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Ein Tränentheorem

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21.10.2001
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Ein Tränentheorem

"Wir müssen etwas Besonderes sein", sinnierte der Regentropfen, "sind wir doch die einzigen für den Menschen erkennbaren Wasserwesen. So vielgestaltig unser Dasein mit all seinen Wandlungen ist, vom unsichtbaren Dahinschweben unserer Kleinsten bis hin zu unserer machtvollen Vereinigung in erdumspannenden Ozeanen - nie hat der Mensch einer einzelnen Daseinsform ein solches Interesse beigemessen."

"Das ist wahr", stimmte die Träne zu, "unserem Fallen muß eine besondere Bedeutung zukommen. Nur darin werden wir wahrgenommen und unverwechselbar für sie. Ich sage dir, wir könnten uns als schimmernde Feuchtigkeit nahezu unbemerkt versammeln, zum Beispiel an einem Wasserhahn. Erst wenn die Erdanziehung über unser Los entscheidet, dann fangen wir für einen kurzen Moment in ihrer Sicht zu existieren an. Nur als Zerrissenes haben wir die Kraft uns in ihr Bewußtsein einzuschleichen."

Das machten den Regentropfen noch nachdenklicher: "Liegt das an ihrer Wahrnehmung? Sie wissen um die Elemente des Lebens und es ist selbstverständlich für sie, von Wasser, Erde, Wind und Feuer umgeben zu sein. Offenbar haben sie, weil sie als einzelne Wesen so verloren und unbedeutend sind, ein besonderes Gespür für alles, was ihnen darin ähnlich scheint. Sie interessieren sich nicht für die unbegreiflichen immerwährenden Kreisläufe des irdischen Seins. Sie sehen das einzelne, kleine, vergängliche Etwas. Aus dem Feuer den verlöschenden Funken, vom einem Baum das herabschwebende Blatt, von Feuchtigkeit nur, was herunterfällt. Ob nun geregnet oder geweint, spielt dabei keine Rolle.

"Dennoch wäre ich gerne wie du", sagte die Träne, "dann hätte ich wenigstens die Möglichkeit, diesen Fall länger zu genießen."

"Dann solltest du dich von steilen Schluchten herunterweinen lassen oder aus Flugzeugen."

"Ja", sagte die Träne, "eine gute Idee! Können Kosmonauten weinen?"

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Hallo Abyssal,

ein schöner Text, der mir gut gefällt. Vor allem der Vergleich des Regentropfens mit der Träne ist ungewöhnlich und äußerst fruchtbar. Mit der Träne verbinden sich viele Konnotationen, sie weckt daher im Bewusstsein des Lesers sehr viele Assoziationen, Erinnerungen an selbsterlebte oder fremde Situationen. Sie ist etwas Menschliches, eine lästige Begleiterscheinung unseres Gefühls, sie ist eine unbeherrschbare physische Reaktion, die das Leben in seiner gleichförmigen Regelmäßigkeit skandiert, markiert und darin Höhepunkte setzt. Tränen entstehen vor allem dann, wenn der Mensch seine "Fassung" verliert, sich nicht mehr verstecken kann unter der Maske aufgesetzter Gleichgültigkeit. Die Bedeutungspalette des Wortes "Träne" ließe sich noch endlos weiter ausdehnen. Eines jedoch haben sie an sich, die Tränen, sie sind flüchtig und verschwinden so schnell, wie sie entstehen. Und darin liegt die überraschende Pointe des Textes: Von steilen Schluchten herunter weinen, oder aus Flugzeugen, oder aus dem Weltall! Immer hinzugefügt, dass diese Tränen auf dem Erdboden, da, wo wir Menschen leben, ankommen und wahrgenommen werden. Von da aus könnte man jetzt weiter denken. Der Text wendet sich vermutlich gegen Oberflächlichkeit und mangelnde Sensibilität unserer Zeit.

Viele Grüße

Hans Werner

 

Ein ausgezeichneter und trotz seiner Kürze äusserst vielschichtiger Text. Zum einen sieht man natürlich die paralelle zwischen den Menschen und den Tropfen, als Geworfenheit des kleinen Partikels im riesigen Universum, zum anderen gibt es natürlich auch die besondere Verbindung zwischen der Träne und dem Menschen. Die Träne, sehnsüchtig, will aus grosser Höhe auf die Erde herabfallen, so wie der Mensch, sehnsüchtig nach einer Bedeutung jenseits seiner eigenen unmittelbaren, von der Erde "fallen" will um im Weltall zu schweben.
Ich Frage mich nur noch was der Titel bedeutet. Ist das Theorem womöglich die Antwort auf die Frage der Träne am Schluss? Also, "ja"? Womit wir also mit Sicherheit auf die chiasmische Entgegenwirkung von Mensch/Träne schliessen können die ich angesprochen habe. Q.E.D. ;)

 

Hallo Hans Werner und I3en

Gerade weil der Text mit sehr eingängigen und vertrauten Motiven arbeitet, wird er auch eine recht unterschiedliche Auslegung erfahren. Das ist auch ausdrücklich erwünscht.
Ich hatte nicht vor, hier eine isolierte Erkenntnis vorzugeben, vielmehr bin ich meiner eigenen Verwunderung nachgegangen, zu welch "sonderlichen" Ergebnissen diese Assoziationen mitunter führen. Setzen sich über das Regen-Tränen-Vergleichsmotiv gedanklich >fallende Tropfen< erstmal als Kriterium für Weinen fest, ist die Frage, ob Kosmonauten weinen können, eigentlich nur noch negativ zu beantworten. Seltsamerweise.
Zwar können wir uns durchaus einen von seinen Tränen umschwebten Menschen in der Schwerelosigkeit vorstellen, aber würde angesichts dessen unser Grundmuster - auf die Tränen anderer mit Anteilnahme zu reagieren - auch noch funktionieren? Wahrscheinlich würde diese Situation eher skurril sein.
Ihr seht, es liegt hier mehr eine assoziative Gedankenspielerei zugrunde, die nichts beweisen will, außer vielleicht, daß unsere Wahrnehmung so eng an den irdischen Gegebenheiten verhaftet ist, daß wir sie für gewöhnlich nicht zu hinterfragen haben. Tut man es doch, wundert man sich etwas, so wie die Träne vielleicht, die überrascht sein würde, daß das Fallen keine universale Gültigkeit besitzt.

Grüße Martin

[Beitrag editiert von: Abyssal am 05.12.2001 um 11:49]

 

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