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Ein Sterbender Gott

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15.02.2007
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Ein Sterbender Gott

Das Mädchen, das neben ihm saß, war kein Mädchen, das beachtet wird. Sie saß schon viele Jahre neben ihm und trotzdem schaute er sie heute zum ersten Mal wirklich an. Etwas war heute anders an ihr. Er konnte nicht genau sagen, was es war, aber er spürte, dass es etwas Schlimmes war.
Sie begann sich aufzulösen. Es war kaum sichtbar, da sie nicht wie Wasser zerfloss, oder wie Nebel verdunstete. Stattdessen wurde sie am Rand unscharf und die Farben ihrer Kleidung, ihrer Haare, ihres Gesichtes wurden blasser. Sie sah aus wie ihr eigenes uraltes Foto.
Sein Körper verkrampfte sich. Er blinzelte, doch sie passte sich nicht der Schärfe und Klarheit ihrer Umgebung an. Niemandem sonst in der Klasse schien es aufzufallen. Nicht einmal dem Mädchen selbst. Ruhig saß sie da und schaute auf ihr Buch. Ihre Augen jedoch schienen müde und kraftlos.
Er konnte einfach nicht begreifen, was hier geschah. Völlig gebannt starrte er sie an. "Wieso tut denn niemand etwas dagegen?", hallte es immer wieder in seinem Kopf. Die Schulklingel riss ihn aus seinen Gedanken. Alle standen auf, die letzte Stunde war vorbei, Zeit nach Hause zu gehen. Auch das Mädchen packte ihre Sachen und verließ zwischen den Anderen die Klasse. Als er sie nicht mehr sah, packte er hastig seine Tasche und lief ihr hinterher. Er durfte sie nicht verlieren.
Der Flur war überfüllt mit jungen Menschen und sie schien bereits darin untergegangen zu sein. Kurz sah er ihre Haare, die bereits ein fahles grau angenommen hatten, in der Nähe des Ausgangs. Er kämpfte sich durch Gruppen von fremden Schülern und wich alten Lehrern aus. Draußen angekommen, sah er sie sofort. Sie ging alleine die Straße entlang. Zwischen ihm und ihr zwängten sich Kinder in überfüllte Busse. Er lief ihr nach, bewahrte jedoch einen kleinen Abstand, damit sie ihn nicht bemerkte. Jegliche Farbe war bereits aus ihr gewichen. Er glaubte sogar, die Vorgärten, an denen sie vorbei ging, durch ihren Schwachen Körper hindurch scheinend, sehen zu können. "Wieso tut niemand etwas dagegen?", schrie es in seinem Kopf, als sie plötzlich ihre Schultasche fallen ließ und auf die Knie fiel. Erschrocken sah er sie auf der Straße zu Boden sacken. Er lief zu ihr.
Neben ihr gekniet, traute er seinen Augen nicht: Als er ihren Kopf anhob, konnte er tatsächlich seine Hände durch sie hindurch sehen. Er fühlte wie ihr weiches Haar durch seine Finger floss. Erschrocken und mit großen Augen sah sie ihn an.
Langsam hob sie eine Hand und ihre Fingerspitzen berührten seine Wange. Er spürte einen warmen Windhauch an seiner Haut. Ihr Körper begann zu flimmern und sie wurde immer schwächer, bis sie ganz verschwunden war.
Auf der Straße kniend erinnerte nichts mehr an sie. Er war der einzige, der weinte.

 

Hallo asilaydying,

zunächst einmal herzlich willkommen.

Ein kurzer Text, ein kurzer Kommentar: Du schreibst durchaus flüssig, und schaffst es, trotz der Kürze der Geschichte, einen Spannungsbogen aufzubauen. Toll gemacht!
Zwar bleibt offen, warum sie sich auflöst, doch ist eine Auflösung diesbezüglich :D auch nicht unbedingt von Nöten.
Vielleicht hättest du noch ein wenig im Satzgefüge variieren können (die Sätze sind recht kurz und einfach gestrickt), doch hat mir der Text insgesamt sehr gut gefallen, wobei ich allerdings auch nicht genau weiß, warum du ihn unter Horror gepostet hast.

Hoffe, mehr von dir zu lesen.

Gruß! Salem

 

Salem schrieb:
Hoffe, mehr von dir zu lesen.

Dem kann ich mich nur anschließen. An diesem Thema (Mensch löst sich auf) wollte ich mich schon länger mal versuchen - nach dieser Geschichte allerdings lass ich es besser sein: du hast es so wunderbar beschrieben, dass ich dagegen wie eine Dilettantin wirken würde.
Es past einfach alles zusammen: Sprache, Stil und Thema. Die Rubrik "Horror" halte ich absolut nicht für verfehlt. Dies ist der alltägliche Horror, das sanfte Grauen. Der Schrecken von der leisen, beiläufigen Art.
. Stattdessen wurde sie am Rand unscharf und die Farben ihrer Kleidung, ihrer Haare, ihres Gesichtes wurden blasser. Sie sah aus wie ihr eigenes uraltes Foto.
:thumbsup:
Für diese Beschreibung könnte ich dir ... naja, nicht gerade die Füße küssen, aber doch mindestens meinen nächsten Text widmen - wenn du magst.
Mach weiter so; bin schon sehr gespannt auf deinen nächsten Text. :read:
Sumitha

 

Moin asilaydying!

Schöne Geschichte, kann mich den anderen beiden nur anschließen. Normalerweise bin ich ja kein Fan von allzu kurzen Texten, aber in deinem Fall habe ich absolut keine Einwände. Das Thema ist traurig und doch real, der Prot in seiner (selbst gewählten) Hilflosigkeit ist dann auch der eigentliche Horror. Gern gelesen!

Trotzdem, beim nächsten Mal bitte etwas mehr Lesefutter! :dozey:

Gruß, Marvin

 

Hallo,
ich möchte auch meinen positiven Kommentar dazu abgeben. War nicht kompliziert geschrieben, das war für mich wichtig. Den Film vor dem inneren Auge konnte ich sofort aufbauen und ich sehe den Film noch immer vor mir. Mir hat´s sehr gut gefallen. Gerne mehr davon.:)
LG KaLima

 

Hi, asilaydying.

Das ist ein kurzes, intensives Stück Text, das auch mir durchaus gefallen hat.

Stattdessen wurde sie am Rand unscharf und die Farben ihrer Kleidung, ihrer Haare, ihres Gesichtes wurden blasser. Sie sah aus wie ihr eigenes uraltes Foto.

Die von Sumitha auch schon angesprochene Sentenz halte ich ebenfalls für sehr gelungen, die vielleicht stärkste Stelle im ganzen Text.

Ein paar Kleinigkeiten habe ich aber dennoch anzumerken.

"Wieso tut denn niemand etwas dagegen?", hallte es immer wieder in seinem Kopf.
und
"Wieso tut niemand etwas dagegen?", schrie es in seinem Kopf ...

sind für meinen Geschmack zu pathetische innere "Monologe". Einerseits passt die "direkte" Rede nicht in den restlichen Sprachgestus, der - obwohl ansprechend geschrieben - durch das Fehlen direkter Rede, eines Sprechens miteinander eine gewisse Beklemmung transportiert. Vielleicht kannst Du dieses Sich-Fragen, weshalb niemand etwas gegen die Auflösung unternimmt, noch dahingehend in die Handlung einbeziehen, dass Du deutlicher beschreibst, dass niemand sonst sich um dieses unbemerkte Mädchen zu scheren scheint - auch jetzt nicht, wo es sich auflöst. Die Frage, weshalb niemand etwas dagegen unternimmt, dass das Mädchen desintegiriert, ist zudem ja gekoppelt an die Frage, was Dein Protagonist degegen tun kann ... nämlich nichts. Und ein potentielles Schuldbewußtsein, dass es jetzt eben zu spät ist, etwas dagegen zu tun, dass man viel früher etwas hätte tun müssen, nämlich vielleicht einfach mal mit ihr sprechen. Worin sich eine "direkte" Sprachlosigkeit des Textes auch widerspiegeln würde.

Gut, das ist jetzt natürlich meine Interpretation der Auflösung, vielleicht meintest Du etwas anderes, aber vielleicht kannst Du mit dem Vorschlag was anfangen.

Auf der Straße kniend erinnerte nichts mehr an sie.

Ich weiß, was Du meinst. Aber es klingt unrund, gerade als fast letzter Satz. Entweder muss da noch ein "ihn" rein, wie bei "erinnerte ihn nichts mehr an sie", oder Du machst vielleicht besser noch zwei kurze Sätze daraus, so wie: "Er kniete allein auf der Straße (oder dem Gehweg). Nichts erinnerte mehr an sie."

Ansonsten aber ein uneingeschränktes: Gut gemacht!

Lieben Gruß
bvw

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo asilaydying,

Fazit vorweg: tolle Szene, aber keine Geschichte.

Die Szene hast Du sehr gut eingefangen und hervorragend beschrieben. Da gingen jede Menge Bilder im Kopf auf. Es ist meiner Meinung nach nur eine Szene und keine Geschichte, da es keine Namen, keine Charaktere und keinen Hintergrund gibt. Es geht ja auch nicht um die Personen, sondern um den rätselhaften, gruseligen Vorgang. Das Ganze wirkt auf mich wie eine Fingerübung: die Idee, das Sich-Auflösen eines Menschen einfach mal in Worte zu fassen.

Die Rubrik "Horror" passt, denn laut Beschreibung der Rubrik hat hier nicht nur blanker Horror, sondern auch sanfter Grusel seine Berechtigung (wird gerne übersehen).

Frage: was bedeutet der Titel? Gott oder Göttin? Und wieso überhaupt göttlich?

Grüße, nic

 

Hallo,

ich muss nicita zustimmen, zumindest, was die Geschichte mit der Szene angeht.
Ich kenne dieses Bild "Die Unbeachteten lösen sich wirklich auf" aus zwei Teenager-Serien und jedesmal war es dann ein humoristischer Zusammenhang (Bei Parker Lewis fängt die Brillenschlange an, sich aufzulösen - und, ich glaube, in einer Buffy-Folge lösen sich Schüler auf, die dann das CIA als Geheimagenten rekrutiert).
Das scheint ein typisches Thema an amerikanischen High-Schools zu sein, an denen Reputation und Prestige eine wohl noch größere Rolle als hier spielen. Und es scheint ebenfalls ein typisches Teenager-Dilemma zu sein.
Von daher hat mich die Geschichte leider nicht beeindruckt, weil ich sie schon kannte, und den Gedankengang, der dahinter steckt, ebenfalls. Und viel mehr als diese nackte Idee und den damit assozierten Gedankengang bietet der Text leider nicht.
Stilistisch oder sprachlich ist so ein Textchen schwer zu bewerten, ist wie bei Fußballern, die fünf Minuten vor dem Ende eingewechselt werden. Die kriegen ja auch keine Note mehr, der Einsatz ist einfach zu kurz.

Gruß
Quinn

 

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