Ein Tränentheorem
"Wir müssen etwas Besonderes sein", sinnierte der Regentropfen, "sind wir doch die einzigen für den Menschen erkennbaren Wasserwesen. So vielgestaltig unser Dasein mit all seinen Wandlungen ist, vom unsichtbaren Dahinschweben unserer Kleinsten bis hin zu unserer machtvollen Vereinigung in erdumspannenden Ozeanen - nie hat der Mensch einer einzelnen Daseinsform ein solches Interesse beigemessen."
"Das ist wahr", stimmte die Träne zu, "unserem Fallen muß eine besondere Bedeutung zukommen. Nur darin werden wir wahrgenommen und unverwechselbar für sie. Ich sage dir, wir könnten uns als schimmernde Feuchtigkeit nahezu unbemerkt versammeln, zum Beispiel an einem Wasserhahn. Erst wenn die Erdanziehung über unser Los entscheidet, dann fangen wir für einen kurzen Moment in ihrer Sicht zu existieren an. Nur als Zerrissenes haben wir die Kraft uns in ihr Bewußtsein einzuschleichen."
Das machten den Regentropfen noch nachdenklicher: "Liegt das an ihrer Wahrnehmung? Sie wissen um die Elemente des Lebens und es ist selbstverständlich für sie, von Wasser, Erde, Wind und Feuer umgeben zu sein. Offenbar haben sie, weil sie als einzelne Wesen so verloren und unbedeutend sind, ein besonderes Gespür für alles, was ihnen darin ähnlich scheint. Sie interessieren sich nicht für die unbegreiflichen immerwährenden Kreisläufe des irdischen Seins. Sie sehen das einzelne, kleine, vergängliche Etwas. Aus dem Feuer den verlöschenden Funken, vom einem Baum das herabschwebende Blatt, von Feuchtigkeit nur, was herunterfällt. Ob nun geregnet oder geweint, spielt dabei keine Rolle.
"Dennoch wäre ich gerne wie du", sagte die Träne, "dann hätte ich wenigstens die Möglichkeit, diesen Fall länger zu genießen."
"Dann solltest du dich von steilen Schluchten herunterweinen lassen oder aus Flugzeugen."
"Ja", sagte die Träne, "eine gute Idee! Können Kosmonauten weinen?"
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