Ein Sinn für Unmöglichkeiten
In seinem Traum war er gerannt. Es gab kein Ziel, keine Intention. Er war schnell genug gewesen um die Welt einzuholen und mitten im Lauf erwachte ein Glücksgefühl in seinem Bauch- ein schreiendes Gefühl von Freiheit.
Leander erinnerte sich nicht, warum dieser Traum gerade jetzt wieder auftauchte, aber die grünen Augen des Mädchens neben ihm sahen ihn an und ihm fiel ein, dass er ihr noch eine Antwort schuldig war.
Sie hatte ihn betrachtet während er abschweifte. Das Glas mit dem dunklen Wein im Kontrast zu seinen blonden Haarsträhnen, die ihm ins Gesicht fielen. Ohne Zweifel hatte er ein schönes Gesicht, dachte sie. Unschuldige, weibliche Züge, ein verträumter Blick und etwas ernsthaftes um seine Augen machten ihn zu jemanden, der unfreiwillig auffiel.
Die Musik wechselte, sie kannte den Song aus dem Radio, aber sie erinnerte sich nicht an den Namen. Einige Studenten fingen an zu tanzen, traten von einem Bein auf das Andere und bewegten ihre Arme dazu. Leander vermerkte sich im Kopf, wie albern sie wirkten. Die Frauen, wie sie möglichst kokett und mädchenhaft wirken wollten, die Jungs auf ihrem Weg zu Männlichkeit, über Bier und Frauen philosophierend.
Er wusste nicht mehr, warum er hergekommen war. Die Menschen langweilten ihn, ihre Versuche etwas Besonderes darzustellen.
Als würde jeder einen Raum verlassen um seine Einzigartigkeit zu verdeutlichen und im Flur alle Anderen treffen, die die gleiche Idee hatten.
Leander sagte das zu dem Mädchen, weil ihm der Vergleich gefiel und er sich nicht mehr an ihre eigentliche Frage erinnerte.
Sie lächelte zögernd, aber zu seinem Erstaunen konnte er weder zweifelnde Ungläubigkeit noch naive Gutgläubigkeit aus ihrem Blick lesen.
"Ist nicht so deine Musik, oder?" fragte sie und sah ihn dabei direkt an, was ihm gefiel. Stimmt, das war ihre Frage gewesen. Er zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Musik, machmal gefiel sie ihm und unterstrich seine Stimmung, machmal schwieg sie ihn an. Aber Musik war nichts, was ihm gehörte. "Ich mag sie jedenfalls nicht", flüsterte das Mädchen, als würde sie ihm ein Geheimnis erzählen.
"Ich weiß, wo sich der Hauptschalter befindet" fügte sie hinzu, fast beiläufig, aber man konnte ihre Erregung spüren.
Er lächelte sie an, zum ersten Mal an diesem Abend. Ein kleiner Lichtblick auf einer grauen Party.
Er betrachtete den Raum im Hintergrund von ihren grünen Augen. Seidentapeten, eine riesige Bücherwand aus braunem Holz mit einer kleinen Leiter, die nicht so wirkte, als könnte man sie heraufsteigen.
Als er die Wohnung betreten hatte, war er überrascht gewesen von den Möbeln, den Jahrhundertwechsel. Er entdeckte sogar ein Grammophon, was sich hinter der lauten Rockmusik aus der Stereoanlage versteckte. Erst jetzt bemerkte er den Betrug mit einem Schaudern: Die Dinge in diesem Raum waren nicht wirklich alt. Sie hatten sich nur verkleidet um einem Exzentriker zu dienen. Der Sessel, auf dem er saß, hatte nichts anderes gesehen als ein namenhaftes Möbelhaus und diese Wohnung. Er hatte nichts erlebt. Er hatte keine Geschichte.
Leander ergriff eine Enttäuschung, an die er sich noch nicht gewöhnen konnte.
Bis eine Idee in ihm aufblitzte, ein absurder Plan, nicht gedacht um in die Realität verführt zu werden.
"Stell dir vor", murmelte er, mehr zu sich selbst, als zu dem Mädchen, "wir könnten mit dem Hauptschalter den Strom abschalten. Wir könnten dem Grammophon da drüben etwas Leben einhauchen und den Menschen hier etwas Lebensgefühl vermitteln." Er machte eine unwillkürliche Kopfbewegung in Richtung der Tanzfläche.
Er war sich nicht sicher, ob er sich das Blitzen in ihren grünen Augen einbildete.
Eine Pause entstand. Vielleicht hatte sie ihn nicht gehört. Vielleicht war sie mit ihren Gedanken woanders. Oder vielleicht war sie wie alle Anderen.
Er wurde nervös.
"Lieber nicht", sagte sie endlich. Sie zwinkerte. "Die würden uns rausschmeißen".
Leander hasste Menschen, die zwinkerten. Er ließ die Enttäuschung in sich wirken,beobachtete, wie sie sich ausbreitete und seine letzte Rettung, das Aufblitzen seiner Idee im grauem Nebel erstickte.
Sie hätte es sein können.
"Ein Ding der Unmöglichkeit", murmelte er undeutlich. Er fühlte sich nicht mehr wohl. Aber er wusste, er würde sich allein nicht besser fühlen. Sie hob ihren Kopf. "Nicht unmöglich, aber eher ungünstig würde ich sagen. Möglich ist grundsätzlich alles."
Er musste lachen über ihre süße Naivität, über ihren Glauben das Leben in der Hand zu haben. Dann ergriff ihn ein anderes Gefühl "Küss mich!", forderte er sie mit harter Stimme auf.
"Spinnst du?" erwiderte sie. Man merkte ihrer Stimme an, dass sie getrunken hatte. Er sah sie spöttisch an.
"Du bist so verdammt vorhersehbar.", erklärte er nüchtern." Du nimmst nur an, dass du Tausend Möglichkeiten hast. In diesem Moment hattest du nur eine. Du wusstest es, ich wusste es. Im Leben kann man sich nicht selbst überraschen." Er wurde wütend und wusste plötzlich nicht mehr, wem er diese Rede hielt, ihr, den Anderen, der ganzen Welt.
Er wollte sie schütteln doch er hatte Angst ihr wehtun .
"Verstehst du das nicht", brüllte er fast. Die anderen Gäste hielten in ihrem Tun inne und sahen ihn erschrocken an. "Du selbst malst dir einen winzigen Kreis und denkst du kannst ausbrechen, aber du kannst es nicht. Du selbst hältst sich davon ab. Deine eigene Angst. Deine Moral. Deine Vorstellungen wie die Welt sein sollte. Das ist doch krank." Er stand ruckartig auf, der Sessel fiel um. "Ihr seid doch alle krank!", schrie er verzweifelt die Partygäste an.
"Alle!"
In diesem Moment küsste sie ihn. Es war kein leidenschaftlicher Kuss, ein vorsichtiges Berühren von Lippen, aber er schloss die Augen und bekam ein Gefühl von Möglichkeiten.
Der Moment verstrich. Leander stellte den Sessel auf und setzte sich. In seinem Traum war er gerannt-und schneller als die Welt gewesen.