache konkret genug zu sein. Ich hab keine bessere Lösung gefunden.

@elias:
Hm, der Seltsamfaktor sollte in deinem Kopf entstehen... Ich finde die Geschichte aber auch nicht so "rund" wie die Anderen und sie ist tatsächlich einfacher.
Ich hab beim Schreiben sehr gependelt zwischen `nicht zu viel erzählen´ und ´genug zu erzählen
um der Phantasie des Lesers die Richtung zu zeigen´.
Verstehste?!

@einsdreien:
...ein Gesichtsaustausch und ALLES andere auch!...
:D

 

Aber wie wird der arme Mongo eigentlich seine Motorikstörungen los?

:D ;)

 

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