Ein Tag im Juni
Er schaute durch das Fenster nach draussen, als wär es das einzige auf der Welt. Es war seine zehnte Sitzung, hätte aber auch seine erste sein können, denn alle liefen gleich ab. Er kam drei Uhr nachmittags in den Raum, begrüßte Mr. Stevens und setzte sich auf den Stuhl am Fenster. Eigentlich war dieser Stuhl nicht für Patienten gedacht, Mr. Stevens benutzte ihn lediglich als Erweiterung seines Schreibtischs. Dort lagen die Akten aller Patienten, mit denen er am Tag zu tun bekam. Bis Chris das erste Mal kam. Er erschien pünktlich, wie übrigens auch zu allen anderen Sitzungen, und blieb im Raum stehen. Mr. Stevens bot ihm an, sich auf der Couch niederzulassen, aber Chris lehnte ab. Er stand einfach nur da und fand es angenehm, dass der Schreibtisch von Mr. Stevens vor dem Fenster stand. So konnte er hinaus schauen ohne sich unhöflich von ihm abwenden zu müssen. Mr. Stevens wollte ihm keinen Sitzplatz aufdrängen und stand auf. Er ging langsam, fast beiläufig, auf Chris zu, während er versuchte, das Eis zu brechen. „Wie geht es dir?“ Chris stand vor der Glasvitrine an der Wand und schaute sich die vielen kleinen Dinge an, die sich darin befanden. Figuren aus geschliffenem Glas, Zertifikate, gerahmte Bilder, selbst gebastelte Untersetzer, ein paar alte Bücher. Er blieb stumm. Mr. Stevens kam das sehr gelegen, um ein unverfängliches Gespräch anzufangen. „Da sind viele Sachen dabei, auf die ich Stolz bin. Da auf dem Bild, links neben dem Glaselefanten, dass ist meine Frau und mein jüngster Sohn Matt. Das war am Lake Manitoba. Am Tag, als dieses Bild gemacht wurde, ist Matt das erste Mal ohne Hilfe geschwommen. Es erinnert mich an eine schöne Zeit. Hier drin liegen auch Geschenke von Kindern. Ich freue mich immer sehr, selbst gebastelte Dinge geschenkt zu bekommen.“ Als Mr. Stevens die Glastüren der Vitrine öffnete, um eine Figur herauszuholen, wendete sich Chris plötzlich ab und starrte wieder zum Fenster hinaus. Etwas irritiert schloss Mr. Stevens die Vitrine und setzte sich auf die Kante des Schreibtischs, um wenigstens ungefähr auf Augenhöhe mit Chris zu sein. „Willst du mir vielleicht ein bisschen was über dich erzählen?“ „Ich bin Chris.“ „Ich bin Mr. Stevens, aber nenne mich ruhig Alex. Deine Eltern haben mir erzählt, dass es dir manchmal nicht so gut geht, dass du oft traurig bist.“ Chris zuckte mit den Schulter. Mr. Stevens erkannte sehr wohl, dass Chris an ihm vorbei aus dem Fenster starrte. „Pass auf“, sagte er, „du hast ja Recht, diese Couch steht ziemlich weit weg vom Fenster, zu sehr im Dunkeln. Ich räume dir diesen Stuhl hier neben dem Fenster frei und dann setzen wir uns, okay?“ Chris nickte, fast erleichtert. Mr. Stevens nahm den Stapel Akten vom Stuhl und legte sie in einen Schrank. Chris ging daraufhin ohne zu zögern zum Stuhl und setzte sich. Mr. Stevens tat es ihm gleich. „Also Chris, lass uns doch mal ein bisschen über dich reden. Was hast du für Hobbys?“ „Keine“, sagte er. „Aber irgendetwas muss dir doch Spaß machen, was machst du gern in deiner Freizeit mit deinen Freunden?“ „Ich habe keine Freunde“ „Ach das stimmt doch nicht, jeder hat Freunde, auch deine Familie sind deine Freunde. Du bist doch sicher manchmal mit deinem Dad draußen und wirfst ein paar Körbe oder? Spielst du gern Basketball? Oder etwas anderes?“ „Nein, mein Dad hat wenig Zeit. Wir haben früher im Garten Frisbee gespielt, aber jetzt nicht mehr.“ „Mit dem Vater reden“ schrieb Mr. Stevens auf seinen Block. Und so fragte er Chris alles Mögliche, über die Schule, über seine Familie, über Mädchen. Und Chris saß auf seinem Stuhl, schaute immer wieder kurz aus dem Fenster und sagte nichts, was über die reine Beantwortung der Fragen hinausging. So war es bei seiner ersten Sitzung und so sollte es auch bei den acht folgenden sein. Mr. Stevens rief nach der ersten Sitzung Chris’ Vater an und erkundigte sich, ob es stimmt, dass er kaum Zeit für seinen Sohn hat. Aber bei diesem wie auch bei vielen folgenden Anrufen stellte sich heraus, dass seine Eltern ständig bemüht waren, Chris in irgendetwas einzubinden aber er nie darauf einging. So gut wie alle Fragen, die sich auf seine Eltern bezogen, beantwortete er nicht wahrheitsgemäß. Allerdings prangerte er sie durch seine Aussagen nicht an oder gab ihnen die Schuld. Er stellte die wenige Zeit seiner Eltern als etwas dar, was nun einmal so war und mit dem man sich arrangieren musste. Er zeigte Verständnis für Dinge, die er sich ausgedachte hatte. Nach der neunten Sitzung kamen Mr. Stevens Zweifel, ob er der richtige Therapeut für diesen Fall wäre. Seine bisherigen Patienten waren Kinder, die sich ein bisschen von der Norm unterschieden. „Von der Norm“, dachte er, „welches Wort ist unpassender für einen Menschen als ‘genormt’?“ Es waren Kinder, die nachts nicht schlafen konnten, weil sie Angst vor schlechten Noten hatten. Teenager, die sich nach ihrer ersten unglücklichen Liebe wochenlang in ihr Zimmer einschließen und nicht redeten. Teenager eben. Aber Chris war anders, schwieriger. Er hatte bedenken, dass er ihm nicht helfen konnte oder seine Lage sogar noch verschlimmerte. „Morgen ist seine zehnte Sitzung und ich weiss nicht, wie ich mit ihm vorankommen soll“, dachte er, während er mit einer der Glasfiguren aus der Vitrine herum spielte. Schließlich nahm er sein Telefonbuch zur Hand und rief einen Studienkollegen an, mit dem er zusammen den Abschluss gemacht hatte. „Hey Vince, hier ist Alex.“ „Hi, wie geht’s dir?“ „Darum rufe ich an, hast du heute Abend schon was vor?“ „Kommt ganz drauf an, private oder berufliche Probleme?“ „Berufliche. Ich werde dir den Gefallen nicht tun, irgendwann dein Patient zu sein, weil mein Privatleben ein Scherbenhaufen ist.“ Beide lachten. „Hieß es damals auf der Uni nicht, dass man als Psychologe fünf Jahre braucht, um festzustellen, ob man die Patienten heilt oder sich ihnen nur immer mehr angleicht? Und jetzt, nach sechs Jahren, hast du berufliche Probleme.“, sagte Vince. „Um acht im Connell’s?“ „Geht klar, bis heute Abend.“
Das Connell’s war spärlich besucht an diesem Abend. Mr. Stevens freute es, so musste man nicht flüstern, um Gespräche privat zu halten. Er saß schon eine Weile da und hielt sich an seinem Glas fest, als Vince die Kneipe betrat. „Alex Orange“, sagte er etwas zu laut. Mr. Stevens musste schmunzeln, unterdrückte es aber schnell, um den Ernst der Lage nicht abflachen zu lassen. Auf der Uni nannten sie ihn so, weil er „A Clockwork Orange“ auswendig konnte. Vince setzte sich ihm gegenüber und starrte ihn eine Weile an. „So wie du aussiehst, hätten wir uns wohl doch gleich in meiner Praxis treffen sollen. Aber Spaß beiseite, was ist los?“ „Erstmal danke für das Überspringen des Small Talk. Es geht um einen Patienten von mir, ein 13-jähriger Junge. Seine Eltern schickten ihn zu mir, weil er sich auf einen Schlag veränderte. Er war ein stinknormales Kind, hatte Freunde, war relativ gut in der Schule. Absolut unauffällig. Und von einen Tag auf den anderen wurde er seltsam. Er bekam schlechte Noten, ging nicht mehr raus, traf seine Freunde nicht mehr und sprach kaum noch. Als ich das hörte, dachte ich an Pubertät. Aber nachdem er ein paar mal bei mir war, verlor sich dieser Gedanke schnell. Man kommt an ihn nicht ran, er beantwortet meine Fragen, aber er tut das wie eine Maschine. Ich habe kein einziges Mal eine emotionale Regung an ihm bemerkt. Man könnte sagen, er ist halt ein schüchterner und stiller Junge. Nichts ungewöhnliches. Aber die Tatsache, dass er sich mit einem Mal so gewandelt hat, macht den Fall so schwer. Ich komme mit ihm nicht weiter, ich weiss nicht, wie ich mehr aus ihm herausbekommen soll. Du kennst meine bisherigen Fälle. Nichts vergleichbares.“ „Vielleicht ist er missbraucht worden. Bei einer schlagartigen Charakteränderung ist das doch durchaus denkbar“, sagte Vince. „Aber warum sollten ihn seine Eltern dann zu mir schicken? Er könnte doch alles erzählen.“ „Naja, wenn man sich Missbrauchsfälle ansieht, dann sticht doch heraus, dass der Vater meistens der Täter ist und die Mutter nichts davon gewusst hat. Vielleicht hatte seine Mutter darauf gedrängt, ihn zum Psychologen zu schicken und sein Vater musste wohl oder übel zustimmen, um sich nicht verdächtig zu machen.“ „Aber der Vater müsste ständig damit rechnen, dass sein Sohn die Tat aufdeckt“, bemerkte Mr. Stevens. „Vielleicht hat er den Sohn vor Therapiebeginn noch mehr eingeschüchtert und so seine Psychose noch verschlimmert.“, sagte Vince. „Das wäre eine Anschuldigung, die mich alles kosten könnte, wenn sie sich als falsch herausstellt. Außerdem habe ich nie eine Spannung wahrgenommen, wenn sein Dad ihn bei mir vorbei gebracht hat. Und auch bei spontanen Fragen über seinen Vater hat er nie so reagiert, als wäre da irgendetwas. Nein, ich habe das Gefühl, dass da irgendwas anderes passiert sein muss. Aber was? Er ist so unauffällig, ich konnte weder Aversionen noch Vorlieben feststellen. Keinerlei Anhaltspunkte.“ Vince lehnte sich zurück und sagte: „Sieht so aus, als hättest du deine erste echte Herausforderung. Bei allen ähnlichen Fällen, die ich bisher hatte, zeigte sich der richtige Weg früher oder später durch kleine Details.“ Sein Handy klingelte. Nach einigen „ah“, „hm“, „ja“ und „ok“ nahm er sein Glas und trank aus. „Alex, ich muss los. Das war meine Frau. Unser neues Schlafzimmerfenster ist undicht, der Regen dringt unten durch einen Spalt hinein. Ich muss das jetzt, mit was auch immer, reparieren. Naja, du weißt ja wie es ist.“ „Auf der Uni konntest du nicht mal die Fensterscharniere ölen“, schmunzelte Mr. Stevens. Sie bezahlten und traten aus der Kneipe. „Bei dem Regen kann ich dich noch schnell nach Hause fahren“, sagte Vince. „Das bisschen Regen, danke aber ich laufe, kein Problem.“ Es goss. Mr. Stevens ging die Hauptstraße entlang, welche die Straßenlaternen und Ampellichter reflektierte. Er dachte über das nach, was Vince gesagt hatte. Eine Vergewaltigung. Konnte es wirklich sein? Es gab in den Sitzungen wirklich keine Reaktion auf die Fragen, die man bei Missbrauchsverdacht stellt. Nein, das war es nicht. Er musste wieder an diese „Normung“ denken. Wie scheußlich dieses Wort im Bezug auf die Individualität des Einzelnen ist. Okay, vielleicht ist Chris einfach nicht genormt, genauer, vielleicht hat er seine Norm erkannt und sich einfach von ihr losgesagt. Um ein Unikat aus sich zu machen. „Sind es Gegenstände, dann werden Unikate gesammelt und mit hohen Werten versehen. Sind es Menschen, dann werden Unikate separiert und abgewertet.“, sagte er laut in das vor ihm befindliche, nasse Nichts hinein. „Wie viel Wasser wird wohl schon durch das Fenster bei Vince eingedrungen sein? Wir haben Löcher in den Wänden, um etwas von draußen mitzubekommen und dann wundern wir uns, wenn etwas zu viel nach innen tritt.“ Er blieb stehen. Sein Haus war schon in Sichtweite, ohne dass er die gelaufenen Kilometer mitbekommen hätte. Plötzlich drehte er sich um und rannte. Seine Schritte ließen das Wasser auf der Straße explodieren. Als er bei seiner Praxis angekommen war, hielt er kurz vor der Eingangstür inne. „Alexander G. Stevens – Kinder- und Jugendpsychotherapeut“, stand auf dem Metallschild neben der Tür. Er fuhr mit der Hand über die Schrift und schloss die Tür auf. Als er im dritten Stock angekommen war, öffnete er ungeduldig die Praxistür, rauschte durch das Vorzimmer und blieb an der Tür zu seinem Sitzungszimmer stehen. Langsam öffnete er sie und machte das Licht an. Er blickte in das rechteckige Zimmer. Genau gegenüber der Eingangstür das Fenster. Rechts neben diesem stand der Stuhl. Dort die Couch, weiter rechts an der Wand. Dort die Glasvitrine, links neben der Tür, schräg aufgestellt, mit ihrer Vorderseite zum Fenster zeigend. Er machte das Licht wieder aus und setzte sich auf den Stuhl. So konnte er bequem aus dem Fenster sehen und gleichzeitig mit jemandem reden, der auf seinem Stuhl am Schreibtisch saß. Er stand auf, ging zur Couch hinüber und setzte sich. Der Winkel zum Fenster war so klein, dass er, wenn es hell wäre, wohl kaum mehr von draußen hätte sehen können als einen schmalen Streifen. Seine Gedanken überschlugen sich, als er zur Vitrine schritt. Er stellte sich davor und blickte hinein. In ihren geschlossenen Glastüren spiegelte sich das Fenster. Das Fenster. Immer wieder das Fenster. „Der Junge konnte es von der Couch aus nicht sehen, also blieb er stehen. Er schaute nicht die Sachen an, die in der Vitrine lagen, sondern die Spiegelung des Fensters auf ihren geschlossenen Türen. Darum wendete er sich ab, als ich die Türen öffnete, um etwas herauszuholen“, sagte er zu sich selbst. Mit dem Stuhl war er sofort einverstanden, weil er am günstigsten beim Fenster stand. „Es ist irgendetwas mit Fenstern. Aber vielleicht schaut er nur gerne aus ihnen heraus. Nein, dann hätte er nicht sofort die Möglichkeiten im Sitzungszimmer analysiert. Es muss eine Art Zwang sein“, dachte er. Morgen spreche ich ihn darauf an.
Pünktlich um drei erschien Chris in der Praxis. Er setzte sich, wie immer, auf den Stuhl am Fenster und sah raus. Mr. Stevens ließ sich neben ihm nieder, drehte seinen Stuhl zum Fenster und sah eine Weile mit hinaus. „Es ist interessant, hinaus zu schauen, nicht wahr?“ „Kann sein“, sagte Chris gleichgültig. „Ich finde es entspannend. Man kann beobachten, was die Leute auf der Straße so machen. Wie die Ampeln den Verkehr regeln. Wie der Wind weht.“ In diesem Moment klingelte das Telefon. „Stört es dich, wenn ich kurz ran gehe?“ Chris zuckte mit den Schultern und sah weiter hinaus. Mr. Stevens nahm den Hörer ab. „Hallo?“ „Guten Tag, Mr. Stevens, hier ist Bill Langley, Chris’ Vater.“ „Hallo Mr. Langley, was gibt es denn?“ „Ich weiß, ich hätte persönlich mit ihnen reden sollen, als ich Chris vorhin vorbei gebracht habe, aber ich war mir unsicher. Da gibt es etwas, was ich ihnen sagen sollte.“ „Er hat ihn missbraucht“, dachte Mr. Stevens. „Erzählen sie“, sagte er etwas harsch. „Also, ich wusste nicht, ob es relevant ist, darum habe ich es nicht eher erwähnt. Aber da es keine Fortschritte mit Chris gibt, will ich es ihnen doch erzählen. Meine Frau Amanda ist nicht Chris’ richtige Mom.“ Mr. Langley stockte kurz. „Seine Mutter, meine erste Frau, starb vor zweieinhalb Jahren. Wir strichen das Haus an, standen beide auf dem Gerüst. Sie ist ausgerutscht oder hat einen falschen Schritt gemacht. Die ganze Familie, natürlich auch Chris, war geschockt. Er hat seine Mutter verloren, ich meine Frau. Meine Frau. Aber irgendwie musste das Leben weitergehen und nach und nach normalisierten sich die Verhältnisse, sofern man das so sagen kann. Wir haben oft darüber geredet und Chris war teilweise wieder der fröhliche Junge geworden, der er vor dem Unfall war. Doch dann kam dieser Tag, an dem er sich plötzlich veränderte. Ich weiß nicht, ob es mit dem Unfall zusammenhängt.“ Mr. Stevens schlug sich den Missbrauchsverdacht aus dem Sinn und versuchte, seine Stimme professionell klingen zu lassen. „Warten sie bitte kurz“, sagte er und legte das Gespräch auf den Apparat im Vorzimmer. „Chris, ich bin sofort wieder da, okay?“ Chris schaute hinaus. Mr. Stevens ging ins Vorzimmer und nahm den Hörer ab. „Ich bin wieder da. Manchmal kann der Schockzustand eine ganze Weile später eintreten, Jahre nach dem eigentlichen Ereignis. Es ist wichtig, dass sie mir das erzählt haben. Ich würde jetzt gern mit der Sitzung fortfahren.“ „Aber natürlich. Wir sehen uns dann, wenn ich ihn abhole. Auf Wiederhören.“ Mr. Stevens legte den Hörer auf und ging zurück ins Sitzungszimmer. Er setzte sich neben Chris. „Dein Dad hat mir erzählt, dass du und deine Familie vor ein paar Jahren eine schwere Zeit hattet.“ „Meine Mom ist gestorben.“, sagte Chris eher beiläufig. Mr. Stevens war sehr überrascht über diese klare und nüchterne Aussage. „Sie ist vom Gerüst gefallen. Dad ist schuld.“ „Das stimmt nicht“, sagte Mr. Stevens mit ruhiger Stimme, „es war ein Unfall. Dein Dad ist nicht schuld daran, dass sie gestorben ist.“ „Nein, aber er ist schuld daran, dass sie niemals wiederkommt. Er hat sie vor ein paar Monaten getötet.“ Wie sollte er die Aussagen dieses Jungen nur deuten? „Er redet wirr, vielleicht ist er wirklich nur aufgefressen von Trauer und hat seine Zeit gebraucht, diese Trauer zu kanalisieren und nach außen zu tragen.“, dachte Mr. Stevens etwas überfordert. „Der Unfall ist zweieinhalb Jahre her, dein Dad kann sie nicht vor ein paar Monaten getötet haben. Wie kommst du auf so etwas?“ Die Augen des Jungen wurden noch schwarzer, leerer, unergründlicher als sonst und dann sagte er: „An dem Tag, als meine Mom starb, saß ich in meinem Zimmer. Sie war gerade draußen auf dem Gerüst und strich die Wand um mein Fenster herum. Sie klopfte an den Fensterrahmen und ich schaute nach links zum Fenster. Sie blickte nicht ins Zimmer hinein, aber ich konnte ihr Spiegelbild an der Fensterscheibe außen sehen, weil das Fenster halb geöffnet war. Ich schaute kurz weg und im nächsten Moment war ihr Spiegelbild verschwunden. Das war das letzte Mal, dass ich meine Mom gesehen hab. Aber sie war immer bei mir, wenn ich das Fenster geöffnet hab. Sie war immer da draußen, wo ich sie sehen konnte. Und ich weiß, dass sie mich auch gesehen hat. Die Spiegelung auf der Scheibe hat uns verbunden. Und vor ein paar Monaten hat mein Dad sie umgebracht.“
Die Zeit war um und Chris’ Vater wartete bereits draußen im Vorzimmer. „Hallo Mr. Langley, kann ich noch kurz mit ihnen reden?“ „Chris, wartest du kurz hier?“, sagte Mr. Langley. Mr. Stevens führte ihn ins Sitzungszimmer. „Können sie sich an irgendetwas erinnern, was an dem Tag geschah, als Chris begann, sich merkwürdig zu verhalten? Irgend eine Kleinigkeit?“ „Ich habe schon so oft darüber nachgedacht, was an dem Tag passiert sein könnte, dass ihn so verändert hat, aber ich weiß es nicht.“ Mr. Langley sah ehrlich verzweifelt aus. „Vielleicht etwas, dass sie nie als Auslöser eines Problems in Betracht ziehen würden.“, merkte Mr. Stevens an. „Etwas mit einem Fenster vielleicht.“ Mr. Langley starrte eine Weile zum Fenster des Zimmers, dann aus ihm heraus. Er dachte an seine Frau, an den Tag, als alles geschah. Als ein kleiner Moment der Unachtsamkeit drei Leben beendete. Ein physisches und zwei psychische. Er stand neben ihr, als sie ihren Sohn das letzte Mal durch die Reflektion des halb geöffneten Fensters sah, durch diesen 45 Grad Winkel. Er vermisste seine Frau. Er hätte sich so gern verabschiedet. Als ihm die Tränen kamen, sagte er: „Etwas mit den Fenstern war an dem Tag, als er sich verändert hat. Wir haben sie im ganzen Haus gegen neue ausgetauscht, Solche, die man zum Öffnen nicht nach innen aufmacht sondern nach oben schiebt.“