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Ein verräterischer Traum
Ein Stein fällt mir vom Herzen: nur das Auto des Tankwarts steht hinter dem Schuppen, die Zapfsäulen ragen einsam aus der Wüste heraus. Langsam fahre ich heran, im Verkaufsraum ist niemand, wahrscheinlich ist der Tankwart hinten im Lager. Los, ich muss mir jetzt die Handschuhe anziehen und die Pudelmütze mit den Augenschlitzen über den Kopf streifen. Oh mein Gott, zittern meine Finger. Verdammt, ich will es nicht tun! Denk an Dasan! Nein, lieber nicht, nur daran, was ich jetzt als nächstes tun muss. Der Zettel, wo ist der Zettel? Ganz ruhig, er ist schon die ganze Zeit in der rechten Jackentasche. Na denn los, Autotür auf, Beine rausschwingen, die Spielzeugpistole in die Rechte, reingehen. Meine Güte, klingelt die Türglocke immer so laut? Da kommt der Tankwart aus dem Lager, den Arm voller Marshmallowspakete, Mann, ist der jung, hoffentlich will der nicht den Helden spielen. Er sieht mich, reißt die Augen auf – und fängt an zu lachen!
"Ha, was soll denn das werden?"
Fast hätte ich laut gerufen: 'Halt die Klappe, Geld her!', aber ich kann mich gerade noch beherrschen, ich will mich ja nicht mit meiner Stimme verraten. Also nehme ich die Pistole in die Linke, ziehe den Zettel mit den aufgeklebten Buchstaben aus der Tasche – hoffentlich merkt er nicht, dass das Papier ganz feucht wird.
"Momentchen mal, ich stelle eben die Kartons ab, dann kann ich die Hände hoch nehmen."
Wenn er mich nur nicht so überheblich angrinsen würde! Ich folge ihm hinter das letzte Regal.
"Hast du denn noch gar nichts davon gehört, dass die meisten Leute an Tankstellen mit Kreditkarte bezahlen? Ich habe kaum mehr als das Wechselgeld in der Kasse. Vielleicht einhundert Dollar."
Mist, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Ich könnte heulen! Gott sei Dank kann er mein Gesicht nicht sehen. Er stellt die Kartons ab, dreht sich um – und hat plötzlich einen 45er Colt in der Hand.
"Bist wohl Anfänger, was?" Sein Gesicht glänzt vor Schadenfreude.
Gaynor geht die Straße entlang. Seit Monaten hat er sich auf einen Einkaufsbummel gefreut – und jetzt kann er sich überhaupt nicht mehr auf die Auslagen konzentrieren. Statt der Pullover und Hosen sieht er in den Schaufenstern nur seine eigene, etwas vorgebeugte Gestalt. Dass er ein paar Kilo abgenommen hat, wirkt sich vorteilhaft aus, das passt zu seinem schlanken Gesicht. Ja, er sieht immer noch gut aus, nur ein wenig müde. Da blitzt das Spiegelbild eines Autos auf, er dreht sich erschrocken um. Wieso muss er immer wieder an diesen Alptraum denken? Ein mit Schlamm bespritztes Monster grinst ihm mit einem Riesenmaul entgegen, kommt immer näher und bevor es ihn verschlingt starrt ihn die Frau mit der riesigen Nase entsetzt an.
'Wieso habe ich bloß solche Angst vor Autos? Ich bin in der Autobranche! Was ist nur los mit mir?'
Entschlossen schüttelt er den Kopf, er hat sich noch nie viel aus Träumen gemacht, will endlich wieder ein normales Leben führen. Er beschließt, im Supermarkt gegenüber seine wichtigsten Einkäufe zu erledigen und dann wieder nach Hause zu gehen. Seine Augen suchen eine Fußgängerampel. Wieso nicht einfach über die Straße gehen, soviel Verkehr ist hier doch gar nicht?
'Ich kenne mich selber nicht mehr wieder', denkt er, während er auf den Knopf drückt, der die Autos anhalten soll. Wenn es nur einen solchen Knopf gäbe, um seine Ängste abzuschalten! Wird es denn irgendwann einmal grün? Er hasst es, zu warten. Endlich kann erlos gehen. Als er die Mitte der Straße erreicht hat, hört er links von sich einen Motor aufheulen, ein Sportwagen rast genau auf ihn zu. Vor Schreck bleiben sein Herz und seine Beine stehen. 'Wohin soll ich ausweichen? Bloß nicht in die falsche Richtung!'
Scheiße! Von seinem blöden Gelaber habe ich mich einlullen lassen. Aber das Schlimmste ist sein dämliches Grinsen. Abgesehen davon steht er in seinem ölverschmierten Overall da wie Gary Cooper in '12 Uhr mittags'! Er sieht ihm sogar ähnlich, wahrscheinlich ist er sogar ein ganz netter Typ. Ach ja, in den Filmen scheint alles immer so einfach zu sein. Jetzt kommt er auch noch auf mich zu, schubst mich mit dem großen Colt an.
"Du bist jetzt dran mit dem Hände-hoch-Spiel, Freundchen! Hast deine Knarre sowieso gerade in die Linke genommen, du Lusche."
Das Ganze scheint ihm richtig Spaß zu machen. Verdammt, so habe ich mir das nicht vorgestellt! Wie komme ich hier wieder heil raus? Ich lasse alles fallen, hebe langsam die Hände – packe den Colt und drehe ihn von mir weg. Ja, guckst du jetzt blöd, was? Doch so schnell gibt er nicht auf, reißt an der Waffe, wir stürzen gemeinsam in ein Regal, die Metallstangen und Konserven krachen auf den Boden, Marshmallows fliegen uns um die Ohren, ich klammere mich verzweifelt an den Colt, falle auf den Tankwart, wir wälzen uns über den Boden, meine Pudelmütze verrutscht, ich kann nichts mehr sehen – und plötzlich löst sich ein Schuss.
Bremsen quietschen, der Wagen kommt wenige Zentimeter vor Gaynor zum Stehen, Musik dröhnt aus den Lautsprechern, ein Jugendlicher beugt sich aus dem Fenster, grinst, ruft: "He Alter, mach mal Platz da!" und lacht.
'Alter? Ich bin erst 32', denkt Gaynor und wundert sich im selben Moment, dass er sich jetzt ausgerechnet darüber Gedanken macht. 'Ich sollte ihm eine passende Antwort geben. Aber mir fällt nichts ein. Lieber nicht aufregen, das schont das Herz!'
"Wird’s bald?", ruft der Halbstarke und lässt seinen Motor wieder aufheulen.
Einen Moment lang muss Gaynor überlegen, in welche Richtung er gehen wollte. Am anderen Straßenrand bleibt er erst einmal stehen, stützt sich an der Ampel ab, holt tief Luft und wartet, bis sich sein Herz wieder beruhigt.
'Mir reicht's!', denkt er. Mit wackeligen Beinen betritt er den Supermarkt. Seine Augen flitzen über die Regale, bleiben an Raviolidosen hängen, das Wasser läuft ihm im Mund zusammen.
'Ravioli? Aus Dosen? So etwas habe ich noch nie gegessen.' Er hält Ausschau nach Bambus- und Sojasprossen, doch die lassen ihn wider Erwarten kalt. Verwirrt schiebt er den Einkaufswagen weiter zur Tiefkühltheke und hält schließlich eine Pizza Margarita in der Hand. Während er darüber nachdenkt, ob er seinem Magen dies wirklich antun soll, drängelt eine Frau mit einer roten Igelfrisur und riesigen Ohrringen von der Seite heran und beugt sich über die Kühltruhe. Ihr T-Shirt spannt sich über ihrem durchtrainierten Bizeps, auf dem ein tätowierter Drache tanzt.
'Wie kann eine Frau nur so rumlaufen!', denkt er, will einen Blick in ihr Gesicht werfen, als sie sich aufrichtet. Vor Schreck fällt ihm fast die Pizza aus der Hand. Sie hat eine Nase wie Gérard Depardieu und er weiß sofort, woher er sie kennt.
Habe ich geschossen? Bin ich verletzt? Ich kann nichts sehen, nichts fühlen. Panisch reiße ich die Pudelmütze vom Kopf, taste meinen Körper ab, ich scheine o.k. zu sein, Gott sei Dank! Warum kann ich mich auf einmal wieder frei bewegen? Was ist mit dem Tankwart? Oh Nein! Er liegt da, rührt sich nicht, starrt mich nur erstaunt an. Verzweifelt schüttele ich ihn, höre mich schreien: "He, steh auf! Nein, das wollte ich nicht! Das war doch nur eine Spielzeugpistole! Es tut mir Leid! Verzeih mir! Verzeih mir!" Doch er bleibt stumm. Ich will gerade weinend meinen Kopf auf seine Brust legen, da sehe ich das Loch, kleiner als ein Penny, es sieht so harmlos aus. Unter Aufbietung all meiner Kraft drehe ich ihn um – er liegt in einer roten Pfütze, die immer größer wird. Ich springe auf, renne zu meinem Auto und gebe Gas. Bloß weg hier, schnell weg, bevor jemand kommt, bevor mein schlechtes Gewissen mich zu Boden drückt. Ohne auf die Geschwindigkeitsbegrenzung zu achten, rase ich über den Highway. Erst als es die Serpentinen an den Klippen entlang runter geht, muss ich langsamer fahren – und da fällt mir ein, dass ich das Geld vergessen habe! Scheiße! Alles mache ich falsch. Voller Wut und Verzweiflung haue ich auf das Lenkrad – und der Wagen schert nach rechts aus – auf den Abgrund zu.
'Das ist sie!', denkt Gaynor und fragt sich gleichzeitig, wie sie nur den Sprung aus seinen Alpträumen direkt hierher, neben die Kühltheke geschafft hat. Und warum ist er sich so sicher, dass sie es ist? Das muss er unbedingt herausfinden. Mit ihren mandelförmigen Augen und dem sinnlichen Mund sieht sie ganz gut aus, wäre da nicht dieses auffällige Geruchsorgan.
"Stimmt irgendetwas nicht?", fragt sie und runzelt die Stirn.
"Oh, sorry", stottert er und seine Gedanken überschlagen sich. 'Man starrt Leute doch nicht so an, sonst denkt sie noch, ich hätte etwas gegen ihre Nase. Schnell, ich muss irgendetwas Nettes sagen!'
"Kennen wir uns irgendwoher?", hört er sich fragen und als er ihren spöttischen Blick sieht, möchte er sich am liebsten auf die Zunge beißen. Das ist ja wohl die einfallsloseste Anmache, die es gibt!
"Ne, bestimmt nicht." Sie schüttelt den Kopf und schaut mich misstrauisch an.
'Wer ist sie bloß? Was hat sie mit meinem Leben zu tun? Wenn ich jetzt nicht Kontakt mit ihr knüpfe, sehe ich sie vielleicht nie wieder!'
Rums! Ich werde nach vorne geschleudert, ein starker Schmerz schneidet in mein Fleisch, mir bleibt die Luft weg. Ein paar Augenblicke lang hänge ich im Gurt, lasse die Augen geschlossen. Jeder Atemzug tut weh, das bedeutet, dass ich noch lebe. Warum nur? Ich habe es nicht verdient, möchte hier sitzen bleiben, im Erdboden versinken, mich auflösen. Doch dann hebe ich den Kopf und sehe das Meer vor mir, die gleichmäßigen Bewegungen der Wellen kümmern sich nicht um meine Verzweiflung. Selbst wenn ich gestorben wäre, würden sie weiter auf den Strand rollen und wieder zurück. Paradoxerweise beruhigt mich dieser Gedanke und ich steige aus. Die Salzluft prickelt in meinem Gesicht, der Wind zerzaust meine Haare, und bläst durch meinen verwirrten Kopf. Einen Moment lang genieße ich die Frische innen und außen, möchte alles vergessen. Ein paar Möwen segeln übers Wasser und sausen kreischend an den Klippen entlang. Wie sehr beneide ich sie! Dann reiße ich mich doch von diesem Naturschauspiel los und schaue mir den Schaden an. Das Auto ist gegen einen Steinpoller geknallt, hat ihn halb umgeknickt, die Stoßstange hat sich mit ihm verkeilt, das rechte Rad hängt in der Luft. Den Wagen kann ich vergessen. Irgendwie ist es mir egal. Alles ist schief gegangen. Die einhundert Dollar hätten Dasan sowieso nicht viel geholfen. Es bricht mir das Herz, daran zu denken. Ich stehe am Abgrund – im doppelten Sinne. Was kann ich jetzt noch machen? Die Aussicht raubt mir den Atem – oder ist es der Schmerz in meinem Herzen? Oder hat der Gurt mir das Schlüsselbein gebrochen? Die Felsen da unten sehen so winzig aus, selbst das Donnern der Wellen lassen sie mit Gleichmut über sich ergehen. Alles wirkt so klein und unbedeutend. Es wäre so einfach, jetzt nur einen Schritt zu machen. Sich fallen zu lassen, schweben, frei zu sein, in die ewigen Jagdgründe einzugehen ...
'Meine Güte, ich habe doch genug Charme, das kommt bei Frauen meistens gut an.' Er versucht sein strahlendstes Lächeln aufzusetzen. "He, der Drache auf deinem Arm ist ja wirklich echt heiß! Ich würde brennend gerne mal erfahren, was der zu bedeuten hat."
Das scheint zu wirken, sie wirft einen verlegenen Blick auf die angesprochene Stelle und hebt an zu erklären "Nun ja –"
"Halt, dazu müssen wir uns Zeit lassen. Menschenskinder, wir stehen hier beide mit unserer Pizza in der Hand, die ist doch gleich aufgetaut." Sie stimmt in sein Lachen ein, entspannt sich, beide legen ihre Pizzas in den Einkaufswagen.
"Also, ich lade dich zum Essen ein!"
Sie schaut ihn an, runzelt die Stirn, scheint noch zu schwanken.
"Ach komm schon, einfach nur ein bisschen quatschen. Du kannst dir aussuchen wann und wo." Er stimmt einen kameradschaftlichen Ton an und zwinkert mit den Augen.
"Na gut." Sie lächelt, zupft an ihrem T-Shirt herum.
'Mist', denkt er. 'Ausgerechnet, wenn ich es wirklich ehrlich meine, funktioniert es am besten! Wahrscheinlich ist sie froh, wenn sie mal eine Verabredung kriegt.' Nein, sie ist wirklich nicht sein Typ, aber er lächelt sie tapfer an.
"Kennst du die Pizzeria 'Mamma Mia' hier gegenüber?", fragt sie und ihre Augen irren unruhig hin und her.
Bei dem Wort 'Pizza' rebelliert sein Magen, aber ihm fällt gerade noch rechtzeitig ein, dass er kaum behaupten kann, etwas nicht zu mögen, was er vor ein paar Sekunden in seinen Einkaufswagen gelegt hat. Außerdem, wohin soll er eine solche Frau wohl sonst einladen?
"Nein, aber das Essen ist da bestimmt besser als dieses Tiefkühlzeug." Er legt seine Pizza wieder zurück. "Dann lass uns gehen!"
"Jetzt gleich?" Sie schaut ihn mit einem Blick an, in dem sich Erstaunen und Hoffnung mischen.
Nur noch ein kleines Lächeln, seine Stimme noch einmal vibrieren lassen, dann hat er gewonnen. "Du hast doch bestimmt Zeit, oder wolltest du mit deiner Tiefkühlpizza zur Arbeit fahren?"
Die Pizzeria entpuppt sich als Schnellrestaurant mit den üblichen Kunststofftischen und Neonlampen, selbst die Bedienung am Ofen wirkt eher mexikanisch als italienisch, aber der Pizzateig ist knackig, der Käse aromatisch und sogar die Paprika scheinen frisch zu sein. Dafür redet die Frau ihm gegenüber ohne Unterbrechung, selbst mit vollem Mund. Einerseits geht ihm das auf den Geist, anderseits ist er froh, nicht viel über sich selbst erzählen zu müssen, und so hat er Zeit, nachzudenken. An den richtigen Stellen lächelt und nickt er oder gibt ein paar anerkennende Phrasen von sich. Dafür braucht er sich nicht besonders anzustrengen, sie saugt jeden Hauch einer Anerkennung nur so auf, erzählt immer mehr, strahlt übers ganze Gesicht. Doch er versteht nicht, was er mit ihr gemeinsam hat, sie scheinen in zwei völlig anderen Welten zu leben. Zinnia heißt sie, der Name sagt ihm auch nichts. Der Drache ist das Markenzeichen ihrer Firma, sie verkauft Eiweißdrinks in Fitnesscentern, wo sie sich natürlich auch privat viel aufhält. Ein idealer Job für sie, einerseits ist sie das perfekte Model für ihr Produkt, andererseits bekommt sie genau dafür die Anerkennung, die ihr so wichtig zu sein scheint. Wahrscheinlich ist sie stolz darauf, so unweiblich zu sein und redet sich selber ein, auch ohne Mann klar zu kommen. Erstaunlicherweise liebt sie klassische Musik, allerdings nur die 'alten Russen, die so richtig auf die Pauke hauen'. Auch nicht sein Geschmack. Aber der hat sich ja auch gründlich geändert, jetzt schmeckt ihm sogar die Cola, die vor ihm steht. Zinnia begnügt sich mit Wasser.
"Und was machst du so?"
Er schreckt aus seinen Gedanken auf. "Ich – äh – handle mit Autos."
"He, geil! Welche Marke?" Ihr Gesicht hellt sich noch mehr auf.
"Deutsche."
"Ach, diese Umweltfanatiker bauen doch nur so langweilige Sparmodelle!" Sie winkt ab. "Am Wochenende fahre ich manchmal Rallyes."
Wieder mal haben sie ein gemeinsames Thema nur gestreift. Sie schiebt ihren leeren Teller zur Seite und steckt sich eine Zigarette an.
"Auch eine?"
"Nein danke." Früher hat er nach dem Essen ganz gerne ein Zigarillo geraucht, das ist auch vorbei.
"He, ich habe eine Idee!" Ihre Augen fangen an zu leuchten. "Hast du noch ein, zwei Stunden Zeit?"
Ein Kribbeln auf seinem Rücken scheint ihn vor irgendetwas warnen zu wollen, aber seine Neugierde siegt. Er nickt.
"Heute habe ich auch frei. Du hast mich zum Essen eingeladen, dafür lade ich dich zu einer Spritztour ein. Du wirst Augen machen, wenn du meine Karre siehst!"
Sein Magen dreht sich beinahe um. Wenn er nur an Autos denkt, bricht ihm schon der Schweiß aus. Aber wie soll er sich jetzt noch rausreden, nachdem er zugegeben hat beruflich mit Autos zu tun zu haben? Außerdem ist sie so in Fahrt, scheint ihn nicht wieder loslassen zu wollen. Und er spürt, dass sie kurz davor ist, ihm ihr Geheimnis zu verraten. Jetzt kann er unmöglich nein sagen.
"Du scheinst nicht gerade begeistert zu sein." Sie sieht ihn verwundert an.
Er lacht auf und hofft, dass es nicht zu gezwungen klingt. "Ich stehe nicht so auf Rallyes!"
"Keine Sorge, auf der Straße fahre ich sehr vorsichtig." Sie sieht ihn mit ernstem Gesicht an. Scheint es ehrlich zu meinen, warum will er ihr nicht so recht glauben? Plötzlich hat er eine Idee.
"Gut, aber ich bestimme, wohin wir fahren."
"O.k., auf geht's!" Sie lächelt und springt sofort auf.
Während sie zu ihrem Auto gehen, zählt sie auf, wie viele Rallyes sie schon gewonnen hat, dass sie schon mit vier Jahren hinter dem Steuer eines Gokarts saß – und bleibt vor einem schwarzen Mud Monster stehen. Natürlich, Mud ist Schlamm und das Schlammmonster aus seinen Albträumen ist genau dieser Autotyp!
Nein, ich kann nicht springen! Das wäre feige. Und vielleicht kann man mir nichts beweisen, ich habe keine Fingerabdrücke hinterlassen. Stimmt, ich habe ja noch die Handschuhe an. Also streife ich sie ab und werfe sie die Klippe hinunter. Sie flattern im Wind und bleiben an einem Gebüsch hängen. Also, alle Beweismittel verschwunden. Ich hatte einfach einen kleinen Autounfall, ich kann ja sagen, dass ich schon lange hier fest hänge. Überhaupt, wie lange stehe ich hier schon rum? Langsam bekomme ich Durst. Hätte ich doch wenigstens eine Cola mitgenommen! Ich will nur noch nach Hause. Hoffentlich kommt bald jemand vorbei, der meine Karre hier rausziehen kann. Das ist wirklich eine verdammt einsame Strecke hier. Klar, die Aussicht ist toll, aber die meisten fahren doch lieber über den Highway. Ich laufe auf und ab, beobachte, wie die Schatten an den Felswänden entlang weiter wandern. Die verschiedenen Gesteinsschichten verlaufen hier fast senkrecht. Einige müssen Millionen von Jahren alt sein. Es könnte wunderschön sein – wenn ich mich darauf konzentrieren könnte. Da - ist das nicht ein Motorgeräusch? Es reißt mich aus meinen Träumen, ich drehe den Kopf, ein Mercedes biegt um die Ecke, kommt näher. Ich springe auf, stelle mich an den Straßenrand, winke. Aber wenn der Fahrer des Wagens schon von der Sache mit dem Tankwart weiß, was mache ich dann?
"Na, was sagst du dazu?", fragt Zinnia und strahlt über das ganze Gesicht.
Gaynor dreht sich zu dem hohen Pick up um, so dass sie nicht sieht, wie entsetzt er ist. Er tut so, als bewundere er die dicken Spezialreifen, mit denen man auch im dicksten Matsch nicht stecken bleibt.
"Da bist du platt, was?" Zinnia hat Recht, aber nicht in dem Sinne, wie sie denkt. Seine Albtraum-Frau vor seinem Albtraum-Auto, das kann doch kein Zufall sein! Wieso ist er sich so sicher, dass das unauffällige Schwarz nicht passt, dass vorne ein großes Maul aufgemalt sein müsste? Obwohl ein ganzer Chor von Alarmglocken in seinem Inneren schellt, wird Gaynor von diesem Auto magisch angezogen, er kann nicht anders, er tritt näher und fährt mit den Fingerspitzen über den Kotflügel. Tatsächlich, es fühlt sich körnig an und der Lack glänzt wie neu. Der Wagen ist erst vor kurzen überlackiert worden und zwar nicht gerade professionell.
"Beeindruckend", bringt er mit Mühe hervor.
"Komm, steig ein, er ist bequemer als ein Jeep!"
Von seinen Autos ist er anderes gewöhnt und seine Knie zittern. Aber Zinnia fährt äußerst defensiv, schaut bei jedem Überholmanöver dreimal in den Spiegel, biegt äußerst behutsam um jede Kurve.
"Na, wie gefällt dir der Wagen?" Sie schaut ihn wieder an wie ein kleines Kind, das von seiner Mutter gelobt werden will.
"Er liegt gut in den Kurven, bringt eine satte Leistung und ist erstaunlich bequem."
Mit einem Strahlen im Gesicht fragt sie: "Und, wo soll's jetzt hingehen?"
"Zu den Klippen."
Schlagartig wird sie blass, das Entsetzen in ihrem Gesicht ist das gleiche, das er so oft in seinem Traum vor Augen hatte.
Gaynor wundert sich über gar nichts mehr.
"Ach, lass uns doch lieber durch die Wüste fahren, da kann ich richtig Gas geben." Ihre Stimme klingt plötzlich belegt.
"Die Serpentinen sind doch eine echte Herausforderung, da kannst du zeigen, was in der Kiste steckt. Geradeaus fahren kann doch jedes Auto." Er fühlt, dass er nahe am Ziel ist, sein Jagdfieber ist geweckt.
Zinnia schluckt, offensichtlich fällt ihr keine Ausrede ein. Sie sagt gar nichts mehr, raucht nur noch eine nach der anderen. Er schaut aufmerksam auf den Straßenrand, hinter einer Kurve taucht endlich das Kreuz auf.
"Würdest du hier bitte anhalten?", fragt er.
"Was, ausgerechnet hier?" Zinnia zuckt zusammen. "Wo soll ich hier halten? Das ist zu gefährlich."
"Da vorne ist doch eine Parkbucht."
Wiederstrebend hält sie an, ihr rechtes Auge zuckt. Plötzlich hat Gaynor eine Idee, es gibt eine Möglichkeit, wie alles zusammen passen könnte, auch wenn es unglaublich ist. Sein Herz klopft ihm bis zum Hals.
Ach, soll er mich doch anzeigen, ich habe es verdient, habe nicht nur mein Leben versaut, sondern auch das des Tankwarts beendet. Der Mercedes kommt näher, der Fahrer ist ein älterer Herr im Anzug. Er schaut mich verächtlich an – und saust vorbei. Dieser arrogante – typisch Mercedesfahrer! Mist, jetzt hänge ich hier immer noch fest. Was soll ich nur machen? Weil mir nichts Besseres einfällt, setze ich mich noch einmal ins Auto, drehe den Zündschlüssel um – ein Glück, er springt an! Ich lege den Rückwärtsgang rein und gebe Gas. Der Wagen schlingert, aber hängt weiter fest. Hat er Vorderradantrieb? Aus lauter Verzweiflung prügle ich wieder auf das Lenkrad ein, bis meine Hände schmerzen. Dann lasse ich meinen Kopf hängen und meinen Tränen freien Lauf. Ich halte es nicht mehr aus! Irgendwann bleibe ich erschöpft liegen. Mein Mund ist völlig ausgetrocknet und Hunger habe ich inzwischen auch. Die Schatten werden immer länger, es wird bald dunkel. Ich muss hier endlich weg! Was ist das für ein Geräusch? Ist das nicht ein Auto? Ich springe aus dem Wagen. Diesmal wird er nicht so einfach an mir vorbei sausen! Das tiefe Dröhnen wird lauter, wenigsten nicht wieder so ein Schickimicki-Auto. Wahrscheinlich ein Truck, die Fahrer sind meistens hilfsbereiter. Aber um ganz sicher zu gehen, dass er anhält, laufe ich ihm in der Mitte der Fahrbahn entgegen. Da kommt er um den Felsen herum, ein Mud Monster, vorne ist ein grinsendes Maul aufgemalt. Oh, er ist schneller, als ich dachte! Ich springe nach rechts – und das Auto weicht ebenfalls nach rechts aus!
Gaynor geht die paar Schritte zurück, Zinnia bleibt ein paar Schritte hinter ihm. 'Sanuye Roth' steht auf dem kleinen Holzkreuz und darunter: '5.5.1988 - 13.10.2004'. Sie war noch nicht einmal siebzehn. Ein paar verwelkte Blumen liegen daneben. Gaynor bedauert, selber keine Frischen mitgebracht zu haben.
"Kanntest du sie?", fragt Zinnia mit belegter Stimme.
Er schüttelt den Kopf, dann schaut er ihr direkt in die Augen. "Und du?"
"Nein", sagt sie, dreht sich um und geht zum Auto zurück. "Lass uns weiterfahren, ich mag keine Kreuze am Straßenrand."
"Ist es nicht eher so, dass dir speziell dieses Kreuz hier unangenehm ist?" Seine Stimme hat einen drohenden Unterton.
Abrupt dreht sie sich um und starrt ihn an.
"Hatte dein Mud Monster vor einem halben Jahr nicht noch einen wilden Anstrich mit einem großen Maul vorne?"
Langsam kommt sie wieder zurück. "Woher willst du das wissen?"
Er seufzt. "Das würdest du mir ja doch nicht glauben."
"Wieso? Hast du mich damals gesehen und seitdem gesucht?"
"Ach so, nein!" Er lacht kurz auf, dann wird er sofort wieder ernst. "Ich habe es geträumt."
"Wie bitte?" Sie schaut ihn mit zusammengekniffenen Augen an. "Hast du öfter solche Träume?"
"Erst seitdem ihr Herz für mich schlägt."
"Spinnst du? Sie ist tot!"
Gaynor legte eine Hand auf seine Brust. "Es ist hier drin."
"Jetzt bist du wohl total durchgeknallt?" Sie beugt ihren Kopf zurück.
"Ich habe dir doch gesagt, dass du mir nicht glauben wirst." Er seufzt noch einmal und knöpft sein Hemd auf.
"Willst du jetzt hier ein Striptease - ?" Dann sieht sie die Narbe, die sich von oben über das Brustbein zieht.
"Ich habe ihr mein Leben zu verdanken."
Zinnia starrt mit großen Augen darauf. Ein paar Sekunden lang hört man nur die Möwen kreischen. Er zieht sich wieder an. Sie schluckt, er kann regelrecht sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitet. Langsam klärt ihr Gesicht sich wieder.
"Jetzt kapiere ich so einiges. Dann hast du die Leukämiebehandlung für Sanuyes Schwester Dasan bezahlt, stimmt's?"
Gaynor nickt.
"Wie kannst du dir das als Autoverkäufer bloß leisten?"
"Habe ich behauptet, dass ich ein einfacher Autoverkäufer bin? Und woher weißt du das überhaupt?"
"Ich habe ihrem Bruder einen Job in einem Fitnesscenter besorgt."
Plötzlich breitet sich ein herausforderndes Grinsen auf ihrem Gesicht aus. "Aber Dasan hat dir bestimmt nicht erzählt, dass ihre Schwester eine Mörderin war!"
Er schaut sie entsetzt an. "Was?"
"Tja, du hattest damals wohl etwas anderes zu tun als Zeitung zu lesen. Sie hat kurz vorher eine Tankstelle überfallen und den Besitzer kaltblütig erschossen."
"Nein!" Gaynor wird blass. Genau dies schien Zinnia besonders zu freuen.
"Tja, das passt wohl nicht in deine Vorstellung von deiner angeblich so edlen Retterin, was? Es wäre ja auch zu schön gewesen, armes Indianermädchen spendet ihr Herz an reichen Weißen, dafür rettet er ihrer Schwester das Leben. Pah, so eine Schnulze!"
"Was soll das jetzt?" Gaynors Gesichtsfarbe wechselt ins Rötliche. "Ich kann doch nichts dafür, wenn irgendjemand sich keine Krankenversicherung leisten kann! Aber du hast Sanuye einfach liegen lassen. Schon mal das Wort 'Fahrerflucht' gehört? Mit einem Gefallen für ihren Bruder kannst du das nicht wieder gut machen." Er kneift die Augen zusammen und deutet mit dem Zeigefinger auf Zinnia.
"Erstens einmal lief sie mir hinter einer Kurve mitten auf der Straße entgegen –"
"Das kann jeder behaupten!"
"Und genau deshalb bin ich nicht zur Polizei gegangen!" Zinnia stemmt die Hände in die Hüften und ihre Stimme wird lauter. "Ich will auf keinen Fall meinen Führerschein verlieren oder gar in den Knast wandern! Damit wäre ich meinen Job los und mein Leben wäre ruiniert. Und außerdem dachte ich, sie wäre schon hier gestorben!"
"Bist du Ärztin? Vielleicht hätte sie noch gerettet werden können." Auch er wird jetzt lauter.
Sie runzelt die Stirn. "Was willst du überhaupt von mir? Schließlich hast du MIR dein Leben zu verdanken!"
Er starrt sie fassungslos an. Sie kommt immer näher, ihre Augen funkeln, sie ballt die Fäuste und ihr Bizeps zuckt. Plötzlich fällt ihm ein, dass hinter ihm ein Abgrund gähnt. Und diese Frau hat schon einen Menschen getötet! Kann er sich wehren? Würde er sie im Notfall hinunter stoßen? Er trägt immerhin das Herz einer Mörderin in der Brust!
Ein Aufprall, ich werde durch die Luft geschleudert, schlage auf dem Boden auf, einen Augenblick ist alles schwarz um mich herum, ich spüre meinen Körper nicht mehr, will nur noch schlafen, aber dann ist da diese schrille Stimme, die mich wieder weckt: "Mein Gott! Oh Nein!"
Ich muss all meine Kraft aufbringen, meine Augen noch einmal zu öffnen. Warum lässt diese Frau mit der riesigen Nase mich nicht endlich in Ruhe?
"Das wollte ich nicht! Es tut mir so Leid!"
Diese Worte berühren mich, erinnern mich an irgendetwas – was war es bloß? Ich kann mich nicht erinnern, aber ich muss antworten, es scheint wichtig für sie zu sein.
"Schon gut", flüstere ich, das Sprechen strengt mich an, ich bekomme kaum noch Luft. "... nicht ... deine ... Schuld."
'Warum muss ich sie ausgerechnet hier, neben dem Kreuz, am Abhang, provozieren?', denkt Gaynor. 'Verdammt, was mache ich jetzt bloß? Wie komme ich hier wieder heil raus?'
Plötzlich hört er sich sagen: "Schon gut, es war nicht deine Schuld!"
Er ist völlig verblüfft, welche Wirkung diese Phrasen auf Zinnia haben. Ihr Gesicht scheint zu zerfließen, ihre Arme sinken herab, alle Anspannung ist wie weggeblasen.
"Das möchte ich selber so gerne glauben!", schluchzt sie, lässt den Kopf hängen, verdeckt das Gesicht mit den Händen. Beim Anblick dieser durchtrainierten Schulter, die hilflos zucken, kann er nicht anders, er nimmt sie in die Arme.
Schritte ... ein Automotor - wird leiser ... endlich alleine ... eingehüllt, geborgen, sinke immer tiefer ... sterbe ich? ... Wellen tanzen auf und ab ... friedlich ... Tatütata ... ich werde aufgehoben ... Warum darf ich nicht weiter sinken? ... Irgendetwas wird mit meinem Körper gemacht .... Ist es noch mein Körper? ... Was habe ich mit dieser Hülle noch zu tun? ... zerschnitten, zerstückelt ... Ein Teil wird abgetrennt, woanders hingebracht ... unbekannte Erinnerungen ... verwirrende Gefühle ... fremde Gedanken ... Wo bin ich? ... Wer bin ich? ... ich muss mich erinnern ... Frau ... große Nase ... Auto ... Monster ... Frau ... Nase ... Auto ... Monster ...