Ein totes Leben
Ein totes Leben
Ich saß auf meinem Bett und konnte es immer noch nicht glauben. Warum hat er das nur getan? Jedes mal wieder. Ich kann nichts dagegen tun. Wenn ich es doch nur jemandem sagen könnte. Warum kann mir nur niemand dabei helfen? Ich bemerkte, wie mir ein paar Tränen die Wangen herunter liefen. Ich rollte mich auf meinem Bett zusammen, wie ein Igel und schlief kurze Zeit später ein.
Als ich wieder aufwachte, war es schon dunkel. Ich sah auf die Uhr. 20.00 Uhr. Ich stand auf und öffnete langsam meine Zimmertür. Es war alles ruhig. Wo mag er bloß sein? Aber es war mir egal. Wenn ich ihn nicht sehen mußte, ging es mir sowieso viel besser. Langsam schlich ich mich zur Wohnungstür. Als ich am Wohnzimmer vorbeiging, sah ich wie er auf dem Sessel vor dem Fernseher saß und sein Bier trank. Wieder mal zu viel. Ich öffnete die Wohnungstür einen kleinen Spalt, wobei sie etwas knarrte. Ich hoffte nur, daß er es nicht hörte. Aber leider war das nicht der fall. Ich hörte nur noch meinen Namen, als ich hinter der Tür verschwand. Ich lief so schnell ich konnte und hörte immer wieder meinen Namen. „Sandra“ , wieder und wieder. Ich hatte fürchterliche Angst. Plötzlich fing es an zu regnen. Ich lief durch die Straßen, wo um diese Zeit keine Menschenseele zu sehen war. Ich schlich leise auf den Friedhof und setzte mich an das Grab meiner Mutter, die vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam. Ich kniete mich nieder in den Matsch und weinte leise. Der Regen lief mir am ganzen Körper herunter.
Ich merkte, wie sich meine rötlich gefärbten Haare im Regen kringelten. Ich mochte nicht, wenn sie das taten. Meiner Mutter gefiel das immer sehr. Ich schloß meine Augen und sah das Gesicht meiner Mutter vor mir. Ihre schönen blonden Locken und ihre rosigen runden Lippen. Meine Mutter war eine sehr schöne Frau. Ich hatte immer ein Bild von ihr dabei. Ohne dieses Foto ging ich nie aus dem Haus. Wenn ich Angst hatte oder traurig war, sah ich mir dieses Bild an und es beruhigte mich, wenn ich ihr Gesicht sah. Ich stellte mir vor, sie würde neben mir sitzen und mich in den Arm nehmen. Ich vermisse sie so sehr. Plötzlich hörte ich die Kirchenglocken schlagen. Es war schon spät. Halb Elf. Ich mußte nach Hause, aber ich traute mich nicht. Ich hätte furchtbaren Ärger bekommen. Ich lief durch den Regen, der inzwischen weniger geworden war. Links und rechts leuchteten die Straßenlaternen auf mich herunter. Als ich in unsere Straße einbog sah ich einen Mann, der von allen Kindern in unserer kleinen Stadt „Mogli“ genannt wurde. Wir gaben ihm diesen Namen, weil er so verwildert aussah. Jeder in der Stadt hatte Angst vor ihm. Warum, weiß eigentlich keiner so genau. Er hat noch nie jemandem etwas getan. Alle gingen ihm lieber aus dem Weg. Bis eine kleine Gruppe von Jungen, die es immer wieder darauf ankommen lassen wollten. Sie suchten nur einen Grund dafür, Mogli zu ärgern. Ich konnte das nicht verstehen. Ich fand das gemein, daß sie alle so auf ihm herum hacken mußten. Sollten sie ihn doch einfach nur in Ruhe lassen. Er tut doch niemandem etwas. Trotzdem wollte ich nicht, dass er mich sieht.
Ich schlich mich in den Hausflur unseres Mehrfamilienhauses und schloß die Tür hinter mir. Leise lief ich die Treppe hinauf bis zu unserer Wohnungstür. Ich öffnete sie und wollte mich in mein Zimmer schleichen, als mich jemand von hinten schubste. Es konnte nur mein Vater sein. Warum blieb ich nicht einfach weg? Es würde mir überall besser gehen als hier. Ich drehte mich um und sah ihm ins Gesicht. Ich wußte schon, was jetzt kam. Und richtig. Er packte mich am Arm und zerrte mich in mein Zimmer. Ich werte mich und versuchte mich loszureißen, aber es gelang mir nicht. Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie strömten mir über die Wangen. Ich flehte ihn an es nicht zu tun. Doch er beachtete mich gar nicht und drückte seine Hand auf meinen Mund. Dann öffnete er meinen Gürtel und meinen Reißverschluß. Meinen Tränen kullerten nun auch über seine Hand. Als er mir die Bluse öffnete, ließ er die Hand von meinem Mund und ich schrie. Er holte aus und schlug mir mitten ins Gesicht, und ich fing an zu bluten. Das Blut lief aus meiner Nase und über meine Lippen. Ich schmeckte es. Er packte mich und warf mich aufs Bett. Meine offene Bluse rutschte mir dabei von den Schultern. Als ich versuchte sie wieder hochzuziehen riss er sie mir vom Körper. Ich fing an mit den Beinen zu treten, als er meinen Hals küsste. Er bemerkte es kaum, weil ich viel zu schwach war. Langsam fuhr er mit seinen Händen an meinem Körper entlang. Über meinen Bauch und über meine Hüften. Er zog mir dann langsam die Jeans aus, die von dem Regen durchnäßt war. Ich hatte es aufgegeben mich zu wehren. Es hatte ja doch keinen Sinn. Ich war viel zu schwach um ihn wegzustoßen. Ich lag einfach nur da und hoffte, daß es bald vorbei war. Ich ballte meine Fäuste, daß es schon weh tat. Er legte sich plötzlich auf mich und ich spürte seinen Atem in meinem Nacken. Ich konnte nichts tun. Ich verkrampfte mich am ganzen Körper. Ich spürte meine Beine kaum noch. Ich schmeckte Blut in meinem Mund und merkte, daß ich mir auf die Zunge gebissen hatte.
Endlich! Dachte ich, als er von mir herunter rutschte und ich endlich wieder Luft bekam. Ich hörte, wie meine Zimmertür ins Schloß fiel. Jetzt war er draußen. Ich richtete mich auf und ging zum Spiegel, der an meiner Wand neben dem Schreibtisch hing. Ich betrachtete mich. So dreckig. Ich ekelte mich vor mir selbst. Ich nahm ein Taschentuch und wischte das Blut aus meinem Gesicht. Meine Zunge fing erst jetzt an zu schmerzen. Ich zog meine letzten Kleidungsstücke aus, hing mir einen Bademantel über und schlich ins Bad. Ich drehte den Schlüssel zweimal um und huschte unter die Dusche. Das Wasser lief hellrot in den Ausguss. Ich bemerkte, daß ich in den Innenflächen meiner rechten Hand verletzt war. Meine Fingernägel hatten sich in die Hand gebohrt, als ich die Fäuste geballt hatte. Ich fing wieder an zu weinen. Ich fühlte mich so schrecklich allein. Ich lauschte ob ich ihn hören konnte. Aber Gott sei Dank hörte ich nichts. Ich hatte Angst, dass er vor der Badezimmertür stand. Ich drehte das Wasser ab und kletterte aus der Dusche. Ich hing mir den Bademantel um und schloß die Tür auf. Dann ging ich leise in mein Zimmer zurück und zog meinen Pyjama an, legte mich ins Bett und starrte an die Decke. Ich kam mir vor wie tot. Ich war ein innerlich totes Lebewesen. Zumindest kam es mir so vor. Ich wäre lieber tot gewesen. Vielleicht sollte ich einfach aus dem Fenster springen. Der einzige Grund es nicht zu tun, war meine Freundin Britta. Sie wußte von meinem Vater. Sie hatte mir oft angeboten bei ihr zu wohnen, aber ich lehnte immer ab. Ihre Eltern hätten wissen wollen, warum ich nicht zu hause schlafen wollte. Ich war sehr oft bei Britta und sie behandelten mich wie ihre eigene Tochter. Manchmal kam ich mir auch so vor. Ich mochte das, sie waren die besten Eltern der Welt. Ich beneidete Britta darum. Ich hätte alles gegeben, um solche Eltern zu haben. Ich würde sie mit niemandem teilen. Meine Mutter war auch so eine liebe Mutter gewesen. Aber sie musste sterben.
Ich öffnete ruckartig die Augen, als mein Wecker um 9.30 Uhr klingelte. Ich stand auf und zog mir meine gute Jeans und meinen dunkelblauen Wollpulli an. Dann ging ich in die Küche und warf dabei einen Blick in das Schlafzimmer meines Vaters, dessen Tür immer offen stand. Er war nicht da. Es war mir egal.
Ich saß am Küchentisch neben dem Fenster und aß eine Scheibe Brot. Es regnete schon wieder. Die Scheibe war von dem Regen verschwommen, sodass ich nicht raus sehen konnte. Als ich mein Brot aufgegessen hatte, drehte ich das Radio wieder aus und ging zur Wohnungstür. Ich zog meine Regenjacke an und verließ das Haus. Ich setzte meine Kapuze auf, bevor ich mich auf den Weg machte. Im Schnellschritt ging ich durch die Straßen. Ich hatte es nicht weit. Unterwegs holte ich Britta ab, die schon vor der Tür auf mich wartete. Das letzte Stück rannten wir. Als wir ankamen sangen schon alle. Wir schlichen uns leise in die vorletzte Reihe und sangen mit. Britta und ich gingen fast jeden Sonntag in die Kirche. Warum ich dort hin ging wußte ich auch nicht so genau. Ich glaubte nicht an Gott, weil ich mich von ihm verlassen fühlte. Ich bekam von der Predigt, die der Pastor hielt nicht viel mit, weil ich immer wieder an meinen Vater denken mußte. Er ging mir einfach nicht aus dem Kopf.
Als die Kirche zu ende war gingen wir zu Britta nach Hause, wo wir uns in ihr Zimmer setzten und Fern sahen. Ihre Mutter verwöhnte uns mit selbstgebackenen Plätzchen, die wir ganz schnell verschlungen, weil sie so unglaublich lecker waren. Brittas Mutter war wie eine Freundin. Man konnte mit ihr über alles reden. Von meinem Vater erzählte ich ihr nie etwas und Britta tat das auch nicht. Ich redete nicht einmal mit Britta darüber. Sie fragte auch nie danach oder sprach mich darauf an, weil sie wußte, daß ich das nicht wollte und es mir unangenehm war. Nachdem Britta und ich die Plätzchen aufgegessen hatten, schlug Britt vor ins Kino zu gehen. Wir sahen uns das Kinoprogramm in der Zeitung an und waren uns sofort einig, welchen Film wir sehen wollten. Wir gingen also ins Kino, wofür uns Brittas Mutter den Eintritt spendiert hatte. Als wir jedoch in der Schlange vorm Kino standen, sahen wir ein kleines Schild neben dem Plakat. „Ausverkauft“. Na toll, dachten wir und sahen uns die anderen Plakate an, von den Filmen, die noch liefen. Aber Science-Fiction war nicht unser Fall und auf einen Zeichentrickfilm hatten wir auch keine Lust. Also sind wir in die Eisdiele gegangen und haben ein Eis gegessen. Ich habe natürlich zwei Kugeln Erdbeere genommen. Ich liebe Erdbeereis.
Als wir uns unterhielten fragte Britta mich ganz plötzlich, ob mein Vater mich heute schon belästigt hätte. Ich war geschockt. Sie fragte, als ob es das Normalste von der Welt wäre. Für mich war es was ganz alltägliches, aber es klang, als würde sie fragen, was ich heute zum Frühstück gegessen hatte. Ich sah Britta ganz erstaunt an. Ich schüttelte ein bißchen mit dem Kopf, sodass man kaum erkennen konnte, daß ich ihn überhaupt bewegte. Mir schmeckte mein Eis plötzlich überhaupt nicht mehr. Ich schob es von mir und versank etwas in meinem Stuhl. Dann fragte ich sie leise, warum sie mir so eine Frage stellte, und sie antwortete, weil ich nie darüber redete und ich könnte ihr doch ruhig erzählen, was er mit mir anstelle. Sie würde es auch ganz bestimmt für sich behalten. Ich wußte, daß sie niemandem etwas davon erzählen würde. Aber ich konnte nicht darüber reden, nicht einmal mit meiner besten Freundin. Ich wusste, dass es falsch war.
Wir sahen uns eine Weile an, was wahrscheinlich nur ein paar Sekunden dauerte, aber es kam mir wie Stunden vor. Britta stand auf, ging zu der Bedienung und bezahlte für uns beide das Eis. Ich ging hinter ihr her. Wir hinterließen unsere halbvollen Eisbecher und gingen zu Britta nach Hause. Auf dem Weg dorthin sagten wir beide kein Wort. Ich wollte das Eis brechen, indem ich etwas sagte, aber meine Kehle war wie zugeschnürt, ich hatte das Gefühl ich müsste ersticken. Ich bekam kein Wort heraus. Auch den Rest des Nachmittages sprachen wir kein Wort miteinander. Warum eigentlich nicht. Ich war ihr ja nicht böse, mich hatte diese Frage nur so schockiert, weil ich das nicht von ihr erwartet hatte. Ich wußte auch nicht, ob sie mir vielleicht böse war. Also fragte ich sie das gerade heraus. Sie sagte mir, daß sie andauernd daran denken müßte, daß mein Vater mich mißbraucht. Aber sie war mir nicht böse. Sie mache sie nur Sorgen. Ich fand schön, daß sie sich um mich sorgte, ich kannte dieses Gefühl bisher nicht. Aber es gefiel mir.
Ich sah auf die Uhr. Es war schon spät geworden und ich mußte mich auf den Heimweg machen. Britta brachte mich zur Tür. Ich verabschiedete mich von ihren Eltern und schlenderte langsam nach Hause. Ich wollte, daß der Weg so lange wie möglich dauerte, damit ich nicht so früh zu Hause war. Ich hätte natürlich noch bei Britta bleiben können, aber ich habe es dort einfach nicht mehr ausgehalten.
Als ich die Wohnungstür öffnete stand mein Vater vor mir. Mit vor der Brust gefalteten Armen sah er mich an. Ich überlegte, ob ich vielleicht etwas vergessen hatte, weshalb er so wütend aussah, aber mir fiel nichts ein. Als ich ihn danach fragte, interessierte er sich nur dafür, wo ich gewesen war. Ich gab ihm eine Antwort. Seine wütenden Blicke stachen mich am ganzen Körper. Ich schloß langsam die Tür und wollte gerade in mein Zimmer gehen, als er mich von hinten in den Rücken stieß, sodass ich gegen meine Zimmertür fiel, die noch nicht geöffnet war. Ich bemerkte, daß etwas Blut aus meiner Nase lief und wischte es mit meiner Hand, die ebenfalls weh tat, ab. Ich hatte das Gefühl, daß mein kleiner Finger gebrochen war. Ich habe ihn mir wohl verstaucht, als ich mich aufhalten wollte, als er mich gegen die Tür schmiss.
Als ich meine Tür öffnen wollte, hörte ich eine Frauenstimme. „Was ist denn los Schatz?“ Ich drehte mich um sah eine Frau, die etwa so alt war wie er. Sie hatte nur Unterwäsche an.
Mein Vater ging zu ihr und sagte: „Es ist nichts, meine Tochter macht mir nur wieder ärger“. Dann schob er sie wieder ins Schlafzimmer, wo sie immer noch in der Tür stand. Mein Vater drehte sich noch kurz um und warf mir einen wütenden Blick zu und schloß dann die Tür.
Ich ging ins Bad um mir das Blut von der Nase zu wischen. Im Spiegel erkannte ich, daß ich ein ganz blaues Auge hatte. Es tat zwar etwas weh, aber ich dachte nicht, daß man das auch sehen konnte. Jetzt wußte ich, weshalb Britta mir diese Frage stellte. Ich bekam plötzlich große Angst. Ich machte mir sorgen, wie ich das überschminken sollte. Ich musste ja morgen wieder zur Schule. Oder ob ich einfach zu Hause bleiben sollte. Wenn mein Vater das erfahren sollte, würde er mich umbringen. Verzweifelt schlich ich in mein Zimmer und schloss die Tür. Ich öffnete das Fenster und setzte mich auf die Fensterbank, die von dem Regen nass war. Es regnete bis in mein Zimmer. Es war mir egal. Ich konnte wegen des Nebels nicht bis auf die Straße sehen. Es würde ein Sturz in „Nichts“ werden. Aber was ist, wenn ich überlebe? Ich glaubte sogar, daß das der Fall sein würde. Wir wohnten ja nur im zweiten Stock. Es waren vielleicht zwei Meter. Ich konnte es nicht einschätzen. Aber wenn ich Kopfüber herunter fallen würde und dann noch auf dem Kopf falle, breche ich mir vielleicht das Genick und...
Alles klang so toll. Langsam richtete ich mich auf und hielt mich am Fensterrahmen fest. Dann beugte ich mich nach vorn. Ich schloss die Augen und ließ den Fensterrahmen los. Sofort danach spürte ich den Aufprall. Ich hatte kaum Schmerzen. Erst als ich aufstehen wollte schmerzte mein Rücken. Ich war plötzlich so wütend, daß ich losschrie. Dann kam ein Mann auf mich zu gerannt. Er fragte, wie es mir geht und sah sich besorgt mein blaues Auge an. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Sollte ich ihn anschreien, daß er mich in Ruhe lassen sollte? Aber er konnte ja nichts dafür, deshalb versuchte ich freundlich zu sein: „Ich weiß nicht, mir tut mein Rücken so weh“. „Kannst du aufstehen?“ fragte er mich und half mir hoch, nachdem ich etwas genickt hatte. „Ich bringe dich lieber ins Krankenhaus“, sagte der Mann besorgt. Ins Krankenhaus, nein danke. Dahin wollte ich jetzt auf gar keinen Fall. Der Mann gab, nachdem all seine Überredungskünste erfolglos blieben, nach. „Nagut, wenn du nun gar nicht willst. Zwingen kann ich dich ja auch nicht. Dann bringe ich dich in deine Wohnung. Das ist doch deine Wohnung, wo du aus dem Fenster gefallen bist, oder“? fragte er und zeigte auf das offene Zimmerfenster. Mir fiel auf anhieb keine passende Antwort ein um nicht wieder nach Hause zu müssen. Schließlich sagte ich: „Ja, das ist meine Wohnung, aber ich habe gar keinen Schlüssel und meine Eltern sind nicht zu Hause. Sie kommen erst morgen früh wieder“. „Dann komm mit, ich nehme dich mit zu mir nach hause. Du kannst hier ja nicht die ganze Nacht vor der Tür sitzen“, sagte der nette Mann daraufhin und wir gingen zu ihm nach Hause. Ich war mir nicht sicher, ober ich wirklich mit ihm mitgehen sollte. Aber der Mann war sehr nett. Ich glaubte nicht, daß er mir etwas tun würde. Also ging ich wortlos neben ihm her.
Wir standen vor einem großen weißen Haus. Es sah sehr schön aus. Der Garten gefiel mir besonders. Zumindest das, was ich im Dunkeln sehen konnte. Ich fragte ihn, ob das Haus ihm gehört, und er sagte: „Ja, mir und meiner Frau“. Er mußte also nicht gerade auf den Pfennig gucken. Also fragte ich ihn direkt, was er von Beruf sei. „Ich bin Arzt“, sagte er und lächelte mich von der Seite an.
Er half mir die Treppe hoch, die vor der Tür war. Er schob mich langsam vor sich ins Haus. Er zog seine Jacke aus und hing sie an die Garderobe. Ich hatte keine Jacke an, ich konnte ja auch nicht ahnen, daß ich kurze Zeit später bei einem fremden Mann zu Hause bin. Er führte mich ins Wohnzimmer und schaltete das Licht an. Dann sah er sich mein Gesicht an und sagte: „Du siehst ja fürchterlich aus. Warte einen Moment, ich hole etwas“. Ich saß auf dem Sofa und sah mich um. Es war wirklich ein sehr schönes Haus. Ein kleiner Vogelkäfig stand auf dem kleinen Tisch in der Nähe der Terrassentür. Der kleine blaue Wellensittich zwitscherte fröhlich durch den Raum. Der Mann kam mit einem kleinen Köfferchen zurück, den er sofort öffnete, als er ihn auf dem Wohnzimmertisch abstellte. Er reinigte meine Wunde am Kopf, die ich erst jetzt bemerkte. Sie blutete nur ein bißchen und tat überhaupt nicht weh. Sie war an meiner Stirn über dem linken Auge. „Wie ist denn das überhaupt passiert“? Fragte der Mann und sah mir in die Augen. Ich wich seinem Blick sofort aus. „Was meinen sie denn“? Fragte ich ihn, obwohl ich genau wußte, was er meinte. Er sah mich an und lächelte. Wieder sah ich weg. Dann sagte er: „Bist du aus dem Fenster gefallen“? „Natürlich, was dachten sie denn wohl“? antwortete ich frech, was mir im selben Moment auch leid tat. Ich sah ihn an und entschuldigte mich bei ihm. „Ist schon in Ordnung“, antwortete er und fragte wieder, wie das passiert sei. „Ich wollte eine Spinne nach draußen bringen und bin dabei abgerutscht, weil die Fensterbank vom Regen naß war“, antwortete ich und war stolz auf meine Ausrede. Sie schien glaubwürdig und ich glaubte er kaufte sie mir ab. „Das alles wegen einer kleinen Spinne, du bist wohl sehr tierlieb, was“? „Ich liebe Tiere. Sie hören immer zu, wenn man ihnen etwas erzählt“, sagte ich daraufhin und sah zu, wie er seine Sachen wieder in das Köfferchen räumte. Während er zur Tür raus ging, sagte er zu mir: „Ich höre dir aber auch zu“. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Ich kann ihm doch nicht meine Sorgen erzählen. Ich kenne ihn doch gar nicht. Und genau das sagte ich ihm, als er zurückkam. Doch sein Blick sagte mir, dass er es wirklich ernst meinte. Ich konnte es aber trotzdem nicht und sagte deshalb: „Ich habe nichts, wirklich.“ Er sah mich an. Ich wußte, er glaubte mir nicht. „Ok“, sagte er. Ich war froh, daß das Thema damit abgehakt war. „Wie heißt du eigentlich“? Fragte er mich dann. Nachdem ich ihm meinen Namen gesagt hatte, nannte er mir seinen. Er hieß Martin Nietsche. Ich sollte ihn Martin nennen, was mir eigentlich nicht so recht war. Ich kannte diesen Mann seit etwa einer Stunde und ich sollte ihn beim Vornamen nennen. Das tat ich nicht einmal bei Brittas Eltern und die kannte ich schon, seit wir in den Kindergarten gingen.
Martin stellte ein Gästebett für mich im Wohnzimmer auf. Dann brachte er mir eine Decke und ein Kissen. „Ich gehe jetzt ins Bett, wenn du Lust hast kannst du ja noch etwas Fern sehen“, sagte Martin und ich nickte. „Ich habe morgen frei, also können wir ja zusammen frühstücken, wenn du möchtest“. „Ja, ist gut. Vielen Dank“, antwortete ich und fing an mir die Schuhe auszuziehen. „Na dann, gute Nacht“, sprach Martin, lächelte kurz und verließ das Zimmer. Ich lächelte zurück. Dann zog ich das Hemd an, was er mir für die Nacht gegeben hatte.
Ich lag etwa eine viertel Stunde wach im Bett und dachte nach. Ich war froh, daß ich noch lebte. Ich hatte das Gefühl, daß es ein bißchen Hoffnung gab, daß ich einen Freund hatte, der mir vielleicht sogar helfen konnte. Das war ein tolles Gefühl.
Ich schlich mich leise zur Terrassentür und öffnete sie. Dann ging ich hinaus und setzte mich auf die Stufen, die in den Garten führten. Dann fiel die Terrassentür zu, was ziemlich laut war. Ich hoffte, daß Martin davon nicht wach würde, denn sein Schlafzimmer war genau mit dem Fenster zur Terrasse. Es war außerdem noch offen. Ich zog eine Zigarette aus der Schachtel, die ich immer dabei hatte und zündete sie an. Ich lehnte mich an die Mauer direkt neben der Treppe und schloss die Augen. Ich spürte den kühlen Wind, wie er mir durch die Haare wehte. „Rauchen ist aber gar nicht gesund“, sagte plötzlich jemand hinter mir. Ich drehte mich um und sah Martin an. Martin setzte sich neben mir auf die Treppe. „Kannst du nicht schlafen. War Fiffi zu laut in seinem Käfig? Fragte er und es sah so aus, als hätte er ein schlechtes Gewissen. „Nein“, beruhigte ich ihn, „er war ganz ruhig am schlafen.“ Martin stellte eine kleine Schüssel mit Milch auf die Steine. „In der Aufregung habe ich meine Katze ganz vergessen“, sagte er und wollte wieder zurück ins Haus gehen. „Ich gehe jetzt wieder ins Bett. Bleib nicht zu lange hier draußen, sonst holst du dir noch den Tod. Es ist sehr kalt.“ „Ja ist gut. Ich bleibe noch hier, bis die Kälte mich umgebracht hat.“ Er drehte sich um und sagte:“Und wenn es die Kälte nicht tut? Tut es dann wer anderes?“ „Keine Ahnung, mir egal“, antwortete ich. Er setzte sich wieder neben mir auf die Treppe und fragte mich, was das bedeutet. „Ach gar nichts“, antwortete ich, stand auf und wollte wieder ins Haus gehen, als er mich plötzlich am Handgelenk festhielt. Er faste mich an den Schultern und drehte mich zu sich um. Dann sahen wir uns beide an, aber keiner sagte etwas. Nachdem ich ihm mit meinen Blicken klar gemacht hatte, daß er mich loslassen sollte, tat er es und ich schlich langsam ins Haus. Ich hörte, wie er leise meinen Namen sagte, damit ich zurückkommen sollte, aber ich ignorierte ihn. Martin blieb noch eine ganze Weile auf der Terrasse und ich
beobachtete ihn. Er stand nur so da und starrte in die Dunkelheit. Nach einer halben Stunde etwa, kam auch er wieder ins Haus. Er schloß die Tür und kam an mein Bett. Ich tat so, als würde ich schlafen. Ich bemerkte, daß er an meinem Bett kurz stehen blieb, bevor er weiter ging.
Es roch nach frischem Kaffe, als ich aufwachte. Ich sah mich kurz um und stand dann auf. Auf dem Weg in die Küche kam mir ein kleiner Kater entgegen. Er kam sofort auf mich zu, als ich in die Hocke ging und meine Hand nach ihm ausstreckte. Martin kam dann aus der Küche, wodurch der Kaffegeruch noch stärker wurde. „Guten Morgen“, sagte er und streichelte dem Kater seinen Bauch, sodass er sich sofort auf den Rücken legte und alle Viere von sich streckte. Ich mußte etwas lachen. Martin sah mich an und sagte: „Das mag er gerne“. Ich streichelte ihn ebenfalls auf dem Bauch. Als sich unsere Hände berührten, nahm Martin meine Hand und fragte mich, ob ich gleich zum Frühstück komme. Ich sagte „ja“ und ging ins Bad.
Beim Frühstück redeten wir nicht gerade viel. Ich habe mich nicht getraut etwas zu sagen, weil ich Angst hatte, daß mir etwas raus rutschen könnte, was ich für mich behalten wollte. Plötzlich fiel mir ein, daß er erwähnte, daß Haus gehöre seiner Frau und ihm, aber ich habe seine Frau noch nicht gesehen. Ich hatte mich erst nicht getraut ihn danach zu fragen, denn es könnte ja sein, daß sie gestorben war. Es wäre mir sehr unangenehm. Trotzdem fragte ich ihn, denn die Stille war unerträglich. Ich erfuhr, dass sie mit ihrer Schwester ein paar Tage verreist war und erst in zwei Tagen zurückkam. Ich war erleichtert.
„Ich werde jetzt etwas joggen gehen. Möchtest du mitkommen“? Ich dachte ein paar Sekunden darüber nach und antwortete schließlich: „Ich würde gerne duschen, wenn das geht“? „Natürlich, kein Problem. Und nach dem Mittagessen bringe ich dich dann nach Hause, ja“? Ich wollte nicht nach Hause, aber ich wußte, daß ich nicht da herum kommen würde. „Ich kann das schon alleine. Sie brauchen nicht mitzukommen. „Während Martin seine Jacke anzog sagte er: „Ich möchte lieber mitkommen. Ich will mal mit deinen Eltern reden“. Was sollte das denn, dachte ich. Ich bin doch kein Baby mehr. „Was wollen sie denn mit meinen Eltern reden“? fragte ich interessiert. Martin sagte daraufhin: „Ich werde ihnen erzählen, was passiert ist, vielleicht schaffen sie es ja dich zu überreden doch mal zum Arzt zu gehen. Ich habe gar kein gutes Gefühl dabei. Immerhin bist du aus dem Zweiten Stock gefallen“. Mir fiel dann nichts mehr ein und sagte: „Ist gut, wenn sie darauf bestehen“.
Martin verließ das Haus und ich ging ins Wohnzimmer und zog mich an. Dann ging ich zur Tür raus. Ich hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen dabei, aber mir blieb ja nichts anderes übrig. Nach Hause wollte ich auf gar keinen Fall mehr. Ich stand nun draußen vor der Tür und wußte nicht wohin ich gehen sollte. Ich ging also die Straße hinunter in Richtung Innenstadt. Ich dachte keinen Augenblick daran, daß ich Martin begegnen könnte. Aber genau das geschah. Ich lief ihm fast in die Arme, als ich um die Ecke ging. Ich wußte im ersten Moment nicht, was ich tun sollte. Er sah mich an und fragte: „Wo willst du denn hin“? Mir fiel nichts Besseres ein als ihm zu sagen, daß ich nur ein bißchen spazieren gehen wollte. Ich wusste sofort, dass er mir nicht glaubte, aber ich tat trotzdem so, als würde ich es ernst meinen. Plötzlich fragte Martin mich: „Wovor hast du Angst, Sandra“? Vor meinem Vater, vor meinem Vater dachte ich, aber ich sprach es nicht aus. „Woher wissen sie, daß ich Angst habe? Ich meine wie kommen sie darauf“, verplapperte ich mich und hätte mich ohrfeigen können. Martin lächelte mich an, als wollte er sagen. So, jetzt habe ich dich erwischt. Was sollte ich jetzt tun? Wegrennen? Das wäre auch keine Lösung. Außerdem konnte ich nicht mein ganzes Leben lang weglaufen. Martin würde mir auch sicherlich hinterher rennen. Ich senkte den Kopf und konnte meine Tränen nicht mehr aufhalten. Ich fing fürchterlich an zu weinen. Mir war das sehr peinlich. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Sie purzelten einfach aus mir heraus. Martin nahm mich in den Arm. Als mich etwas beruhigt hatte, gingen wir langsam zu Martin nach Hause. Ich erzählte ihm dann alles. Ich hatte auf
einmal gar keine Hemmungen mehr mit Martin zu reden. Ich wußte, daß er mich verstand und für mich da war.
Ich war sehr froh und stolz auf mich, daß ich es ihm erzählt habe.
Martin begleitete mich nun doch nach Hause. Ich hatte kaum Angst. Das war das erste Mal, dass ich fast ohne Angst nach Hause ging. Martin nahm mich an die Hand, als wir Treppe zu der Wohnung hoch gingen. Ich zog meinen Schlüssel aus der Hosentasche. Martin sah mich an und schüttelte mit dem Kopf. Ich hatte ihn die ganze Zeit dabei. Ich wußte aber, daß er mir nicht böse war. Ich schloß die Tür auf und sah gleich den Zettel auf dem Tisch. Er macht sich wirklich die Mühe, mir eine Nachricht zu hinterlassen. Gespannt las ich den Zettel laut vor. „WIR HABEN UNS VERLOBT. SIND FÜR EIN PAAR TAGE VERREIST“. Ich mußte lachen. Er hatte jetzt eine Frau und bräuchte mich nicht mehr. Er würde mich in Ruhe lassen. Das war das Beste, was mir passieren konnte. Jetzt war der Horror vorbei.
Aber war er das wirklich?