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Ein Tag einer Märchenzüchterin
Gähnend sah ich auf meinen Bildschirm, auf dem langsam, Buchstabe für Buchstabe, ein neues Wort erschien. Ich freute mich über jedes neue Wort, das in mein Märchen, passte. Mein Job ist es, Märchen zu schreiben. Manchmal schreibe ich auch Romane, aber Märchen gefallen mir besser. Ich wohne mit Chiara, Marlon und Maurice zusammen in einer WG.
Es war schon spät und mir fielen schon langsam die Augen zu, deshalb fiel es mir schwer, sinnvolle Sätze in dem Computer einzutippen. „Na, wie kommst du mit deiner Märchenzucht voran?“, sagte Marlon, der plötzlich hinter mir stand, schelmisch und fing an die ersten Sätze meines Märchens zu lesen. Er nannte meine Märchenschreiberei immer „Märchenzucht“, da er nicht sehr viel davon hielt. „Hmmm… es geht so. Ich bin schon total müde“, antwortete ich und bekräftigte meine Aussage mit einem Gähnen. „Geh schlafen, ich schreib dein Märchen schon zu Ende“, schlug er mir mit einem breiten Grinsen im Gesicht vor. Natürlich meinte er das nicht ernst. Er hasste es schon allein, auf den Word-Button hinaufzuklicken. Ich sah ihn entgeistert an, worauf er ein noch breiteres Grinsen aufsetzte. „In einem hast du wenigstens einen guten Rat gegeben“, gab ich zu und speicherte den Anfang meines Märchens ab. „Gute Nacht“, murmelte ich noch, als ich zur Tür hinaus und in mein Zimmer ging.
Der Nachbarshahn krähte heute nicht, deshalb wurde ich erst um 10 Uhr früh wach. Ich marschierte in die Küche und schmierte mir ein Brot mit frischer Erdbeermarmelade. Worauf später noch vier weitere folgten. Nach diesem ausgiebigen Frühstück wollte ich mich wieder vor den Computer setzen und weiter an meinem Märchen schreiben. Als ich es mir auf meinem Drehsessel bequem machen wollte, klingelte es an der Tür. Fünf Jungen, die um die acht Jahre alt waren, hatten geklingelt und standen nun vor mir. Sie hatten alle durchsichtige schwarze Strümpfe über dem Kopf, trugen zerrissene Jeans und hatten schwarze Pullover an. Mir fiel plötzlich wieder ein, dass heute 1. April war und lächelte die Jungs an und fragte, was sie denn wollten. Ein kleiner Knirps, der bei weitem nicht wie acht aussah, stotterte: „Ähm…wir-wir sind die Gästebande und wollen di-dich ausrauben.“ Der Kleine freute sich sichtlich darüber, den Satz über die Lippen gebracht zu haben. Ein etwas größerer Junge neben ihm griff sich an den Kopf und sagte böse zu dem Kleinen: „Das heißt Gangsterbande, du Doofkopf!“ Einer hinter ihm zischelte gemein: „Ich hab doch gesagt, der Kleine kann das nicht.“ Wütend steuerten sie auf die nächste Haustür zu. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Nach dem Mittagessen, das Maurice heute zubereitet hatte, ging ich mit Chiara zum Shoppen in die Stadt. In den Schaufenstern waren viele hübsche Kleider ausgestellt, doch mit meinem mickrigen Lohn müsste ich sicher zwei Jahre sparen, um mir ein solches Kleid kaufen zu können. An einer kleinen Boutique gegenüber vom Rathhaus, gab es hunderte von Ohrringen, Ketten, Armbändern und Ringen. Dieses kleine Geschäft war unübersehbar, da eine silber-gold gestreifte Schrift auf einem riesigen Schild über der Ladentür hing. Ich liebe dieses Geschäft und bleibe oft Stunden darin, ohne mir etwas zu kaufen. Es gibt schwarzweiße Ohrringe, die zu einem K geformt sind -mein Name ist Kimberly, müsst ihr wissen-, goldene in form einer blühenden Rose, runde flache, auf denen ein gemaltes Bild eines Sonnenuntergangs ist, sogar Ohrringe, die einem Reißverschluss gleichen und natürlich Kreolen. Bei den Ketten gefällt mir eine schwarze mit einem silbernen Anhänger darauf am Besten. Der Anhänger ist rund und es ist ein kleiner Skorpion darauf abgebildet. Im Sternzeichen bin ich Skorpion. Diese Tiere sind, meiner Meinung nach, eigentlich recht hübsch. Obwohl sie nicht sehr hygienisch aussehen, haben sie etwas Elegantes und Orientalisches an sich. Schweren Herzens musste ich mich von dem Ohhringgeschäft trennen, da Chiara noch zu dem stadtbekannten Käfighaus wollte. Dieses Haus sieht aus wie ein Käfig, daher auch der Name. Langsam gingen wir in das Käfighaus hinein und achteten darauf, dass wir nicht mit den Köpfen an die unzähligen Stangen stießen. Sogar der Boden bestand aus lauter Metallstangen. Vorher war ich noch nie in diesem Haus gewesen, aber Gerüchten zufolge wusste ich, dass es toll sein sollte. Jetzt war es nicht nur „Gerüchten-zufolge-toll“, sondern realistisch-toll. Es sah nur etwas trüb durch all das Gitter aus. In dem Haus, das alleine schon wie ein riesiger Käfig aussah, befanden sich unzählige Affen-, Vögel-, Meerschweinchen- und Kaninchenkäfige. Chiara und ich gaben den Affen Bananen, die man an dem Stand vor dem Käfighaus kaufen konnte.
Als es allmählich zu dämmern anfing, machten wir uns auf den Heimweg. Es war schon spät und ich konnte, als wir Zuhause waren, nicht weiter meine Märchen züchten, wie es Marlon genannt hätte. Meine Füße taten höllisch weh, da ich mit Chiara ziemlich lange durch Boutiquen, Läden und Geschäfte gestreift war. Müde, aber doch glücklich, legte ich mich in mein Bett und schlief ein.