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Ein Sterbender Gott
Das Mädchen, das neben ihm saß, war kein Mädchen, das beachtet wird. Sie saß schon viele Jahre neben ihm und trotzdem schaute er sie heute zum ersten Mal wirklich an. Etwas war heute anders an ihr. Er konnte nicht genau sagen, was es war, aber er spürte, dass es etwas Schlimmes war.
Sie begann sich aufzulösen. Es war kaum sichtbar, da sie nicht wie Wasser zerfloss, oder wie Nebel verdunstete. Stattdessen wurde sie am Rand unscharf und die Farben ihrer Kleidung, ihrer Haare, ihres Gesichtes wurden blasser. Sie sah aus wie ihr eigenes uraltes Foto.
Sein Körper verkrampfte sich. Er blinzelte, doch sie passte sich nicht der Schärfe und Klarheit ihrer Umgebung an. Niemandem sonst in der Klasse schien es aufzufallen. Nicht einmal dem Mädchen selbst. Ruhig saß sie da und schaute auf ihr Buch. Ihre Augen jedoch schienen müde und kraftlos.
Er konnte einfach nicht begreifen, was hier geschah. Völlig gebannt starrte er sie an. "Wieso tut denn niemand etwas dagegen?", hallte es immer wieder in seinem Kopf. Die Schulklingel riss ihn aus seinen Gedanken. Alle standen auf, die letzte Stunde war vorbei, Zeit nach Hause zu gehen. Auch das Mädchen packte ihre Sachen und verließ zwischen den Anderen die Klasse. Als er sie nicht mehr sah, packte er hastig seine Tasche und lief ihr hinterher. Er durfte sie nicht verlieren.
Der Flur war überfüllt mit jungen Menschen und sie schien bereits darin untergegangen zu sein. Kurz sah er ihre Haare, die bereits ein fahles grau angenommen hatten, in der Nähe des Ausgangs. Er kämpfte sich durch Gruppen von fremden Schülern und wich alten Lehrern aus. Draußen angekommen, sah er sie sofort. Sie ging alleine die Straße entlang. Zwischen ihm und ihr zwängten sich Kinder in überfüllte Busse. Er lief ihr nach, bewahrte jedoch einen kleinen Abstand, damit sie ihn nicht bemerkte. Jegliche Farbe war bereits aus ihr gewichen. Er glaubte sogar, die Vorgärten, an denen sie vorbei ging, durch ihren Schwachen Körper hindurch scheinend, sehen zu können. "Wieso tut niemand etwas dagegen?", schrie es in seinem Kopf, als sie plötzlich ihre Schultasche fallen ließ und auf die Knie fiel. Erschrocken sah er sie auf der Straße zu Boden sacken. Er lief zu ihr.
Neben ihr gekniet, traute er seinen Augen nicht: Als er ihren Kopf anhob, konnte er tatsächlich seine Hände durch sie hindurch sehen. Er fühlte wie ihr weiches Haar durch seine Finger floss. Erschrocken und mit großen Augen sah sie ihn an.
Langsam hob sie eine Hand und ihre Fingerspitzen berührten seine Wange. Er spürte einen warmen Windhauch an seiner Haut. Ihr Körper begann zu flimmern und sie wurde immer schwächer, bis sie ganz verschwunden war.
Auf der Straße kniend erinnerte nichts mehr an sie. Er war der einzige, der weinte.