Ein polizeilicher Bericht
Niemand begriff, was in die alte Frau Weichert gefahren war. Sie hatte sich, ohne dass es Anzeichen für Altersverwirrung gegeben hätte, aus dem Küchenfenster ihrer Wohnung auf die Straße gestürzt. Als der Hausmeister die Wohnungstür aufschloss, suchte man vergeblich nach einem Abschiedsbrief. Der Sohn, der eilig aus der nahen Hauptstadt herbeitelefoniert worden war und der seine Tochter Judith mitgebracht hatte, konnte der Polizei zu den letzten Lebensmonaten seiner Mutter nur spärlich Auskunft geben.
Die Polizei rekonstruierte die letzten Stunden der Toten, um die Akten der Selbstmörderin vervollständigen und dann schließen zu können. Der junge Polizist, dem diese Aufgabe übertragen worden war, ging mit Elan und Phantasie des noch unverbrauchten Beamten zu Werke, und dies ist sein Bericht an den Vorgesetzten:
Frau Weichert wohnte in einer viel zu großen Wohnung im achten Stockwerk eines Hochhauses, das nahe einer Straße lag, die aus der kleinen Stadt hinausführte. Die Greisin hörte angeblich den Lärm von der Straße nicht mehr, der in den letzten Jahren ungewöhnlich zugenommen hatte, und wollte auf ihre alten Tage nicht mehr umziehen, wie man ihr auf dem Sozialamt aus Einsparungsgründen nahegelegt hatte. Sie war noch rüstig bis auf gelegentliche Schmerzen in den Beinen, und es bestand auch kein Grund für sie, in ein Pflegeheim zu ziehen oder in eine dieser neumodischen Wohngemeinschaften älterer Leute. Sie kam noch ganz gut mit dem Alltag zurecht, und nichts war ihr so wichtig wie ihre Unabhängkeit. Sie wollte auch in diesem Alter, und es war ein sehr hohes Alter, noch allein über ihr Leben entscheiden können.
Auf dem Sozialamt hatte sie sich deshalb den Ruf einer Querulantin und grämlichen Greisin erworben, und auch in ihrer Umgebung begegnete man ihr so manches Mal mit Misstrauen und Vorbehalten. Ihre Umgebung bestand aus der Familie ihres ältesten Sohnes, der ihr als einziges von drei Kindern noch geblieben war und der in einer mehrere zehn Kilometer entfernten Stadt wohnte. Die beiden anderen Söhne waren nacheinander vor ein paar Jahren gestorben, und nun konzentrierte sich Frau Weichert ganz auf diesen ältesten Sohn.
Die Geschäfte des Sohnes verlangten seine Abwesenheit an mehreren Tagen der Woche, und so blieb für kurze, unangemeldete Überraschungsbesuche nur wenig Zeit. Mitunter kam seine Tochter Judith zu Besuch, ein junges Mädchen, das noch zur Schule ging. Sie liebte die alte Frau sehr. Einmal war Frau Weichert sehr erkältet gewesen, keine leicht abzutuende Sache in diesem Alter, und Judith blieb eine ganze Woche bei ihr wohnen, denn es waren Schulferien. Judith kochte und wischte und wachte darüber, dass die alte Frau ihre Medikamente einnahm. Tags saß sie an ihrem Bett und las ihr Geschichten vor. Frau Weichert hatte offensichtlich ein mitfühlendes Herz, und sie beschloss, der Enkelin das Sparbuch mit ein paar tausend Euro vererben, wenn sie dereinst neben ihrem früh verstorbenen Mann zur letzten Ruhe gebettet werden würde. Sie habe das auch ihrer Enkelin mitgeteilt, schrieb der junge Polizist gewissenhaft in seinen Bericht.
Und dann dieser Anruf des Sohnes Edgar. Die Familie zog um, in die Hauptstadt. „Und Judith?“, hatte Frau Weichert gefragt. Judith, sagte der Sohn, werde natürlich auch umziehen, sie war ja noch nicht volljährig. Frau Weichert klagte nicht, sie nahm hin, was der Sohn entschied. „Wir besuchen dich, sobald sich eine Gelegenheit ergibt“, hatte er versprochen. Dies bestätigte der Sohn Edgar Weichert auf Befragen.
Und nun waren drei Monate vergangen, aber weder Edgar noch seine Frau, noch gar Judith hatten sie besucht. Judith rief einmal an, sie war nicht ganz bei der Sache gewesen. Ein junger Mensch, sagte sich Frau Weichert, hatte andere Dinge im Kopf als die Großmutter in der kleinen Stadt. Wie es ihr denn ginge, so ganz allein, fragte Judith zerstreut. Ihr selbst ginge es ganz wunderbar, alles sei so schön in der Stadt, in der Straße gebe es eine Disco, und einen Freund habe sie auch schon gefunden, er würde einmal Lehrer werden wollen. Frau Weichert hatte zugehört und jedes Wort, das zu Bedenken mahnte, verschlucken müssen, aber sie lächelte, während die Enkelin am Telefon redete und gar nicht aufhören wollte, von der Stadt zu erzählen. Die Enkelin Judith bestätigte, dass sie während des Telefonats mit der Großmutter an etwas anderes gedacht habe. Woran, wollte sie aber der Polizei nicht im einzelnen erklären.
Im Briefkasten lag heute ein Brief. Es war ein amtlicher Brief, von der Wohnungsverwaltung.
Frau Weichert hatte ihn auf den Stubentisch gelegt, er lag schon seit Stunden dort. Jetzt war es nachmittags, ein paar Stunden brauchte die Sonne noch, ehe sie unterginge. Im Zimmer war es dämmerig, aber Zwielicht, wenn sie die Lampe einschaltete, das wusste Frau Weichert, schädigte die Augen. Abends würde sie ihn öffnen, dann lohnte es sich, das Licht zu verbrauchen. Im Schein der Lampe würde sie jedes Wort erkennen können. Frau Weichert sei eine sehr sparsame Frau gewesen, vermerkte der junge Polizist, dies könne man den Abrechnungen der vorhergehenden Jahre entnehmen, die sich ordentlich abgeheftet in einem Aktenordner im Wohnzimmer fanden.
Sie hatte, ehe sie aus dem Haus gegangen war, nicht wie sonst die Blumen gegossen. Deshalb ging sie in die Küche und holte die kleine Gießkanne mit der spitzen Tülle, die auf dem Fensterbrett stand. Die Blumen auf dem Fensterbrett im Wohnzimmer gediehen gut. Es handelte sich um eine mehrjährige Aralie und drei kleine Affenbrotbäume, die sie aus Ablegern einer älteren Pflanze gezogen, die sie aber schon längst in den Müllcontainer geworfen hatte. Frau Weichert war sehr stolz auf ihre Blumenzucht, und sie bedauerte, so hoch zu wohnen, wo niemand als sie und nur gelegentliche Besucher die Pracht sehen konnten. Dies habe sie vor nicht mehr zu ermittelnden Zeiträumen einer Nachbarin gesagt. Dass Frau Weichert erst am Nachmittag die Blumen gegossen habe, könne man daraus schließen, dass die Blumenerde zum Tatzeitpunkt noch feucht gewesen sei, schrieb der junge Polizist.
Der Brief lag immer noch an seinem Platze auf dem Stubentisch. Jedesmal, wenn Frau Weichert daran vorbeiging, warf sie einen flüchtigen Blick auf ihn, und es beschlich sie ein unangenehmes Gefühl. Denn wenn sich ein Amt meldete, tat es dies nicht aus belanglosen, sondern nur aus höchst wichtigen Gründen. Frau Weichert konnte sich einige wichtige Gründe vorstellen, die ihre Wohnung betrafen. Zum Beispiel könnte es sein, dass die Balkone saniert werden würden oder dass die lange schon angekündigte Strangsanierung jetzt endlich in Angriff genommen würde. Das alles bedeutete Ungelegenheiten. In dem fortgeschrittenen Alter der Frau Weichert sei das zumindest anzunehmen gewesen, schrieb der junge Polizist etwas vage in seinen Bericht.
Die untergehende Sonne schien in die kleine Küche. Frau Weichert war auch sehr stolz auf ihre Küche, denn sie hatte ein Fenster. Damals, als sie und ihr Mann in diese Wohnung gezogen waren, wurden Hochhäuser nur mit Kochnischen gebaut, die an das Wohnzimmer grenzten. Aber dieses Hochhaus hatte ganz normale Küchen mit einem Küchenfenster und nicht diese unpraktische kleine Durchreiche, die damals der letzte Schrei des Wohnungsbaus war. Frau Weichert, die Gießkanne in der Hand, ärgerte sich, weil sie im Licht der Sonne Spuren ihres Wischens auf der Arbeitsplatte erkennen konnte. Sie war eine sehr reinliche Frau trotz ihres hohen Alters und konnte sich nicht verzeihen, wenn sie glaubte, in der Wohnung auch nur den Hauch einer Nachlässigkeit zu bemerken. Deshalb rieb sie mit dem Abwaschlappen über die Arbeitsplatte. Sie prustete dabei sogar ein wenig. Sie nahm auch noch das Küchenhandtuch und wischte die Platte trocken, bis sie glänzte wie neu. Als die Polizisten die Küche betreten hätten, sei das Glänzen noch zu bemerken gewesen.
Gerade, als sie die Gießkanne wieder an ihren Platz stellte, klingelte das Telefon. Frau Weichert erschrak. Sie erschrak jedesmal, wenn das Telefon läutete. Jemand, der anrief, hatte etwas auf dem Herzen, das nicht lange warten konnte. Dabei fiel ihr die Gießkanne, die noch ein wenig Gießwasser enthalten habe, aus der Hand, das sie aber nicht sofort aufwischte, sondern erst, nachdem sie das Telefon bedient habe. Als sie sich gefasst habe, hinkte sie so schnell es ihr gelang, ins Wohnzimmer, wo das Telefon auf einem kleinen Schränkchen neben dem Fernseher stand.
Einen Augenblick stand sie vor dem Telefon und wartete auf ein nochmaliges Läuten. Dann erst hob sie den Hörer ab. Sie meldete sich mit ihrem Namen. Die Enkelin bestätigte, dass das Telefon mehrmals habe klingeln müssen, ehe sich die Großmutter gemeldet habe.
Judith fragte, ob sie am Wochenende zu Besuch kommen könne, dann werde sie ihr etwas Wichtiges sagen. Aber darüber spreche man doch nicht am Telefon, erwiderte sie, als Frau Weichert mit einem Lächeln in der Stimme sagte, bei Menschen in ihrem Alter müsse man alle wichtigen Dinge sofort erledigen, weil sie im nächsten Moment tot umfallen könnten. Aber Judith hatte schon aufgelegt. So erfuhr sie auch nichts von dem amtlichen Brief auf dem Tisch in der Stube.
Es war Abend geworden, und Frau Weichert schaltete das Licht im Wohnzimmer ein und setzte sich auf die Couch. Mit einem beinernen Brieföffner öffnete sie den Brief der Wohnungsverwaltung. Es war ein länglicher Brief und zweifach gefaltet. Sie entfaltete ihn und setzte dann mit einer Hand die Brille auf, was ihr jedesmal Schwierigkeiten bereitete.
Dieser Teil der Rekonstruktion stütze sich lediglich auf Aussagen der Nachbarn, die glauben, abends nie Licht bei Frau Weichert gesehen zu haben. Sie sei immer sehr früh zu Bett gegangen.
Was sie lesen musste, begriff sie im ersten Moment nicht. Sie las zwar die Wörter, aber sie begriff ihren Sinn nicht. Sie las den Brief noch einmal, diesmal bedeutend langsamer. Jetzt erst verstand sie: Es handelte sich um eine Mieterhöhung um fünfzig Euro. Fünfzig Euro, und ihre Rente betrug nicht viel mehr als siebenhundert Euro.
Der Brief der Wohnungsverwaltung bedeutete, so schrieb der junge Polizist, dass sie ihre Selbständigkeit aufgeben und in ein Heim gehen müsste, mindestens aber müsste sie sich eine kleinere Wohnung suchen, denn von siebenhundert Euro konnte sie die Mieterhöhung nicht mehr bezahlen.
Aus diesem Grunde habe sie beschlossen, aus dem Leben zu gehen. Sie sei in die Küche gegangen, habe einen Stuhl vor das Fenster gestellt, sei daraufgestiegen und habe sich dann aus dem geöffneten Fenster acht Stockwerke in die Tiefe gestürzt. Da kein Abschiedsbrief gefunden worden sei, schließe man aus dem geöffneten Brief der Wohnungsverwaltung, den man auf dem Tisch im Wohnzimmer fand, auf das Motiv für ihren Selbstmord. Er sei einer von vielen, denn gerade Senioren, so schrieb der junge Polizist, kämen mit den neuen Verhältnissen und den stagnierenden Renten nicht mehr zurecht und sähen eben nur diesen einen Ausweg. Dies beweise die Selbstmordstatistik.
Der junge Beamte überlas seinen Bericht noch einmal. Er war stolz auf ihn, ihm waren beachtliche Formulierungen gelungen.
Und schwungvoll setzte er seine Unterschrift darunter, ehe er ihn seinem Vorgesetzten zur Kenntnis gab.