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Ein Stück Fleisch lernt fliegen

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08.10.2008
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Ein Stück Fleisch lernt fliegen

Die Gesamte Wohnung ist abgedunkelt. Ich liege auf meinem Matratzenlager, starre die Decke an, lausche der Stimme von Thom Yorke.
Alles schweigt, außer der Musik. Melancholie überkommt mich, wird mit jedem weiteren Akkord stärker, vollzieht schließlich die Metamorphose zur Todessehnsucht.
Trauriges Stück Fleisch, denke ich
Nutzloses, unbrauchbares, dich selbst bemitleidendes Stück Fleisch.
Diese Verdammten Tabletten, die mir mein Seelenklempner verschrieben hat wirken nicht, machen alles nur noch schlimmer. Seit einer Woche nehme ich diese Scheißdinger und seither taumle ich von Selbstmitleid in Raserei und wieder zurück.
Die Scherben auf dem Küchenboden zeugen von meinem letzten Ausraster. Ganz plötzlich kam er, ich spülte gerade das dreckige Geschirr. Ich hielt die schier unersetzbare Vase meiner verstorbenen Großmutter in der Hand, wusch sie vorsichtig, beinahe zärtlich.
Dann Blackout.
Und dann Scherben.
Überall.
Auf dem Boden, im Spülbecken schwimmend, verstreut im ganzen Raum. Küchenprogrom.
Einfach so, ohne irgendeine Erklärung, zerstörte ich alles, was mir von meiner Großmutter geblieben war.
Ein Wimpernschlag schneidet eine klaffende Wunde in mein Herz, nur ein paar Sekunden und plötzlich stehe ich mit nichts da.

Ich erhebe mich von den Matratzen, setze mich an den Computer und suche zum fünfzigsten Mal in dieser Woche diese Website auf, auf der man sich Handfeuerwaffen bestellen kann. Natürlich nur mit Waffenschein, was die Sache schwieriger macht. Und sehr Teuer sind sie auch.
Aber da ist einfach dieser Reiz. Diese Schönheit der Waffen. Die Schönheit des Endes in meiner Hand.
Ich stelle mir vor, wie mein Finger sich um den Abzug spannt, der kühle Lauf gegen meine Schläfe gepresst, ein Lächeln, nein, ein GRINSEN auf meinem Gesicht. Ein stundenlanger Augenblick Stille, alles zum zerreißen gespannt. Und dann zerreißt mein Schädel mit einem lauten Knall.
Blut, Hirn- und Knochensplitter fliegen, wie in Zeitlupe durch den Raum, benetzen die weiße Wand, mein lebloser Körper sackt zu Boden, immer noch lächelnd, endlich erlöst.
Der Film in meinem Kopf endet. Leider.
Ich bin immer noch hier.
Immer noch atmend.
Immer noch am Leben.
Scheiße.

Es wird Zeit für meine Tabletten. Ich bin ein guter Patient. Ich nehme sie. Regelmäßig. Ich tue was mein Arzt mir sagt. Ich gehorche. Nehme diese Qual auf mich.
Die Walter PPK für 329 Dollar und 90 Cent auf meinem Computermonitor lächelt mich an. Ich würde sie gerne in meinen Händen halten. Doch ich kann sie mir nicht leisten. Zumal ich sowieso nicht weiß, wie viel sie in Euro kosten würde.

„We hope... that you choke... that you choke...“

Ein weiterer Ausraster kündigt sich an. Ich stürze ins Badezimmer, schmeiße mir Wasser ins Gesicht. Versuche mich zur Beruhigung zu zwingen.
Atmung...
schneller...
Zähne...
knirschen...
Dann Stille.
Sekundenlang.
Spiegel.
Faust.
Scherben.
Blut.
Schrei.
Stille.
Tränen.
Eine Stimme in meinem Kopf singt „Heile heile Segen“.
Ich reiße das Fenster auf.
Ich starre hinunter.
Hoch. Sehr hoch.
Ich rufe meinen Psychiater an. Es geht nur der Anrufbeantworter ran. Ich hinterlasse die Nachricht, dass ich den Termin nächste Woche nicht wahrnehmen kann.
Mir kommt ein offenes Fenster dazwischen.
Noch ein Schrei.
Dann das Geräusch von aufklatschendem Fleisch.
Dann Stille. Für immer.
Und nur von oben Thom Yorkes klagende Stimme:

„It's always best when the light is off
it's always better on the outside
fifteen blows to the back of your head
fifteen blows to your mind.“

 

Hallo Sven,

und herzlich willkommen.
Dies ist das gefühlte millionste Suiziddebüt hier auf der Seite, insofern ist es vielleicht tröstlich: Du bist nicht allein.
Mich allerdings wundert, dass dein Protagonist, wenn er denn schon in therapeutischer Behandlung ist, angesichts seines Zustands nicht in einer Klinik ist. Denn die Ausprägung seiner akuten Gefährdung hätte die meisten Psychologen dazu gebracht, dies zu veranlassen. Wie dem auch sei, durch die Ausprägung ist der Suizid in deiner Geschichte wenigstens nachzuvollziehen und in Verbindung mit dem Titel wusste man spätestens als das erste Mal von "Fleisch" im Text die Rede war, ohnehin, wohin das Ganze führen würde.
Dein Text hebt sich durchaus positiv von den meisten Suizidtexten ab, da er wenigstens in sich geschlossen ist und den Selbstmord nicht irgendwo kitschig romantisiert, auch wenn Thom Yorke im Hintergrund natürlich Anlass dazu gegeben hätte. Titel und die Bemerkung "Mir kommt ein offenes Fenster dazwischen" verraten Sarkasmus auch im Umgang des Protagonisten mit sich selbst.
Details:

Diese Verdammten Tabletten
verdammten
die mir mein Seelenklempner verschrieben hat wirken nicht
hat, wirken
Seit einer Woche nehme ich diese Scheißdinger und seither taumle ich von Selbstmitleid in Raserei und wieder zurück
nein, so schnell wirken die fast nie
Und sehr Teuer sind sie auch
teuer
alles zum zerreißen gespannt.
zum Zerreißen
Atmung...
vor Auslassungspunkten immer ein Leerzeichen: Atmung ...
schneller ...
Zähne ...

Lieben Gruß
sim

 

Ich pflichte sim großenteils bei. Allerdings finde ich: Diese Geschichte romantisiert und qualifiziert sich damit als 08-15-Suizidstory, allem versuchten Sarkasmus zum Trotz. Ein deutliches Kennzeichen ist zum Beispiel, dass die Ich-Erzählperspektive zum Ende nicht konsequent eingehalten wird, denn ein Toter hört kein Thorn York mehr von oben bzw. könnte er dies au dem Ich nicht mehr kommunizieren. Vielleicht sollte die Stelle mit dem aufklatschenden Fleisch noch einen Wechsel signalisieren, aber mir erscheint das alles nur unbeholfenes Mittel zum Zweck, um mit dem York-Zitat nochmal kräftig auf die Tränendrüse des Lesers zu drücken.


Gruß,
-- floritiv.

 

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