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Eine andere Sicht

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29.01.2010
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Eine andere Sicht

Ausgeruht fühlte sich Hugentobler an diesem Morgen nicht. Die Verärgerung über seinen Hausarzt, welcher ihm eine psychiatrische Behandlung nahelegte, hatte ihn lange wach gehalten. Seine Gedanken kreisten um das Gefühl, welches ihn verunsicherte und er vergeblich versuchte loszuwerden. Dabei begann es völlig harmlos, ein leichtes Kribbeln im Kopf, das sporadisch auftrat. Sein Coiffeur, dem gegenüber er es erwähnte, hatte ihm zwecks besserer Durchblutung zu Kräutershampoo und Kopfmassage geraten. Zwar tat dies im Moment wohl, doch das Gefühl des Kribbelns, wie wenn Ameisen in breiter Front darin marschierten, stellte sich wieder ein. Dr. Müller, seinen Hausarzt, hatte er ungern wegen einer solchen Lappalie aufgesucht. Dieser diagnostizierte eine Form von Kopfschmerz. Nachdem das Symptom auf die verordneten Präparate auch nicht ansprach, hatte er eine klinische Untersuchung im Spital veranlasst. Die verschiedenen Abklärungen, darunter neurologische und psychologische Tests, waren ergebnislos verlaufen. Selbst Stromstösse, denen man ihn ausgesetzt hatte, änderten nichts an seinem Zustand.
Dr. Müller meinte, jetzt bliebe nur der Weg zum Psychiater. In solchen Belangen arbeite er vorzugsweise mit Frau Dr. Wildermuth, eine auf Psychosomatik spezialisierte Fachärztin, zusammen.
«Ich bin doch nicht verrückt!» Aus Hugo Hugentobler, der erst sprachlos gewesen war, brachen die Worte impulsiv, beinah schreiend hervor. Er war ausser sich, bebte sichtlich.
«Beruhigen Sie sich. Von verrückt kann keine Rede sein.»
«Was soll ich dann bei einer Irrenärztin?»
«Frau Doktor Wildermuth ist keine Irrenärztin!» Diese Worte hatte Müller scharf ausgesprochen. Er wartete, bis sich Hugentoblers emotionaler Ausbruch legte, und hatte dann in seiner üblichen, milden Tonlage erklärt: «Der Mensch ist ein sehr komplexes Wesen, was in seinem Innern manchmal zu völlig irrationalen Komplikationen führen kann. Hierbei treffen seelische und körperliche Komponenten aufeinander, die aus nicht immer offensichtlichen Gründen eine Disharmonie auslösen. Dies kann durch verschiedenste Formen von Überforderungen auftreten, etwa Anspannungen im Privatleben oder im Beruf. Doch auch Einsamkeit oder Rastlosigkeit könnten die Ursache sein. Ich will mich hier nicht festlegen, da es rein spekulativ wäre. Gewissheit kann nur eine entsprechend gründliche Untersuchung bringen. Wenn solche Symptome sich nicht in einem bestimmten Zeitraum selbst auflösen und keine körperliche Ursache feststellbar ist, findet man oft über eine psychosomatische Behandlung Zugang zu diesen Leiden und kann sie beheben.»
«Aber ich habe keine seelischen Probleme und bin nicht einsam oder mehr Anforderungen ausgesetzt als andere Leute auch. Da es nur Kopfschmerzen sind, braucht es doch keinen Psychiater!»
Müller liess sich nicht beirren. «Wie ich bereits ausführte, gibt es reaktiv körperliche Störungen, die ihre Ursache in der Psyche haben. Vergleichsweise waren manche Formen von Lähmungserscheinungen so heilbar, ohne dass diese Patienten psychische Auffälligkeiten zeigten. Ich will Sie nicht drängen, aber überlegen Sie es sich. Wir können zum jetzigen Zeitpunkt sicher noch etwas zuwarten, eine maligne Veränderung im Hirn konnte ja ausgeschlossen werden. Doch zögern Sie nicht zu lange, wenn es chronisch wird, erschwert es eine Behandlung massiv.»
Hugentobler fühlte sich stark verunsichert. Die Vorstellung, eine Psychiaterin aufzusuchen, hatte bei ihm ein panisches Gefühl ausgelöst. Mit einer rein körperlichen Diagnose hätte er sich abgefunden, aber mit einer Geisteskrankheit oder so etwas, nein, ein solches Eingeständnis erschien ihm untragbar. «Ich werde es mir überlegen», entgegnete er Dr. Müller. Insgeheim dachte er, ganz bestimmt nicht! Mit dem bisschen Kribbeln kann ich durchaus leben.

Seinen Kaffee bereitete er nach dieser alptraumartigen Nacht besonders stark zu, bitter im Geschmack, wie er beim ersten Schluck bemerkte. In der Hoffnung, es werde die Müdigkeit als auch die belastenden Gedanken vertreiben, trank er vier Tassen des Gebräus.
Im Treppenhaus begegnete ihm eine Nachbarin. Diese kam von unten ihm entgegen, die Morgenzeitung in der erhobenen Hand. Sie grüssten einander bereits aus Distanz. Sein Blick fiel auf die Zeitung, die Schlagzeile fixierend: „Konrad Adenauers erster Staatsbesuch in Italien …“ Die Schrift verschwamm vor seinen Augen und einen Moment sah er gar nichts mehr. Als sich seine Wahrnehmung wieder klärte, blickte er direkt auf die nackten Brüste seiner Nachbarin. Die eine Hand erhoben, nun leer, in der sie vorher die Zeitung getragen hatte.
«Ist Ihnen nicht gut, Herr Hugentobler?» Frau Arbenz schaute ihn besorgt an.
Da erst merkte er, dass er schwankte, als ob eine Kreislaufschwäche über ihn gekommen wäre. Er griff sich an den Kopf und rieb sich die Augen. Unter der Schädeldecke, es lag tiefer, als er bisher meinte, war das Kribbeln stärker als sonst. Die Nachbarin stand tadellos bekleidet mit einer rosafarbenen Bluse vor ihm, die Zeitung in der Hand. Mit der andern Hand stützte sie ihn, wohl in der Befürchtung er könnte stürzen.
Hugentobler fühlte sich benommen. «Entschuldigen Sie bitte, Frau Arbenz, es muss der Kreislauf gewesen sein», bemerkte er, ohne sie direkt anzusehen. Hastig und beschämt stürzte er die Stufen hinab, diese Halluzination hatte ihn völlig aus der Fassung gebracht.
Auf dem Weg zur Arbeit überlegte er noch, ob es nicht besser wäre umzukehren, sich krankmelden. Doch dies widerstrebte ihm. Er schob die Halluzination und das kurze Unwohlsein auf die Müdigkeit ab, in Kombination mit der Wirkung des überdosierten Koffeins. Die Erinnerung an diesen suspekten Moment liess ihn kurz auflachen, wenn Frau Arbenz geahnt hätte, was er an ihr erblickte. Er fühlte sich entspannter, obwohl das Kribbeln noch leicht vorhanden war. Unangenehm war es ja nicht, dieses Bild, das er sich von ihr machte. Sie war zwar nicht mehr die Jüngste, aber attraktiv hatte sie schon immer auf ihn gewirkt. Die verblassende Erinnerung gab ihm zusehends ein beschwingtes Gefühl, er hätte länger hinsehen, es sich einprägen sollen.

Für den Samstagabend verabredete sich Hugentobler mit Agnes Haag, einer Arbeitskollegin, die auch alleinstehend war, zu einem Kinobesuch. Im Rex brachten sie „Der Reigen“ von Max Ophüls, der mit Simone Signoret, Serge Reggiani und andern bekannten französischen Stars als unbedingt sehenswert angepriesen war. Der Andrang von Besuchern war, wie für das Wochenende gewohnt, gross, doch sie hatten sich frühzeitig eingefunden, da an Samstagabenden immer vor Filmbeginn die Plätze bereits ausverkauft waren.
Gebannt starrte er auf die Leinwand. Er fand Simone Signoret in der Rolle als Dirne eine faszinierende Frau, die Musik untermalte noch die Handlung. Dass sich bei ihm das Kribbeln einstellte, merkte Hugentobler gar nicht, da die Handlung ihn gefangen nahm. Irgendwann wurde das Bild einen Moment unscharf, als wären seine Augen überanstrengt und durch Tränen verschwommen, dann wurde es wieder klar. Erschrocken schaute er nach vorn, die Dirne war völlig unbekleidet. Ebenso andere Personen, die ins Spiel kamen. Er kniff die Lider zusammen, doch die Bilder blieben, ein Film von Nackten. Peinlich berührt schaute er vorsichtig zu Agnes, die gebannt auf die Leinwand sah. Als er seinen Blick an ihr hinabgleiten liess, war er fassungslos. Sie sass unbekleidet neben ihm, ebenso die Leute in der gleichen Reihe. Ein Schwindelgefühl erfasste ihn. Ich muss verrückt sein! Rasch stand er auf und drückte sich an der Reihe murrender Leute vorbei, ohne diese anzusehen, verliess er fluchtartig den Kinosaal.

Am Montagmorgen, es war ihm klar, er musste Agnes um Entschuldigung bitten, betrat er mit gemischten Gefühlen das Unternehmen. Er war früh dran, glücklicherweise war Agnes noch nicht anwesend, als er an ihrem Arbeitsplatz vorbeikam. Hinter seinem Pult in der Buchhaltung verkrochen, ein Stapel Papiere vor sich, versuchte er sich auf die Zahlen zu konzentrieren. Doch noch immer rang er nach den Worten, mit denen er sich Agnes erklären könnte. Eine plötzliche Übelkeit, die mich veranlasste wortlos hinauszurennen. Doch wie erkläre ich, dass ich nicht draussen wartete, bis die Filmvorführung vorbei war? Ich liess sie einfach sitzen …
Hugentobler stöhnte auf, es klang alles so unglaubwürdig.
«Ist Ihnen nicht gut, Herr Hugentobler?» Es war der Lehrling, der vor seinem Pult stand, Papiere in der Hand.
«Nein, nein, ich war nur in Gedanken bei einem Problem.» Er hatte weder bemerkt, dass die andern Mitarbeitenden inzwischen anwesend waren, noch ihr Grüssen gehört. Mit verlegenem Lachen hob er die Hand, um die Papiere entgegenzunehmen, die ihm der Lehrling hinhielt.
Vorsichtig schielte er in die Richtung, in der Agnes ihren Arbeitsplatz hatte. Die Räume waren durch Glasscheiben getrennt, sodass er sie auf Distanz erblicken konnte. Sie sass vor ihrer Schreibmaschine, Korrespondenzen erledigend. Auch wenn sie sich mal erhob, um einen Ordner aus einem Regal zu holen, vermied sie es tunlichst, zu ihm herüberzusehen. Sie ist zutiefst beleidigt und das mit Recht. Er fühlte sich unglücklich, ja richtiggehend elend. Sie waren zwar nicht intim befreundet oder liiert, es hatte sich einfach ergeben, dass sie immer öfter etwas zusammen unternahmen. Für beide brachte dieses ungezwungene Zusammensein eine Abwechslung. Es würde ihm fehlen, wie ihm nun bewusst wurde, wenn sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Abrupt stand er auf.

«Agnes, ich muss mit dir sprechen.» Nervös stand er neben ihrem Schreibtisch, sich nicht klar, wie er beginnen sollte.
«Guten Morgen, ist ja wohl das Mindeste, was ich erwarten darf», bemerkte sie spitz.
«Entschuldige bitte. Selbstverständlich, guten Morgen.» Er fuhr sich zerfahren mit der Hand über den Kopf. «Ich bin völlig durcheinander, weiss nicht, wie ich es dir erklären soll … das, was samstags passierte.»
«Du meinst, was mir geschah?» Ihre Augenbrauen hatte sie demonstrativ in die Höhe gezogen, während sie ihn von ihrem Stuhl aus von unten ansah.
«Ja natürlich, … was ich dir antat … aber … Es ist so schrecklich.» Zum zweiten Mal an diesem Tag stöhnte Hugentobler laut auf, was auch andere Mitarbeitende vernahmen und neugierig herüberblickten. «Es klingt völlig verrückt und hat überhaupt nichts mit dir zu tun, weshalb ich weglaufen musste.»
Agnes war es peinlich, da die andern Mitarbeitenden auf sie aufmerksam wurden und bestimmt die Ohren spitzten. Anderseits verunsicherte es sie jetzt, was mit Hugo los war. Er war immer nett und korrekt gewesen, insgeheim dachte sie sich manchmal gar zu korrekt. Sie hatte auch schon überlegt, den ersten Schritt zu tun. Wäre er am Samstagabend nicht davongelaufen, ihre Absicht war auf jeden Fall vorhanden, der Film hatte sie erst noch animiert. Nein, dieses Verhalten hatte überhaupt nicht zu ihm gepasst. «Wir können uns in der Mittagspause unterhalten», ihre Worte klangen immer noch etwas spitz, aber doch mit einem Ton von Unsicherheit.
«Danke, Agnes, dass du mich anhörst. Also bis mittags.» Hugentobler fühlte sich erleichtert. Nicht, dass sein Problem dadurch geringer wurde, wie er es ihr erklären sollte, aber sie gab ihm überhaupt eine Chance dazu.

Sie hatten sich belegte Brote besorgt und spazierten wortlos am Seeufer entlang. Auf einer freien Parkbank liessen sie sich nieder, um zu essen.
Nach dem letzten Bissen fing Hugentobler an, zu sprechen. «Es begann alles so harmlos.»
Agnes schaute ihn irritiert an, meinte er sie beide damit?
«Es war ein Kribbeln in der Kopfhaut unter dem Haaransatz. Anfänglich dachte ich, es sei nur eine Durchblutungsstörung und liess mich entsprechend behandeln.» Er schilderte ihr die ergebnislosen Untersuchungen. «Mein Hausarzt …» Hugentobler begann zu stottern. «meinte dann … es sei … sei psychisch ausgelöst. … Durch Überforderung oder dergleichen. Dabei fühle ich mich weder privat noch beruflich überfordert.»
Agnes legte eine Hand auf seinen Arm. Sie spürte, da war mehr, verstand es zwar immer noch nicht, doch ihr kam ein warmes Gefühl von Mitleid auf. Er hatte gesagt, er fühle sich privat nicht überfordert, das bezog sich doch auf sie.
«Mit diesem blöden Kribbeln kann ich gut leben, es ist zwar zeitweilig etwas komisch, aber kein Grund, zu einem Psychiater zu gehen, wie Doktor Müller es meinte.»
Agnes drückte leicht seinen Arm.
«Aber es ist dann etwas passiert. Nein, jetzt sogar zweimal. Erst bei einer Nachbarin, der ich im Treppenhaus begegnete, und dann am Samstagabend im Film.» Hugentobler trat Schweiss auf die Stirn. Sein Mund öffnete sich, doch er brachte kein Wort heraus, nur ein paar stammelnde Laute.
«Was ist passiert? Hattest du einen Migräneanfall?» Sie schaute ihn besorgt an, ihre Hand strich nun sachte an seinem Arm.
«Nein, nichts Derartiges.» Hugentoblers Sprachhemmung hatte sich wieder gelöst. «Das Kribbeln verwandelte sich zu einem fliessenden Strom und meine Sicht veränderte sich. Ich sah zwar die Menschen, die ich betrachtete, aber anders, als sie waren.»
«Das klingt ja unheimlich,», bemerkte Agnes. Einen Augenblick hatte sie den Schauspieler Boris Karloff vor Augen, in einer seiner monsterhaften Rollen. Diese Vorstellung schien ihr jedoch zu absurd. «Wie zeigte sich denn die Veränderung?»
«Das ist ja das Schreckliche.» Hugentobler bemühte sich die richtigen Worte zu finden, ohne Agnes zu brüskieren. «Es klingt völlig verrückt, oder wenn man es jemandem erzählt, auch provozierend und beleidigend.»
«Jetzt sag schon, ich werde weder lachen noch böse werden.»
«Versprichst du mir das? Es ist wirklich ehrlich was ich sage, kein dummer Scherz, das würde ich mir nie erlauben. Dazu bist du mir viel zu wichtig. Ich habe bisher auch mit niemand anderem darüber gesprochen.»
Agnes fühlte sich bei seinen Worten, dass sie ihm wichtig sei, ein wenig beschwingt, obwohl es sie beunruhigte, was er da über die Diagnose des Arztes gesagt hatte. «Ich verspreche es dir.»
«Also, wenn ich die Leute fixiert betrachte, wie da im Film, sehe ich plötzlich durch die Stoffe hindurch. Auch als ich meiner Nachbarin begegnete. Sie hatte die Zeitung in der Hand. Als ich meinen Blick auf die Schlagzeile konzentrierte, verschwamm es vor meinen Augen und ich sah sie unbekleidet. Im Film erging es mir ebenso, und auch als ich mich im Kino umgesehen hatte, sassen die Leute ganz ohne Kleidung da. Da konnte ich nicht mehr, bin einfach davongerannt.»
Agnes war verdutzt und ein Moment sprachlos. Dann kam es nicht ganz ohne amüsierten Unterton. «Das ist ja etwas, wovon Männer ansonsten wohl nur träumen.» Dann stutzte sie. «Hast du mich etwa auch so gesehen?»
Hugentobler errötete und machte ein zerknirschtes Gesicht. «Ja, aber es war im Halbdunkel, also mehr schemenhaft.»
«Da hat dein Hausarzt nicht unrecht, dass du Hilfe brauchst. Aber ich denke, es ist eher ein Streich der Fantasie, der da abläuft. Männerfantasie, die da überbordet. Wobei, wenn ich es mir überlege, könnte es für eine Frau manchmal auch ganz angenehm sein, einen schön gebauten Körper zu erblicken.» Sie lächelte über diesen Gedanken.
«Du glaubst mir also?»
Agnes blickte ihn einen Moment ernst an. «Doch, ich glaube dir. So unsinnig es klingt, hat es mir doch eine gewisse Plausibilität. Niemand würde sich so etwas ausdenken. Aber es ist wirklich sehr, sehr merkwürdig.»
Hugentobler seufzte. «Ich weiss nun nicht, was ich machen soll. Ich bin doch nicht verrückt. Doktor Müller meinte zwar, dem sei nicht so, doch er konnte da nicht wissen, was mir noch widerfahren wird. Diese Halluzinationen sind erst später dazugekommen.»
«Hm. Jetzt möchte ich doch noch genau wissen, was du bei mir gesehen hast? Irgendetwas musst du ja erkannt haben.»
«Nun ja, deine … nackten Brüste. Die Lichtreflektion war so, dass man diese sehen konnte. Nicht zu gross und fest waren sie.»
Agnes war leicht errötet bei diesen Worten. «Gab es da irgendetwas Besonderes daran, das dir aufgefallen ist?»
Hugentobler überlegte, versuchte sich das Bild abzurufen. «Schön waren sie.»
Agnes lachte. «Sonst nichts, kein besonderes Merkmal?»
Nun erinnerte sich Hugentobler, das Bild war ihm nun klar vor Augen, wie es sich in der Erinnerung einbrannte. Es war zwar Halbdunkel gewesen, dennoch erkennbar. «Ein Muttermal an der linken Brust.»
Agnes schaute ihn einen Moment mit offenem Mund an. … « Das stimmt, ich habe da ein Muttermal. … Du siehst Dinge, die normalerweise nicht sichtbar sind.»
«Das ist doch verrückt!», Hugentoblers Stimme klang nun verzweifelt. Dass es mehr als Halluzination sein könnte, was er bisher abwehrte, drang nun überschwemmend in sein Bewusstsein. Etwas stimmte wirklich nicht mit ihm.
Agnes widersprach: «Nein, das glaube ich nicht. Wenn es nur Fantasien wären, Vorstellungen, die du dir einbildest, würde ich sagen, es ist krank. Aber du erkennst die Dinge, wie sie wirklich sind. … Vor dem Krieg gab es in Deutschland doch diesen Hellseher, Hanussen hiess er. Er soll mit unglaublicher Präzision Dinge vorausgesagt haben, die er gar nicht wissen konnte. So etwa den Reichstagsbrand. Wie ich hörte, besass er verschiedene unglaubliche Fähigkeiten. Da ist es doch möglich, dass bei dir sich etwas Ähnliches abspielt, nur eben anders?»
«Aber ich bin doch kein Hellseher. Als Buchhalter bin ich es gewohnt logisch zu kalkulieren, nur reale Fakten zu akzeptieren. Von magischem Klimbim wie es die Zauberkünstler bieten, habe ich nie viel gehalten. Die ziehen doch einzig mit billigen Taschenspielertricks den Leuten das Geld aus der Tasche.»
Agnes, der aufgrund seiner Verzweiflung ein starkes Mitgefühl aufgekommen war, musste über diesen, nun nüchternen Ausbruch lachen. «Ich wollte dich damit nicht auf die Stufe von Zauberkünstlern oder Scharlatanen stellen, nein überhaupt nicht. Aber es soll doch vereinzelt Menschen geben, deren Wahrnehmung sensibler ist, die eine Begabung entwickelten, wie sie nicht jeder hat.»
«Aber was ich habe, ist doch keine Begabung, eher eine Sehstörung. Wenn dies jemand merkt, sieht man in mir eine Gefahr, ein Lüstling, den man wegsperren wird.»
Nun war es an Agnes, der Betroffenheit aufkam. «Aus dieser Sicht habe ich es noch gar nicht überlegt», meinte sie. «Du hast recht, es darf niemand etwas merken, sonst gibt es ernsthafte Probleme.»
«Das meine ich ja.» Hugentoblers Stimme war nun weinerlich, da er sich seiner Situation hilflos ausgeliefert sah. Er schaute nicht mal auf, als er spürte, wie Agnes seine Hand ergriff.
«Ich werde dir beistehen», ihre Stimme hatte einen sanften, liebevollen Klang. Ein wenig unwohl war ihr schon. Das Wissen, dass Hugo sie nackt sehen konnte, wenn er sie konzentriert anschaute, war seltsam und auch etwas beschämend. Doch sie war sich gewiss, dass er seine Fähigkeit nicht missbrauchen würde, nicht er.
Eine Zeitlang waren sie schweigend dagesessen, jeder in seine Gedanken vertieft, als Stimmen sie aufsehen liessen. Eine Familie kam daher, ein kleiner Junge trieb einen grossen Holzreifen mit einem Stecken neben sich her. Die Erwachsenen schwatzten laut, die Frau ging Hand in Hand mit einem kleinen Mädchen.
Hugo hatte auf den Jungen geachtet, es gab sie also noch immer, diese Holzreifen, mit denen er als Kind selbst gern gespielt hatte. Da stockte ihm der Atem, mühsam zwang er sich, seinen Blick wegzureissen. Nun gerieten die andern Familienmitglieder in seinen Fokus, alle nackt. Er schlug die Hände vor sein Gesicht und begann zu weinen.

Die Familie war auf das Paar aufmerksam geworden. Das Schluchzen des Mannes war nicht laut aber doch wahrnehmbar, die Frau legte eben den Arm um ihn, er lehnte seinen Kopf an ihre Schulter. Mitleidig schauten sie auf die beiden, eine schlimme Nachricht musste den Mann getroffen haben.

Agnes merkte anhand der Reaktion von Hugentobler, was passiert sein musste. Es mochte ja angenehm sein, eine bestimmte attraktive Person unbekleidet zu erblicken, aber so ungewollt und dazu noch eine Familie mit Kindern, das schockierte sie auch. Sie war nicht prüde, eine Freundin von ihr ging regelmässig ins FKK-Gelände auf dem Zürichberg zum Sonnenbaden. Ein paar Mal hatte diese versucht sie mitzuschleppen, doch hatte sie stets abgelehnt. Die Vorstellung, sich unbekleidet unter fremde nackte Leute zu mischen, war ihr doch zu unangenehm. Sie strich Hugentobler nun sanft übers Haar, um ihn zu trösten. «Vielleicht hat dein Arzt doch recht und es ist mit fachärztlicher Hilfe möglich, diese … hm … Fähigkeit, zu beeinflussen.»
«Du willst mich also auch in die Psychiatrie stecken», erklang Hugentoblers Stimme tränenerstickt unter den Händen hervor. Der Weinkrampf schüttelte ihn.
Agnes war zutiefst betroffen, so hätte sie ihn sich nie vorstellen können, unter keinen Umständen. Er war immer sehr selbstbewusst und zugleich höchst korrekt aufgetreten. Ein Mann, dem man vertrauen konnte und den man auch gerne um Rat fragte, wenn man selbst nicht weiter wusste. Nun sass er hier wie ein Häufchen Elend. So absurd die Situation auch war, es wurde ihr nun erst recht bewusst, dass sie viel mehr für ihn empfand, als sie sich bis anhin eingestand. Wenn sie ihn nicht verlieren wollte, müsste sie ihm helfen dies durchzustehen, komme was auch immer. Energisch entgegnete sie seinem verzweifelten Ausruf. «Nein, ich will dich nicht in die Psychiatrie stecken, dazu bist du mir viel zu wichtig. Aber ich möchte, dass du Hilfe annimmst, um zu sehen, ob die Ärztin, welche Doktor Müller vorschlug, es nicht beheben kann. Er sagte doch, dass sie bei seltsamsten psychosomatischen Beschwerden andern helfen konnte. Ich verstehe ja nichts davon, aber an deiner Stelle würde ich keinen Moment zögern, es bei ihr zu versuchen.»
Hugentobler blickte sie mit rotumränderten und feuchten Augen an. Spontan küsste sie ihn auf den Mund, ihr Eingeständnis von vorhin noch bestärkend und wie besiegelnd.
Hugentobler fühlte sich angenehm berührt und verblüfft, doch sein Problem überlagerte diese Empfindung wieder. «Du meinst, ich solle es wagen? Man sperrt mich dann nicht einfach weg?»
«So einfach sperrt man Menschen nicht weg und du hast ja niemandem etwas angetan. Mich darfst du anschauen, soviel du willst», sie errötete etwas bei ihren Worten, «und ansonsten musst du dich bemühen, den Leuten nur ins Gesicht zu blicken, dann kann nichts passieren.»
Ein Hoffnungsschimmer keimte in Hugentobler. «Das ist die Lösung, ich schaue den Leuten nur noch ins Gesicht.» Er lachte befreit auf. «Dann muss ich aber nicht zu dieser Psychiaterin.»
«Nein, Hugo, so geht es nicht», herrschte Agnes ihn streng an. Sein Verhalten kam ihr nun etwas unreif vor. Kaum sah er eine Zwischenlösung für sein Problem, meinte er, er könne seiner dummen Angst nachgeben. «Wir gehen nun zusammen zu Doktor Müller, dann kann er dich für eine ambulante Behandlung überweisen, nur so führt es zu einer nachhaltigen Lösung. Oder was denkst du, was passiert, wenn du etwa im Tram sitzt. Auf der Bank dir gegenüber sitzt vielleicht eine alte Frau. Du wirst ihr nicht dauernd ins Gesicht schauen, das wäre zu komisch. Unbedacht gleitet dein Blick dahin, fixiert sich irgendwo, und du nimmst welke Brüste wahr. Diese sind völlig normal, doch nicht unbedingt attraktiv anzusehen. Oder was war vorhin mit der vorbeigehenden Familie, das war wirklich arg.»
Diese drastische Schilderung erschreckte Hugentobler umso mehr, da die Erfahrung mit den Kindern ihn schockartig getroffen hatte. «Du hast recht, doch ich habe Angst, dass Müller diese so weit gehende andere Sicht nicht versteht, und mich für verrückt hält. Vielleicht meint, ich könnte andern gefährlich werden.»
Beschwichtigend bemerkte Agnes: «So, wie du ihn mir geschildert hast, wird er dies sicher nicht denken. Auch hat man alles andere klinisch ja bereits abgeklärt. Also wird er sich schon an das halten, was er vorgeschlagen hat. Und ich bin bei dir, ich werde dich unterstützen.»
«Hm, aber wenn die sagen, du könntest da nicht mitreden, wir seien ja nicht verwandt?»
Einen Moment stutzte Agnes, Hugo hatte recht, das Arztgeheimnis! «Wir erklären, wir seien verlobt, dann machen die keine Schwierigkeiten. Irgendwann holen wir dies dann nach.»
Ihre Worte hatten ihn vom Kern seines Problems abgelenkt, ihm eine neue Perspektive gegeben, die ihm für den Moment wenigstens geeignet war, aus seinem Tief herauszukommen. Auch der Reiz ihres unbekleideten Anblicks im Kino war nicht spurlos vorübergegangen. Seine lang gehegte Sympathie zu ihr hatte sich schon seit einiger Zeit in ein zartes Liebesempfinden verwandelt, das ihm erst jetzt, dafür überschwänglich, bewusst wurde. «Oder wir verloben uns gleich, hier und jetzt», bemerkte er hoffnungsvoller.

Obwohl nicht angemeldet, war Dr. Müller bereit Hugentobler zwischen zwei anderen Terminen einzuschieben, da sie Dringlichkeit bei der Praxisassistentin anmeldeten.
Geduldig hörte er die Schilderung von Frau Haag an, der Verlobten von Hugentobler. Dieser sass bleich neben ihr und hatte seinen Blick starr auf die Seite gewandt. Ein kurzes Lächeln war über sein Gesicht gehuscht, als er erfuhr, wie die andere Sicht seines Patienten sich manifestierte. Als Agnes endete, schwieg auch Dr. Müller einen Moment, Hugentobler sinnierend anblickend.
«Ich glaube, Frau Doktor Wildermuth ist doch nicht die richtige Person, um dieses Problem zu lösen. Für Ihre ungewöhnliche Begabung, einem doch merkwürdigen Phänomen, welches bei Ihnen auftritt, hat die Psychosomatik eher auch keine rehabilitierende Therapie zur Hand.»
Hugentobler war aufgeschreckt und sah ihn entsetzt an. «Ich will aber nicht in die Psychiatrie!», schrie er auf.
Dr. Müller schmunzelte kurz. «Nein Herr Hugentobler, dazu besteht keinerlei Anlass. Aber das Problem müssen wir natürlich schon angehen, wobei mir schwebt da ein anderer Arzt vor. Dieser war, vor seiner Zeit als Ordinarius, während neun Jahren der ärztliche Leiter des Burghölzli …», weiter kam er nicht, da Hugentobler sich wieder erregte.
«Das Burghölzli ist aber die Irrenanstalt!»
«Lassen Sie mich erst mal fertig sprechen, Herr Hugentobler, und beruhigen Sie sich.» Unterstützung suchend schaute er Agnes an, die beruhigend ihre Hand auf den Arm von Hugentobler legte.
«Also dieser Arzt befasste sich, nach seiner klinischen Tätigkeit, der Erforschung von Phänomenen, und zwar zu solchen, zu der die Psychiatrie auf Distanz geht. Ich denke, wenn jemand das Wissen und die Kompetenz besitzt, um ihre Befindlichkeit erfolgreich zu behandeln, dann ist er es. Wie Frau Haag richtig sagte, lässt sich Ihr Problem zwischenzeitlich regulieren, indem Sie anderen Menschen nur ins Gesicht schauen. Es ist auch nicht sicher, ob es gelingen kann, die andere Sicht, wie Ihre Verlobte es so schön nannte, ganz zu beheben. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass es sich stark regulierend in den Griff bekommen lässt. Wenn Sie also einverstanden sind, werde ich gleich einen Termin mit Doktor Jung vereinbaren. Er ist zwar weit über Siebzig, aber an ungewöhnlichen Fällen noch immer höchst interessiert.»
Agnes drückte bestärkend die Hand von Hugentobler. «Doch ja, ich bin einverstanden», bemerkte dieser mit einem Seufzer.
Dr. Müller telefonierte und forderte einen raschmöglichsten Termin. Dann wandte er sich wieder an Hugentobler. «Sie haben mitgehört, morgen um vierzehn Uhr. Ich notiere Ihnen hier noch die Adresse, er wohnt in Küsnacht.»
Hugentobler blickte auf den Zettel mit Adresse und Telefonnummer. Der Name kam ihm bekannt vor, doch wusste er nicht woher. Es war ihm auch gleichgültig, mit Irrenärzten hatte er glücklicherweise nie zu tun, und diesen suchte er ja nicht wegen Irreseins auf, sondern einzig wegen seiner ungewöhnlichen Begabung, wie Dr. Müller sagte.

Im Treppenhaus trat bei Hugentobler schlagartig das Kribbeln wieder auf, intensiver als je. Als sie das Haus verliessen, schritt eben eine junge, attraktive Frau nah an ihnen vorbei. Hugentobler stockte im Schritt, er war vom Kribbeln abgelenkt, beinah in sie hineingelaufen.
Agnes puffte ihn an, «Du weisst, nur auf das Gesicht schauen», sagte sie verschmitzt und lachte.
Hugentobler, der der Frau nachblickte, war jedoch nicht zum Scherzen zumute. «Agnes, ich … ich sehe sie nicht mehr …! »Er blickte nun Agnes an, sie von oben bis unten musternd.
«Was ist mit dir los, Hugo?» Sein Gesichtsausdruck wirkte fassungslos.
«Ich sehe die Menschen nicht mehr nackt, wenn ich sie konzentriert betrachte. Dafür … wie bei einer optischen Unschärfe, … ihre Körperkonturen doppelt.»

 

Lieber Anakreon,

nur kurz vorab, denn eine Augenentzündung hindert mich am gründlichen Lesen und kommentieren.
Schön, dass du wieder etwas geschrieben hast! Mir gefällt die Idee, was alles so hinter einem Kopfkribbeln stecken kann ... und Hugentobler ist ein netter Name. Auch diese Unsicherheit, wie mit ungewöhnlichen, vielleicht psychosomatischen Erscheinungen umzugehen ist und die Angst als irre zu gelten hast du gut eingefangen. Allerdings finde ich auch, dass es ein paar Unstimmigkeiten in der Entwicklung der 'Beziehung' gibt. Vor allem aber macht deine Erzählung auf mich einen abgebrochenen Eindruck. Wenn Fragen offen bleiben, mag das ja zum Denken anregen, aber hier ist es mir zu viel.
Genaueres später, wenn gesundet,

herzliche Grüße,

Eva

 

Liebe Eva

Es freut mich sehr, dass du trotz einer Augenentzündung in die Geschichte eingetaucht bist, ganz kurz ist sie ja nicht.

Ich bin schon gespannt darauf, was dir in der Entwicklung der Beziehung unstimmig wirkt. Wobei mir klar ist, dass ich diese auf das Notwendigste herabgebrochen habe. Für den Inhalt und somit das Denken und Verhalten der beiden ist der Zeitgeist prägend. Wer die Indizien entschlüsselt, stellt fest, dass es im späten Frühjahr 1951 angesiedelt ist. Eine Lösung oder genaue Diagnose für Hugentoblers andere Sicht habe ich bewusst weggelassen. Wobei, ungewollt ist mir ein völlig harmlos und normal klingendes Wort hineingerutscht, das fachlich synonym als ein Symptom bei einer bestimmten Störung gilt, und so indirekt einen Hinweis andeutet. Doch dieser Schnitt am Schluss war mir wichtig, es sollte nicht in einer Aufklärung münden. Leser, die mal ein entsprechendes Kribbeln verspüren, können so zumindest einen Moment erwägen, ob sie nun von Hugentoblers Symptom betroffen sind. :D

Ich wünsche dir eine baldige und gute Genesung. Auf den fortsetzenden Kommentar freue ich mich.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Lieber Anakreon,

danke für die Genesungswünsche, die haben ein wenig geholfen!

Zunächst ein bisschen Korrektur: "... darunter auch neurologische und psychologische Tests K O M M A ..."
".. dann fuhr er in der bei ihm üblich milden Tonlage ...",
"Die Vorstellung eine Psychiaterin aufzusuchen löste bei ihm panische Gefühle aus."
"Er starrte auf die Zeitung, doch deren Anblick löste sich auf." Ich finde, nicht der Anblick, sondern die Zeitung selbst löst sich (scheinbar) auf.

"Der Andrang von Besuchern war K O M M A wie für das Wochenende gewohnt K O M M A gross." Anbei: Wieso schreibst du auch nach langem Vokal statt ß ss?

" ... ihre Worte klangen immer noch etwas spitz K O M M A aber doch mit einem Ton von Unsicherheit."
"«So K O M M A wie du ihn mir geschildert hast ..."
" ...Phänomen, welches bei Ihnen auftritt, ..."

Ja, ich hoffe doch sehr, dass Hugo Hugentobler Hilfe von Carl Gustav erhielt, oder jedenfalls einen produktiven Umgang mit seiner Besonderheit erlernte!

Für mich erscheint der Umschwung von einer kameradschaftllichen Beziehung hin zur schnellen Verlobung irgendwie zu flott gegengen zu sein. Klar ist der arme Hugo verwirrt in seiner Situation und sie denkt wohl schon länger in diese Richtung, aber dass er so schnell 'umschaltet' (wohl ihres Verständnisses wegen) erscheint mir nicht plausibel. Vielleicht könnte noch was dazu kommen (eine stärkere erotische Anziehungskraft, weil er sie s o sieht etwa)?

Nette Story,

beste Grüße,

Eva

 

Liebe Eva

Schluck, dabei hatte ich extra den einen Satz umgestellt, da ein bei mir partout nicht passen wollte. Nun habe ich aber alle rausgerückt und eingefügt, samt Kommata.

Wieso schreibst du auch nach langem Vokal statt ß ss?

Die eigenbrötlerischen Schweizer lassen sich zwar die Bankdaten klauen, aber mit dem ß wollen sie sich auf keinen Fall anfreunden. Es ist die kleine Differenz, welche uns u. a. ausmacht und durch alle Sprachkonventionen geboxt wurde. Auf unserer PC-Tastatur fehlt darum das Eszett. :D

Ja, ich hoffe doch sehr, dass Hugo Hugentobler Hilfe von Carl Gustav erhielt, oder jedenfalls einen produktiven Umgang mit seiner Besonderheit erlernte!

Wenn ich an den sagenhaften Turm von Jung in Bollingen denke, dämonisch-maskenhafte Skulpturen sollen ihn schmücken, Eindrücke seiner selbst empfundenen Phänomene, bin ich mir nicht sicher, welche Lösung sie wohl anstrebten. ;)

Für mich erscheint der Umschwung von einer kameradschaftllichen Beziehung hin zur schnellen Verlobung irgendwie zu flott gegengen zu sein.

Du hast recht, ein kleiner Knackpunkt gehört noch dazu. Seine Motivation dazu kommt nun in zwei zusätzlichen Sätzen zum Ausdruck. Natürlich brav dem Geist und der Doppelmoral jener Zeit entsprechend ausgedrückt.

Nette Story,

Das freut mich, mehr will sie auch nicht sein. Na ja, vielleicht bei andern ein wenig verwirrende Gefühle wecken, wenn sich ein Kribbeln …

Ich danke dir herzlich für das Lesen, deinen Kommentar und die Hinweise, welche es nun um einen Aspekt vertieften.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo Anakreon

Na ja, vielleicht bei andern ein wenig verwirrende Gefühle wecken, wenn sich ein Kribbeln …

Ich lass mich einfach mal überraschen :)

Nun denn, da hast du dir schon eine recht "ausgefallene" Störung ausgedacht. Wobei es dieser Satz wohl sehr gut trifft:

Es war ihm auch gleichgültig, mit Irrenärzten hatte er glücklicherweise nie zu tun, und diesen suchte er ja nicht wegen Irresein auf, sondern einzig wegen seiner ungewöhnlichen Begabung, wie Dr. Müller sagte.

Denn es klingt ja schon mehr nach Fähigkeit / Begabung, da er die Leute tatsächlich nackt sieht und sich das nicht nur einbildet ... ich frage mich, wenn er in der heutigen Zeit leben würde, ob er damit Geld an Flughäfen oder bei anderen Einlasskontrollen machen könnte? Vielleicht könnte er am Körper befestigte Waffen oder andere Schmugglerware sehr leicht erkennen ...

Das ist so etwas, wo die Geschichte meiner Meinung nach noch weiter gehen könnte. Es ist eben so, dass dieses Phänomen erstmalig auf Seite 2 auftritt, und dann kommt in der restlichen Geschichte kein wirklich neuer Aspekt hinzu. Der Schwerpunkt liegt dann auf dem Gespräch mit Agnes, ich finde es schade, dass du da aus dem Szenischen herausgehst und den Hugentobler vieles erzählen lässt, was der Leser eigentlich schon weiss ... für mich sind der Einstieg, das Gespräch beim Arzt, dann das erste Auftreten des Phänomens im Treppenhaus und vor allem auch die Szene im Park, wo er die Familie nackt sieht und so traurig darauf reagiert, die stärkeren Szenen.
Das Gespräch mit Agnes ... ja, man erfährt zwar viel, wie er darüber denkt, mir kommt es aber zu lang vor. Du konzentrierst dich stark auf die Ängste von Hugentobler, die auch glaubhaft rüberkommen, mir persönlich hätte die eine oder andere skurille Szene dank seiner Begabung besser gefallen ... obwohl dann natürlich auch immer schnell die Gefahr besteht, ins Klamaukhafte abzurutschen, und so wie ich die Geschichte lese, geht es schon um eine ernsthafte Behandlung eines ungewöhnlichen Phänomens.

Zum Stil muss ich nicht viel sagen - es ist dein Stil, wie man ihn kennt :). Er hat einen hohen Wiedererkennungswert. Ich finde aber die Dialoge sind dir besser gelungen als auch schon - sie klingen für mich realistischer, das waren ja Kritikpunkte, die ich in anderen Geschichten von dir hatte, dass die Leute seltsam reden. Das finde ich hier deutlich besser.
Was ich aber kritisieren muss, sind die Perspektivwechsel, vor allem aufgefallen zwischen Hugentobler und Agnes. Die empfinde ich immer als störend. Gerade beim Dialog zwischen beiden würde ich überlegen, den komplett aus der Sicht von Agnes zu schreiben.

Sonst sind mir wenig Dinge aufgefallen ...

Sein Hausarzt, Dr. Müller, den er ungern wegen einer solchen Lappalie aufsuchte, diagnostizierte eine Form von Kopfschmerz.

Jemand geht zum Arzt, weil ihm der Kopf weh tut, und der Arzt diagnostiziert eine Form von Kopfschmerz ... hm, das klingt irgendwie unfreiwillig komisch.

Er wartete sich vergewissernd, dass Hugentoblers emotionaler Ausbruch sich legte, dann fuhr er in der bei ihm üblich milden Tonlage erklärend fort.

Das Fette ist unnötig und sperrig.

Mit einer rein körperlichen Diagnose hätte er sich abgefunden, aber Geisteskrank oder so etwas,

geisteskrank oder Geisteskrankheit

Er starrte auf die Zeitung, doch diese löste sich auf, der Gestalt der Nachbarin Platz machend.

Hier war mir erst nicht klar, was du sagen willst. Finde das auch umständlich formuliert.

Ich notiere Ihnen hier noch die Adresse, er wohnt in Küsnacht. Mit der Bahn sind es fünf Stationen ab dem Hauptbahnhof, nur etwa zwanzig Minuten Fahrtzeit.

Irgendwie bin ich der Meinung, der Hugentobler wohnt in Zürich - dann wird das der Arzt sicher nicht extra erwähnen müssen, wie weit es bis Küsnacht ist.

Insgesamt finde ich, hast du ein skurilles Thema ernsthaft umgesetzt und bringst auch die Emotionen der (sympathisch wirkenden) Beteiligten gut rüber. Der Dialog zwischen Hugentobler und Agnes kommt mir im Vergleich zur restlichen Geschichte zu lang vor - obwohl ich, wie gesagt, finde, dass du dich an der Stelle verbessert hast gegenüber älteren Geschichten. Am besten gefallen hat mir die Szene mit der Familie; auch wenn diese Begabung doch eher belustigend ist, zeigst du an der Stelle, dass sie für den Betroffenen eine grössere Last sein kann, als man gemeinhin annimmt. Und damit mag sie stellvertretend für solche "Fähigkeiten" stehen, die auch in der Realität vorkommen können ...

Viele Grüsse,
Schwups

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Anakreon,

huch, ich fürchte Herr Dr. Jung schickt Hugentobler zum Augenarzt. Ich vermute nämlich eine Sehstörung bei ihm. Wobei, die Art dieser Störung vielleicht doch eher in die Deutungshoheit des Herrn Dr. Freud gehört. (Aber die Fahrzeit nach Wien ist/war natürlich bedeutend länger … )
Ausschlaggebend ist ja nicht WIE Hugentobler sieht, sondern WAS. Und das ist so aus heiterem Himmel dann doch wohl stark mit unbewussten, sexuellen Wünschen besetzt.

Auf der anderen Seite ist natürlich Jung die absolut richtige Adresse: Die Anima des Mannes ist weiblich und wie die Maler uns zeigen: Der weibliche Akt ist am schönsten und so begibt sich Hugentobler in die Sphäre der archetypischen Nacktheit des Weibes. - Ich hätte ja zu gerne gewusst, wie Jung diese Begabung diagnostiziert und behandelt. Aber vielleicht heiratet Hugentobler die Agnes und dann wird sie ihm die Flausen wohl austreiben. Vermutlich treten dann aber die Kopfschmerzen verstärkt auf. Wäre nur noch das rätselhafte Kribbeln. Aber klar, das ist ein Frühlingsphänomen. :)

Summa summarum: Hugentobler hat unbewusste Frühlingsgefühle, wenn er an Frauen/Agnes denkt = Kribbeln. Sein Unterbewusstsein entkleidet Frauen und ihre Umgebungen (Kino/Familie) = Wunschvorstellung. Hugentobler muss, um seine Korrektheit zu bewahren, mit Kopfschmerz reagieren = Phantomschmerz bzw. psychosomatische Störung. Um sich moralisch zu entlasten, greift er zum 'Rettungsring' des Dr. Müller und deklariert sein Verhalten als Begabung. :D

Eine hübsche Geschichte, die ich mit viel Schmunzeln gelesen habe. Ich hoffe, du erkennst das an obiger Auslegeordnung. Zu meckern hätte ich wie immer an Satzstellungen und umständlichen Formulierungen:

«Frau Doktor Wildermuth ist keine Irrenärztin, wie Sie es formulieren.» Diese Worte sprach Müller scharf aus. Er wartete sich vergewissernd, dass Hugentoblers emotionaler Ausbruch sich legte, dann fuhr er in der bei ihm üblich milden Tonlage erklärend fort. «Der Mensch …
Das kannst du auch so schreiben:
«Frau Doktor Wildermuth ist keine Irrenärztin!» Diese Worte sprach Müller scharf aus. Er wartete bis sich Hugentoblers emotionaler Ausbruch legte und erklärte dann in seiner üblichen, milden Tonlage: «Der Mensch …

Ganz liebe Grüsse,
Gisanne

 

Lieber Anakreon!

Was soll ich dann bei einer Irrenärztin?»
[…]
Hugentobler fühlte sich stark verunsichert. Die Vorstellung eine Psychiaterin aufzusuchen löste bei ihm panische Gefühle aus.

Sehr schön, Hugo Hugentobler als unkundiger Bürger mit entsprechendem Vorurteil.
Dr. Müller monologisiert (heftigst) gegen Hugos Vorurteil. Hat mich nicht gestört, ich fand es recht interessant.

Mit einer rein körperlichen Diagnose hätte er sich abgefunden, aber Geisteskrank …
Vielleicht auf die heutige Zeit bezogen etwas überdosiert, jedoch zu Adenauers Zeit durchaus passend. Auch diese, wie soll ich es sagen, hochanständige Romantik zwischen Agnes und Hugo passt in das Zeitbild.
Ich muss sagen, mir gefällt Geschichte, auch die Sprache. Wo liest man in neuen Geschichten noch solche Rede: „Danke, Agnes, dass du mich anhörst …“ Das ist mal etwas anderes. Eine schöne Abwechselung.

Agnes realisierte anhand der Reaktion von Hugentobler, was passiert sein musste.
„Realisierte“ ist hier wie in der modernen Umgangssprache angewandt, nämlich falsch. Man kann gedanklich nichts realisieren, nur mit Taten.


Lieben Gruß

Asterix

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Schwups

Ich glaubte, durch das sonstige Hintertürchen hineingeschlüpft, weder auf- noch abzufallen. :D
Aber im Ernst, es freut mich, dass du dich mit dieser Geschichte auseinandergesetzt hast. Deine Kommentare zu Geschichten umfassen stets eine begründete Auseinandersetzung über Sprache, Stil, Aufbau und Inhalt, was ich schätze. Dass sie dennoch nicht frei von Subjektivität sind, tut dem kein Abbruch, erlaubt es doch den Autoren der besprochenen Geschichten, angemessen Gegenargumente vorzubringen und Konsens zu finden.

Nun denn, da hast du dir schon eine recht "ausgefallene" Störung ausgedacht.

In der Tat ist dieser infame Gedanke wahrscheinlich nicht erstmalig, aber ich habe es nicht weiter überprüft. Im Hinterkopf habe ich nur die Novelle Le Passe Muraille von Marcel Aymé. Dessen Prot. manifestierte sich die Veränderung von Materie derart, dass er durch Wände gehen konnte.

Das ist so etwas, wo die Geschichte meiner Meinung nach noch weiter gehen könnte. Es ist eben so, dass dieses Phänomen erstmalig auf Seite 2 auftritt, und dann kommt in der restlichen Geschichte kein wirklich neuer Aspekt hinzu.

Mir lag daran, Hugentoblers Problem an sich, seine Last statt der Lust damit, in den Raum zu stellen. Natürlich gäbe der Stoff einiges mehr her, aber ich fürchte, es erlangte dann schnell den Umfang einer Novelle.

für mich sind der Einstieg, das Gespräch beim Arzt, dann das erste Auftreten des Phänomens im Treppenhaus und vor allem auch die Szene im Park, wo er die Familie nackt sieht und so traurig darauf reagiert, die stärkeren Szenen.

Da hast du zweifellos recht. Es ist aktives Geschehen, aber nur Solches, würde mir den Fokus zu sehr von der Betroffenheit des Protagonisten nehmen.

mir persönlich hätte die eine oder andere skurille Szene dank seiner Begabung besser gefallen ... obwohl dann natürlich auch immer schnell die Gefahr besteht, ins Klamaukhafte abzurutschen, und so wie ich die Geschichte lese, geht es schon um eine ernsthafte Behandlung eines ungewöhnlichen Phänomens.

Dies soll es wirklich vortäuschen. Das Auftreten eines solchen Symptoms wurde noch nie geortet, die zugrunde gelegten Merkmale hingegen schon.

Zum Stil muss ich nicht viel sagen - es ist dein Stil, wie man ihn kennt . Er hat einen hohen Wiedererkennungswert. Ich finde aber die Dialoge sind dir besser gelungen als auch schon - sie klingen für mich realistischer, das waren ja Kritikpunkte, die ich in anderen Geschichten von dir hatte, dass die Leute seltsam reden. Das finde ich hier deutlich besser.

Das freut mich, diese Folgerung von dir zu hören. Eine realistischere Ausdrucksweise für meine Protagonisten werte ich doch als Entwicklungsgewinn. Den Wiedererkennungswert möchte ich auch nicht unbedingt verlieren, es käme mir schon einem Identitätsverlust nahe, den ich mir selbst nicht zufüge.

Was ich aber kritisieren muss, sind die Perspektivwechsel, vor allem aufgefallen zwischen Hugentobler und Agnes. Die empfinde ich immer als störend. Gerade beim Dialog zwischen beiden würde ich überlegen, den komplett aus der Sicht von Agnes zu schreiben.

Ich ahne, was das Problem daran ist, war es mir beim Schreiben doch bewusst. In der Literatur trifft man oft an, dass die Sprechenden mit verschiedensten Wendungen identifizierbar bleiben. Ich setzte hier auf die Logik des Dialogs, vielleicht habe ich diese aber überschätzt und für den Leser ist es nicht durchgehend klar, wer jeweils spricht. Es komplett aus der Sicht von Agnes einzubringen, begeistert mich im Moment nicht. Ich werde aber darüber nachdenken und hoffentlich eine passable Lösung finden.

Jemand geht zum Arzt, weil ihm der Kopf weh tut, und der Arzt diagnostiziert eine Form von Kopfschmerz ... hm, das klingt irgendwie unfreiwillig komisch.

Diese Interpretation ist so nicht ganz richtig, aber ich sehe schon, beim Symptom des (strömenden) Kribbelns ist zu wenig hervorgehoben, das es keinen fühlbaren Schmerz darstellt. Im zweiten Absatz lautet es nun: Zwar tat dies im Moment wohl, doch das Gefühl des Kribbelns, wie wenn Ameisen in breiter Front darin [im Kopf] marschierten, stellte sich wieder ein.
Hugentobler verspürte also keinen Kopfschmerz, nur ein komisches Gefühl. Heute kennt man gegen die 300 Arten von Kopfschmerzen. Wie viele davon 1951, dem Zeitpunkt der Handlung, bekannt waren, kann ich nicht sagen. Die meisten Menschen nehmen Kopfschmerzen auch nur dann als solche wahr, wenn ihnen nach durchzechter Nacht der Schädel brummt oder unverkennbar eine Migräne eintritt.

Zitat:
Er wartete sich vergewissernd, dass Hugentoblers emotionaler Ausbruch sich legte, dann fuhr er in der bei ihm üblich milden Tonlage erklärend fort.

Das Fette ist unnötig und sperrig
.

Ich verstehe deinen Einwand, doch lag mir daran, dem Arzt ein gutmütiges Attribut zu geben. Er musste die Voraussetzung erfüllen, Hugentobler im Zeitpunkt seines Eingeständnisses nicht gleich in die Klinik einweisen zu lassen. So was kam (und auch heute noch) in Wirklichkeit öfter vor, als Agnes meinte.
Gisanne hat im nachfolgenden Kommentar diesen Satz auch aufgegriffen und eine Änderung vorgeschlagen, die ich übernahm. Vielleicht wird dies so für dich auch akzeptabler.

Zitat:
Er starrte auf die Zeitung, doch diese löste sich auf, der Gestalt der Nachbarin Platz machend.

Hier war mir erst nicht klar, was du sagen willst. Finde das auch umständlich formuliert.

Stimmt es ist zu umständlich. Ich habe den Passus nun neu und unkompliziert formuliert.

Irgendwie bin ich der Meinung, der Hugentobler wohnt in Zürich - dann wird das der Arzt sicher nicht extra erwähnen müssen, wie weit es bis Küsnacht ist.

Aus heutiger Sicht gebe ich dir vollkommen recht. Doch damals war es für die Stadtbewohner noch eher ungewöhnlich, mit dem Zug zu einer ambulanten Behandlung zu fahren, obwohl eine Tramfahrt quer durch die Stadt noch länger dauerte.

Insgesamt finde ich, hast du ein skurilles Thema ernsthaft umgesetzt und bringst auch die Emotionen der (sympathisch wirkenden) Beteiligten gut rüber.

:bounce: Da bin ich froh, dass dies so doch gelungen ist. Das frei erfundene Symptom sollte trotz des Augenzwinkerns des Verfassers realistisch wirken, die Protagonisten entsprechend mitspielen.

Am besten gefallen hat mir die Szene mit der Familie; auch wenn diese Begabung doch eher belustigend ist, zeigst du an der Stelle, dass sie für den Betroffenen eine grössere Last sein kann, als man gemeinhin annimmt.

Genau so wollte ich es verstanden wissen.

Und damit mag sie stellvertretend für solche "Fähigkeiten" stehen, die auch in der Realität vorkommen können ...

An die neue Generation der Körperscanner auf den Flughäfen habe ich gar nicht gedacht. Aber es stimmt, da ist es ja auch schon zu Empörungen gekommen. Hätte Hugentobler dies geahnt, es hätte ihn vielleicht mit seiner ungewollten Fähigkeit ein wenig versöhnt.


+


Liebe Gisanne

Als ich bemerkte, dass du einen Kommentar zur Geschichte geschrieben hast, war ich sehr gespannt, wie du sie aufnahmst. Meine sonderlichen Gedankengänge waren dir ja z. B. von Monsieur Cactus her vertraut.

huch, ich fürchte Herr Dr. Jung schickt Hugentobler zum Augenarzt. Ich vermute nämlich eine Sehstörung bei ihm.

Ah, ich hatte mal mit einem zu tun, der hatte einen getrübten Namen, passend zum Beruf. Dazu kam jedoch die Unpässlichkeit, dass er unter der Vorstellung litt, manch andere Leute wollten ihm Schaden zufügen. Das wäre wohl ein heiteres Zusammentreffen geworden. Aber nein, geht nicht, da er zu Hugentoblers Zeit noch weit vor der Berufswahl stand.

Wobei, die Art dieser Störung vielleicht doch eher in die Deutungshoheit des Herrn Dr. Freud gehört. (Aber die Fahrzeit nach Wien ist/war natürlich bedeutend länger … )
Ausschlaggebend ist ja nicht WIE Hugentobler sieht, sondern WAS. Und das ist so aus heiterem Himmel dann doch wohl stark mit unbewussten, sexuellen Wünschen besetzt.

Diese wunderbare Chance war Hugentobler vergönnt, da Freud die Berggasse in Wien 1938 fluchtartig verliess und ein Jahr später in der Emigration in London starb. Alternativ wäre da natürlich der feingliedrige Paul Parin in Frage gekommen, damals zwar noch in Ausbildung zum Neurologen und Psychoanalytiker, doch ein Jahr später eröffnete er zusammen mit seiner Frau sowie Fritz Morgenthaler eine eigene Praxis in Zürich. Da Goldy, seine Frau und ebenfalls Psychoanalytikerin, an der Grazer Augenklinik ihre Erstausbildung als medizinische Labor- und Röntgenassistentin gemacht hatte, wären sie ein ideales Gespann geworden. – Ach Gisanne, du bringst mich da auf Gedanken, die die Geschichte direkt in eine Novelle ausarten lassen könnte. Wahrscheinlich träume ich nun heute Nacht davon, wie Jung ihn an Parin weiterleitet …

Auf der anderen Seite ist natürlich Jung die absolut richtige Adresse: Die Anima des Mannes ist weiblich und wie die Maler uns zeigen: Der weibliche Akt ist am schönsten und so begibt sich Hugentobler in die Sphäre der archetypischen Nacktheit des Weibes.

Ich dachte auch, dass Jung einige Eigenschaften hatte, die ihm Hugentobler nicht allzu fremd wirken lassen müssten. Eine, heute als traumatisierend eingeschätzte Kindheitserinnerung, die er in einem Brief an Freud eingestand, als auch die Affäre mit seiner Patientin Sabina Spielrein, lassen über seine theoretischen Überlegungen hinaus ahnen, dass der gelebte erotische Moment ihn auch prägte. Und du brachtest es, seiner Denkweise gerecht, auf einen schönen Nenner.

Aber vielleicht heiratet Hugentobler die Agnes und dann wird sie ihm die Flausen wohl austreiben. Vermutlich treten dann aber die Kopfschmerzen verstärkt auf. Wäre nur noch das rätselhafte Kribbeln. Aber klar, das ist ein Frühlingsphänomen.

:lol: Das Umkehrverhältnis, als es bei dem Juristenpaar Kopp [ehemalige Bundesrätin] war. Da rennt sie ihm mit der Gerte nach und nicht er, seiner Sekretärin. Die frühlingshaften Gefühle passen da gut.

Summa summarum:

Der darunter hervorragend subsummierten analytischen Deutung etwas entgegenzusetzen, würde den beflügelten Zustand von Hugentobler nur entzaubern, ihm abrupt Genesung gewähren, doch möge er in der Geschichte als Hochbegabter fortleben, ist ja ein Trend, den heute Eltern ihren Sprösslingen wünschen.

Eine hübsche Geschichte, die ich mit viel Schmunzeln gelesen habe. Ich hoffe, du erkennst das an obiger Auslegeordnung.

Ich musste herzlich lachen, es übertraf meine Erwartungen noch, wie du hier einen passenden Schlüssel humorvoll eingesetzt hast. ;)

Zu meckern hätte ich wie immer an Satzstellungen und umständlichen Formulierungen:

Wie eine Schildkröte zog ich instinktiv meinen Kopf etwas ein, ihn vorsichtig wieder emporreckend, das Ego wieder wachsend. Treffend!, dachte ich, und übernahm deinen Vorschlag gern.

Ich danke euch beiden ganz herzlich für das Lesen, Kommentieren und die wertvollen Anregungen. Für den Tadel zog ich mir eine Sonnenbrille an, damit er nicht zu grell blendet, oder mir ein Kribbeln widerfährt.

Schöne Grüsse

Anakreon


PS: Für heute Nacht muss ich mich geschlagen geben, die Zeit, die Zeit, wie Martin Suter meinte. Auf deinen Kommentar, lieber Asterix, werde ich aber baldmöglichst eintreten.
Ah, der Aufmerksamkeit von Agnes im Text habe ich schon mal eine zeitgemässe Formulierung gegeben. Danke vorab für den Hinweis.

 

Lieber Asterix

Schön, dass du dir die Zeit nahmst, in diese damalige Gesellschaft des Hugentoblers einzutauchen, welche sich in einigen Aspekten zu heute doch stark abhebt.

Sehr schön, Hugo Hugentobler als unkundiger Bürger mit entsprechendem Vorurteil.
Dr. Müller monologisiert (heftigst) gegen Hugos Vorurteil. Hat mich nicht gestört, ich fand es recht interessant.

Wäre Hugentoblers Dilemma in der gegenwärtigen Zeit aufgetreten, hätte er kaum von einer Irrenärztin gesprochen. Damals war es schon abschätzend, aber gängig. Unabhängig davon müssen meiner Meinung nach auch heute viele Ärzte ihre Patienten von einer Diagnose und Behandlungsmethode erst mal überzeugen, zu Recht. Wobei, was ein „aufgeklärter Patient“ ist, wie es so schön lautet, bleibt eine sehr variable Vorstellung. So dürften Müller’sche Monologe auch in der heutigen Zeit ab und zu fortbestand haben.

Auch diese, wie soll ich es sagen, hochanständige Romantik zwischen Agnes und Hugo passt in das Zeitbild.

Es war schon eine Zeit in der Romantik höher gewertet wurde, ohne dass die Moral deshalb besser war. Aus bürgerlicher Zeit gab es z. B. damals noch das sogenannte „Konkubinatsverbot“. Dies untersagte es unverheirateten Personen in einem Raum (Bett) zusammenzuleben. Im Kanton Zürich hatte das Gesetz den folgenden Wortlaut: «Das Konkubinat ist untersagt. Die Gemeinderäte haben von Konkubinatsverhältnissen dem Statthalteramt Kenntnis zu geben. Dieses erlässt die erforderlichen Verfügungen zur Aufhebung des Verhältnisses unter Androhung strafrechtlicher Verfolgung wegen Ungehorsams.» Die Polizei nahm da öfters zu sehr früher Morgenstunde Kontrollen vor, da missgünstige Nachbarn bei Verdacht einzig darauf hinweisen mussten. Im Kanton Zürich wurde das Verbot erst 1972 (!) aufgehoben, im katholischen Kanton Wallis gar erst 1995. Dies mag für spätere Generationen völlig unverständlich klingen, war aber Realität, auch wenn diese spätestens ab den 60ern massiv unterlaufen wurde. Die örtliche Sittengeschichte sollte folglich bei Reminiszenzen aus vergangener Zeit berücksichtigt werden, da sie prägenden Einfluss hatte.

Ich muss sagen, mir gefällt Geschichte, auch die Sprache. Wo liest man in neuen Geschichten noch solche Rede: „Danke, Agnes, dass du mich anhörst …“ Das ist mal etwas anderes. Eine schöne Abwechselung.

Das war eben Hugentobler, geprägt durch die ihm zugekommene Sozialisation. Wobei, man könnte den Ausbruch in seine Begabung auch unter diesem Vorzeichen deuten.
Dass dir die Geschichte in diesem Rahmen und der gewählten Sprache gefällt, freut mich sehr. :)

„Realisierte“ ist hier wie in der modernen Umgangssprache angewandt, nämlich falsch. Man kann gedanklich nichts realisieren, nur mit Taten.

Ups, da bin ich wirklich der Umgangssprache auf den Leim gekrochen, die es in meinem Sprachschatz boshaft etablierte. Dabei gibt es ja einfache und klare Begriffe, die es treffend ausdrücken. Es ist nun einem natürlichen merkte gewichen.

Ich danke dir herzlich für das Lesen und Kommentieren sowie den Hinweis auf den Lapsus.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo appo

ich habe deine KG gerade mit Vergnügen gelesen.

Welch schöner Einstieg, das beflügelt meine Autorenseele.

Den Aufbau finde ich bis zum ersten Gespräch mit Agnes sehr gelungen.

Das Fundament, um Hugentoblers zunehmende Nöte plastisch aufscheinen zu lassen. In solchen Episoden hätte sich köstlich noch weiterfahren lassen, doch es sollte ja eine Kurze bleiben.

Ich weiß nicht, was ich von dem Fortgang des Geschichte halten soll, nachdem er Agnes seine Veränderung gestanden hat. Einerseits mag ich es, wie sie reagiert und freue mich, dass er von ihr Unterstützung erfährt. Andererseits frage ich mich, ob das eine realistische Reaktion für eine junge Frau in den Fünfziger Jahren ist.

Ich verstehe deinen Zwiespalt über diese Entwicklung. Betrachtet man es aus heutiger Sicht, wirkt es fremd. Nicht wenige Beziehungen enden heute mit der Erkrankung eines der Partner, da der andere es nicht ertragen kann oder will. Doch auch das auftretende Mitleid von Agnes war nicht einfach weiblich sozialisiert, sondern durch ihren Charakter mitgetragen. Ganz selbstlos war sie auch nicht, hoffte sie doch bis anhin, dass er sein zu korrektes Verhalten ablegen könnte.

Auch meine ich, dass eine schwierige, ablehnende Reaktion auf Hugentoblers Veränderung der KG eine zusätzliche Dynamik hatte bringen können. Aber, wie gesagt, ich bin unsicher und finde die Lösung, die du anbietest, auch gelungen.

Zweifellos hätte die Ablehnung durch Agnes eine enorme Wirkung ausgelöst und andere Zielrichtungen ermöglicht. Hugentobler wäre der Teppich unter den Füssen weggezogen, die Ansprechpartnerin in seinem seelischen Leid wäre ihm entzogen gewesen, schlicht ein Desaster. Es wäre für ihn der Weg in ein Fiasko geworden. Ich stelle mir vor, da wäre er verwirrt durch die Stadt geeilt, die Leute nur scheu wahrnehmend, doch ab und zu sein Blick magisch von der Gestalt einer Person angezogen, er müsste verzweifeln, in eine Depression stürzen. Hier wäre es zur ausgelassenen Tragikomödie geworden, einen Schritt, den ich nicht tun wollte. Es sollte erheiternd und unterhaltsam wirken, die Grenzen der Wirklichkeit ritzen, aber dennoch die Gefühlslage des Betroffenen ernsthaft angehen.

Es gab keine Nacktheit im Öffentlichen Raum und im privat war das, weiß ich, auch alles kompliziert.

In dem Jahr, in dem die Geschichte spielt, kam der schwedische Film „Sie tanzte nur einen Sommer“ in die Kinos. Erstmals wurde eine Nacktszene gezeigt – und prompt erschall der Ruf: Skandal! Es war, wenn ich mich recht besinne, eine völlig banale Szene. Ein Mädchen, das in Begleitung eines Jungen war, entkleidete sich und rannte im Mondlicht in den See, um zu baden. Ich erinnere mich, dass damals in einem Zigarettengeschäft das auch Zeitungen verkaufte, auf dem Korpus jeweils eine Beige „FKK-Hefte“ auflagen. Deren Titelblätter waren nicht zensuriert und zeigten meist Frauen in naturgegebener Erscheinung. Die Ladeninhaberin nahm auch keinen Anstoss daran, dass ich kleiner Knirps dies zu sehen bekam. Es war also schon gegenwärtig, teilweise verklemmt und nicht selten mit einer Doppelmoral.

Nicht, dass es heute weniger sexuelle Störungen gäbe, aber vielleicht hat die unterdrückte Sexualität deines Protagonisten nur einen ungewöhnlichen Weg genommen, sich Gehör zu verschaffen. Insofern könnte auch der Schluss nahe liegen, dass die beste Therapie für ihn sein könnte, einfach mit seiner Angebeteten ins Bett zu gehen.

Heute ist der Zulauf in Praxen infolge sexueller Störungen wahrscheinlich höher, da es damals tabuisierter war. Hätte Hugentobler sein Verlangen ausgelebt, wäre die Störung vielleicht nie eingetreten, aber nach Auftritt seiner Begabung, als therapeutisches Mittel, wäre es isoliert kaum die richtige Indikation geworden.

Ich weiß, du willst auf etwas anderes hinaus, aber wenn ich mir vergegenwärtige, wie asexuell meine Eltern im und nach dem Krieg erzogen worden sind, wie sie überhaupt nicht in der Lage waren, über Sexualität zu sprechen, dann finde ich das zumindest eine Deutungsmöglichkeit.

Als eine Deutungsmöglichkeit sehe ich es keineswegs verfehlt.

Mit C.G. Jung kann ich viel anfangen. Ich glaube, dass dein Protagonist bei ihm in guten Händen ist.

Jung passte mir als zeitgenössischer Tiefenpsychologe gut ins Bild, da ich davon ausgehen durfte, dass die meisten Leser ihn kennen. Ansonsten hätte ich an seiner Stelle eine fiktive Figur zeichnen und umschreiben müssen.

Ich danke dir herzlich für das Lesen und Kommentieren. Es freut mich sehr, dass die Geschichte bei dir an sich gut angekommen ist.

Schöne Grüsse aus dem vorfrühlingshaften Süden, auf der andern Seite des Rheins.

Anakreon

 

Lieber Anakreon,

es tut mir fast leid, dass ich Dir sagen muss, das Du mit der Geschichte bei mir nicht punkten konntest. Es freut mich aber in den Kommentaren zu lesen, dass der Text durchaus sensiblere und positivere Leser gefunden hat, als ich es in diesem Fall bin.

Also, ich sehe hier durchaus einen spannende Ansätze und auch ein Thema, aber die Geschichte dreht sich hier ständig um sich selbst und kommt dabei nicht so recht vorwärts. Irgendwann war ich soweit, nur noch drüberzulesen, darauf wartend, dass es forwärtsgeht, aber wieder schloss sich der Kreis und setzte nur zu einem neuen an. Schon dieses ganze Arztgespräch am Anfang fand ich ... lang und unspannend. Dann trat die Störung auf und ich dachte, hey, jetzt bewegt sich hier was, jetzt geht es los (das hätte von mir aus schon echt früher passieren können), um dann doch wieder zu verpuffen und im Gerede unterzugehen. Auch als Agnes dann mit der Erkenntnis kam, Du siehst Sachen nicht nur oberflächlich, dachte ich, oh jetzt der Dreh, jetzt kommt was, aber es kam nichts, er sah nackte Menschen und die Lösung ist - schau ihnen ins Gesicht. Dabei hätte man daraus - unter die Oberfläche schauen zu können - wirklich was sehr Spannendes stricken können.

Was ich wirklich eigenartig finde, wenn Dein Thema ist - und so habe ich es gelesen - diese Prüderie da blosszustellen und zu zeigen, wie Menschen darunter auch zu leiden hatten, dann ist der Text für mich mindestens genauso prüde, wie die Zeit es war. Der ist so verklemmt und traut sich nichts. Er ist brav und bieder und passt so auf die Zustände, die er eigentlich anprangert. Die sind alle so konform und richtig und moralisch, obwohl gerade die Moral aufgebrochen werden will. Ja - also, hier muss man doch mal raus aus diesem Kreis, hier muss sich doch wenigstens die Geschichte mal was trauen, denke ich.

Ja, diesmal war es kein Text für mich. Macht aber nichts, warte ich auf den nächsten ;). Stilistisch habe ich mich inzwischen aber echt an Dich gewöhnt :D.

Liebe Grüße Fliege

 

Liebe Fliege

es tut mir fast leid, dass ich Dir sagen muss, das Du mit der Geschichte bei mir nicht punkten konntest.

Schade, dass es mir nicht gelungen ist, dich mit einem Text zu überraschen, der deine Erwartungen erfüllt. Ich war mir aber bei der Abfassung schon im Klaren, dass es kein Publikumshit wird und eher nur vereinzelt Zustimmung finden kann. :( So setzte ich den Gedanken, der sich seit Monaten einnistete, für mich unter dem Vorzeichen Schreibübung um. :)

Also, ich sehe hier durchaus einen spannende Ansätze und auch ein Thema, aber die Geschichte dreht sich hier ständig um sich selbst und kommt dabei nicht so recht vorwärts.

Der erotische Ansatz, den das Thema bieten könnte und dessen Ausbreitung mehr Anklang fände, kommt nicht gross zum Tragen, da mir mehr an dem Herrn Hugentobler und seinem ausgefallenen Symptom gelegen war. Ein manischer Kreislauf, dessen Unterbrechung der Prot. eher verhindert, wenn er sich an den Strohhalm Begabung klammert. – Desungeachtet wäre sicher auch eine andere Version der Handlung möglich gewesen, in der Spannung und Reize die Überhand hätten.

Was ich wirklich eigenartig finde, wenn Dein Thema ist - und so habe ich es gelesen - diese Prüderie da blosszustellen und zu zeigen, wie Menschen darunter auch zu leiden hatten, dann ist der Text für mich mindestens genauso prüde, wie die Zeit es war

Nein, nein, es lag mir nicht daran die Prüderie anzuklagen, da bin ich viel zu gutmütig. Vielmehr fand ich es wichtig und richtig den Zeitgeist dieser Nachkriegsjahre nicht ausser Acht zu lassen, es ohne besondere Hervorhebung in die Verhaltensweisen einzubinden. Dadurch hat der Text gewollt eine schamhafte Zurückbindung. Die Moralvorstellungen unterliegen seit jeher Wandlungen, die in Abständen von Jahrzehnten hin und her pendeln. Ich erinnere mich da etwa an ein biographisches Werk von Charlotte Wolff, das ich vor Jahrzehnten las und in dem sie die wilde Zeit in Berlin der 20er Jahre beschrieb. Es musste damals trotz Bürgertum eine liberale Kultur existiert haben, was sich wieder änderte und heute wiederum anders ist.

Ja - also, hier muss man doch mal raus aus diesem Kreis, hier muss sich doch wenigstens die Geschichte mal was trauen, denke ich

Dies wäre durchaus möglich gewesen, wenn ich exaltierte Figuren gewählt hätte, die es zu jener Zeit auch gab. Wenn ich es mir so recht überlege, wäre das aufgetretene Symptom bei diesen jedoch überflüssig gewesen und es wäre eine ganz andere Geschichte geworden. - Tja, das habe ich jetzt davon, weil ich dieses fiktive Symptom unter die Haube bringen wollte.

Stilistisch habe ich mich inzwischen aber echt an Dich gewöhnt .

Das ist doch schone eine Erfolgsgeschichte. :D

Ich danke dir herzlich für das Lesen, die Auseinandersetzung und das Kommentieren, habe mich echt darüber gefreut.

Schöne Grüsse

Anakreon

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Anakreon,

Ich war gespannt, wie du deinen wunderbaren Einfall angehen würdest, ich glaub, da gibts tausend Möglichkeiten. Also eine sex and crime story hatte ich nicht erwartet, bei mir wärs sicherlich in den Klamauk abgeschweift, also ich war gespannt, was du daraus machst.
Und: es ist eine hübsche Geschichte. Die mag ich. Sie ist ganz sanft und lebt einzig von diesem zurückhaltenden Herrn, der unglaublich schüchtern wirkt und gar nicht merkt, wie liebenswert er ist, und dass die anderen Leute ihn mögen. Das stand für mich total im Vordergrund. Und der dann von seiner kleinen optischen Obsession übermannt wird.
Ich habe mangels Zeit die anderen Kommentare nicht gelesen, da überschneidet sich jetzt vielleicht was.
Ich würd mir wünschen, gerthans würd sie auch lesen, er hätte bestimmt seinen Spaß an deiner Geschichte.

Vorweg mal, wie auch schon bei deiner letzten Geschichte finde ich hier, dass deine Sprache gut passt. Du hast ja einen sehr einzigartigen, unverwechselbaren Sprachstil, der für manche fremd klingt, ich hatte noch nie Probleme damit, andere vielleicht schon, aber natürlich ist es auch so, dass man dann seine Themen und seine Protagonisten vielleicht anders finden und zusammenstellen muss, damit der Sprachstil stimmig wirkt. Ich finde, das gelingt dir hier wieder sehr gut.

Die Kribbelstörung ist erst einmal komisch, lustig, wenn er z. B. der Nachbarin begegnet, das hat eine sehr humorvolle Note. Und es wirkt ein bisschen so, als hättest du eine interessante Zeitkritik geschrieben, ausgerechnet in diesen prüden Jahren bekommt einer eine Sehstörung, die ihn die Frauen bis auf die Haut blank sehen lässt.
Wie das wohl heute wäre, wenn einer diese Sehstörung hätte? Oder welche Zeitgeiststörungen würde einen heute so quälen? Immer taub werden, wenn Leute Handy-Musik hören. Wohltuend blind werden, wenn die Chefin auf einen zuwalzt?
Kann Hugentobler (allein der Name ist schon klasse) dem weiblichen Durchblick noch etwas abgewinnen, wird er von der Sehstörung, betrifft sie Männer und Kinder, überfordert und muss weiblichen (!) Rat einholen, sich psychologisch behandeln lassen.
Ich finde es gut, dass du keine Slapstik-Szenen draus machst oder ins Klamaukige gehst, mir gefällt gerade, dass Hugentobler durch diese Störung gequält wird, bis er sie denn endlich als Fähigkeit und damit als behandlungswürdig akzeptieren kann. Diese Geschichte kann man psychologisch sehen oder vor dem Zeitkolorit betrachten. Es lässt vieles zu. Gerade das gefiel mir. Und was mir noch sehr gut gefiel, das war, wie du diesen Mann begleitet hast in deiner Geschichte. Du betrachtest und zeichnst ihn sehr einfühlsam, mitfühlend, mit einem sehr liebevollen Blick.
Mir ist auch aufgefallen, dass die meisten Leute ihn sehr zu mögen scheinen, egal wie eigenartig er sich gerade benimmt, immer ist jemand da, der besorgt reagiert. Die Nachbarin stützt ihn, der Lehrling erkundigt sich nach seinem Befinden, die Leute im Park denken mitleidig an ihn. Sogar der Arzt, der sich über seine Reaktion kurz entrüstet, wird sofort wieder milde. Hugentobler scheint ein sehr liebenswerter Kerl zu sein. Hast du hingekriegt nur über die Reaktionen, die die anderen Leute auf ihn haben. Fand ich gelungen.
Wenn ich hinausschaue in den Schneefall, denke ich, der Hugentobler hat einfach nur Frühlingsgefühle, möcht endlich eine Agnes haben und seinen Kopf an ihren nackten Busen betten, aber die Zeit und er selbst verbieten es ihm, so dass er sich eine außergewöhnliche Störung "zulegen" muss, damit er mit seiner und der allgemeinen Moral in Übereinstimmung stehen kann. Da könnt man glatt weiterspinnen, die Klinik mit solchen psychosomatischen Beschwerden wäre eine weitere Geschichte wert.
Auch dass er dann bei Jung in Behandlung ist, das sind alles so charmante Einzelheiten. Wie auch der Film, die Schlagzeile; was hätte der alte Adenauer dazu gesagt , dass sich so ein hübscher Busen hinter seinem Namen verbirgt?

An diesem Morgen fühlte Hugentobler sich nicht ausgeruht. Die Verärgerung über seinen Hausarzt, welcher ihm eine psychiatrische Behandlung nahelegte, hatte ihn lange daran gehindert einzuschlafen.
Ich hatte erst Schwierigkeiten, den nachstehenden Abschnitt zeitlich einzuordnen. Für mich wäre es leichter gewesen, wärst du da in der Zeit zurückgegangen. Zum Beispiel so: Dabei hatte es harmos angefangen ... Aber vielleicht ging das ja nur mir so.

Sein Coiffeur, dem gegenüber er es erwähnte, riet ihm zwecks besserer Durchblutung zu Kräutershampoo und Kopfmassage.
:)

Sein Hausarzt, Dr. Müller, den er ungern wegen einer solchen Lappalie aufsuchte, diagnostizierte eine Form von Kopfschmerz.
Warum nicht lieber Migräne, das gabs schon damals und Form von Kopfschmerz, würd ein Arzt das so sagen?
«Ich bin doch nicht verrückt!» Aus Hugo Hugentobler, der erst sprachlos war, brachen die Worte impulsiv, beinah schreiend hervor. Er war ausser sich, bebte sichtlich.
«Beruhigen Sie sich. Von verrückt kann keine Rede sein.»
«Was soll ich dann bei einer Irrenärztin?»
Genau so hätten meine Mutter oder mein Vater reagiert. Psochologen, Psychiater, Psyche, das war was, das ließ man besser nicht auf die Zunge und auch sonst nirgendwohin.

Vergleichsweise erwiesen sich manche Formen von Lähmungserscheinungen so heilbar, ohne dass diese Patienten vordergründig psychische Auffälligkeiten zeigten.
Ein bisserl schachtelig gebaut?

Mit einer rein körperlichen Diagnose hätte er sich abgefunden, aber Geisteskrank oder so etwas, nein, ein solches Eingeständnis erschien ihm untragbar.
geisteskrank klein schreiben

Als sich seine Wahrnehmung wieder klärte, blickte er direkt auf die nackten Brüste seiner Nachbarin. Die eine Hand erhoben, nun leer, in der sie vermeintlich die Zeitung trug.
vermeintlich gefällt mir hier nicht so, er weiß ja, dass diezeitung da sein muss, also vielleicht besser vorher? Und vielleicht getragen hatte? Wegen Vorzeitigkeit?

«Ist Ihnen nicht gut, Herr Hugentobler?» Frau Arbenz schaute ihn besorgt an.

«Ist Ihnen nicht gut, Herr Hugentobler?» Frau Arbenz schaute ihn besorgt an.

War das Absicht, dass sich das so wiederholt? Das würde ich doch anders lösen, denn so wirkt es wie ein unreiwilliger Tippfehler.

Unter der Schädeldecke, es lag tiefer KOMMA als er bisher meinte, war das Kribbeln stärker als sonst.

Hugentobler fühlte sich benommen. «Entschuldigen Sie bitte KOMMA Frau Arbenz, es muss der Kreislauf gewesen sein», bemerkte er, ohne sie direkt anzusehen.

Irgendwo hier in der Nähe muss noch ein Kommafehler vergraben sein, aber jetzt ist er mir entwischt.

Die verblassende Erinnerung gab im zusehends ein beschwingtes Gefühl, er hätte länger hinsehen, es sich einprägen sollen.
:)
Aber: ihm

«Ja natürlich, … was ich dir antat … aber … Es ist so schrecklich.» Zum zweiten Mal an diesem Tag stöhnte Hugentobler laut auf, was auch andere Mitarbeitende vernahmen und neugierig herüberblickten. «Es klingt völlig verrückt und hat überhaupt nichts mit dir zu tun, weshalb ich weglaufen musste.»
Och, da möcht man ihn am liebsten selbst ein wenig stützen.

Er war immer nett und korrekt gewesen, insgeheim dachte sie sich manchmal gar zu korrekt.
Siehst du? Kein Wunder, dass er sich da einen Busenblick zulegen muss, wenn er immer so korrekt ist. Selbst seine durchs Moralkorsett gezwiebelte Natur weiß einen Ausweg. Es ist herrlich, ich mags echt.

Hier im Gespräch bist du mal kurz in Agnes Perspektive gegangen, dass sie sich beschwingt fühlt durch seine Eröffnungen bei gleichzeitiger Besorgnis, das kann er nicht wissen, das weiß nur sie. Mich hats nicht weiter gestört, dieser Perspektivwechsel, (kam glaub noch mal vor) aber diese ganzen Perspektivwechseldinger werden mir soweiso zunehmend suspekt. Ich glaube hier macht es wenig bis gar nichts aus, aber aufgefallen ist mir jedenfalls, dass du vorher aus Hugentoblers Perspektive schreibst, und hier geht das so ein bisschen hin und her. Kannst ja mal gucken.

Insgesamt erschien mir das Gespräch mit Agnes ein bisschen lang, aber naja, das ist bei mir auch tagesformabhängig.
Auch dann beim Hausarzt erschien es mi ein wenig trocken und zu langwierig, wie der Arzt da über C.G.Jung referiert. Da könnt man ein wenig straffen.

«Nun ja, deine … nackten Brüste. Die Lichtreflektion war so, dass man diese sehen konnte. Nicht zu gross und fest waren sie.»
Das fand ich klasse, dass er da sofort dran denkt, wie sie ihm gefallen, er beschreibt sie nicht, er bewundert sie.

«Aber ich bin doch kein Hellseher. Als Buchhalter bin ich es gewohnt logisch zu kalkulieren, nur reale Fakten zu akzeptieren. Von magischem Klimbim wie es die Zauberkünstler bieten, habe ich nie viel gehalten. Die ziehen doch einzig mit billigen Taschenspielertricks den Leuten das Geld aus der Tasche.»
Eben! Kein Wunder, dass die Natur sich Bahn bricht.

Das Wissen, das Hugo sie nackt sehen konnte, wenn er sie konzentriert anschaute, war komisch und auch etwas beschämend.
dass

Auch der Reiz ihres unbekleideten Anblicks im Kino war nicht spurlos vorübergegangen. Seine lang gehegte Sympathie zu ihr verwandelte sich in Liebesempfinden, das ihm erst jetzt, dafür überschwänglich, bewusst wurde.
«Oder wir verloben uns gleich, hier und jetzt», bemerkte er hoffnungsvoller.
Er reagiert da ja wie ein Kind, das mag ich einerseits, andererseits hat mir gerade hier ein bisschen gefehlt, dass ich mehr Ateil an seinen Gefühlen nehmen kann. Dass sich Sympathie in Liebe wandelt, ich weiß nicht, wie man das ausdrücken kann, ohne dass es kitschig wirkt. Aber hier ist es mir ein bisschen zu formell.

Es war ihm auch gleichgültig, mit Irrenärzten hatte er glücklicherweise nie zu tun, und diesen suchte er ja nicht wegen Irresein auf, sondern einzig wegen seiner ungewöhnlichen Begabung, wie Dr. Müller sagte.
Das ist auch wieder goldig, den Hugentobler muss man echt reinlegen, damit er sich helfen lässt. Süß, wie er sich hier selbst ausknockt.
Sehr charmant. Und gern gelesen von der Novak, die vom verschneiten Frankfurt aus grüßt.

 

Ich nochmal, weil ich glaube, dass meine "Kritik" nicht ganz eindeutig rüberkam. Und ich schreibe das jetzt nicht, damit Du diese Geschichte hier abänderst, die steht. Aber vielleicht sind meine Gedanken ja etwas, was Dir bei weiteren Geschichten auch (!) im Kopf rumgehen könnte ;).

Der erotische Ansatz, den das Thema bieten könnte und dessen Ausbreitung mehr Anklang fände, kommt nicht gross zum Tragen, da mir mehr an dem Herrn Hugentobler und seinem ausgefallenen Symptom gelegen war.

Also, ich meinte keinen erotischen Ansatz, auch keinen Klamauk. Klar sprechen da die Leute an, aber auch eher der Unterhaltung wegen. Also in diese Richtung wollte ich es gar nicht gedacht wissen.

Ein manischer Kreislauf, dessen Unterbrechung der Prot. eher verhindert, wenn er sich an den Strohhalm Begabung klammert. – Desungeachtet wäre sicher auch eine andere Version der Handlung möglich gewesen, in der Spannung und Reize die Überhand hätten.

Auch das er sich an den Strohhalm der "Begabung" klammert ist durchaus etwas, was den Prot. auszeichnet und ihn charakterisiert, auch die Zeit in der er lebt. Aber, ist Dir schon mal aufgefallen, dass Du ihm und "seinem Leiden" nur aufgeklärte "Gegenspieler" bietest? Der kann doch gar nicht richtig leiden, weil um ihn herum, ihn alle verstehen? Überlege mal, wieviel stärker er von seinem Leiden ergriffen wäre, würden die Leute da auch zeitgemäß reagieren, bis er dann endlich den Jung findet ... Hilfe in einem, der es geschafft hat, sich aus den zeitlich Zwängen zu befreien und neue, andere Frage zu stellen und Wege zu gehen.

Nein, nein, es lag mir nicht daran die Prüderie anzuklagen, da bin ich viel zu gutmütig.

Leider :( (Jedenfalls als Autor)

Vielmehr fand ich es wichtig und richtig den Zeitgeist dieser Nachkriegsjahre nicht ausser Acht zu lassen .... Dadurch hat der Text gewollt eine schamhafte Zurückbindung.

Geanu das ist mein Problem. Du fängst den Zeitgeist ja ein, nur machst Du daraus nichts. Du hast einen Prot. und einen Zeitgeist aus den Fünfzigern und der Rest des Personals scheint schon ein paar Jahrzehnte weiter und aufgeklärter zu sein.

Die Moralvorstellungen unterliegen seit jeher Wandlungen, die in Abständen von Jahrzehnten hin und her pendeln.

Eben. Deshalb sage ich ja auch, starkes Thema.

Dies wäre durchaus möglich gewesen, wenn ich exaltierte Figuren gewählt hätte, die es zu jener Zeit auch gab.

Nein, nein, nein. Eben nicht. Du hättest nur Figuren wählen müssen, die für diese Zeit auch typisch waren. Da wäre er nämlich wirklich für Irre gehalten worden, man hätte Angst vor seinem Durchblick, er wäre die Pest der Moral gewesen. Und statt dessen, oh, dass ist schlimm für Dich, aber ich helfe Dir. Das verstärkt sein Leiden nicht, das bringt ihn nicht dazu, wirklich zu leiden, auch sozial, an der Moral zu Grunde zu gehen. Er hat da ein Leiden und er leidet ein bisschen, aber um ihn herum ist Verständnis und Großmut und achtziger Jahre Aufgeklärtheit.

Tja, das habe ich jetzt davon, weil ich dieses fiktive Symptom unter die Haube bringen wollte.

Das ist schon toll und weil es so toll ist, finde ich eben schade, dass Du es so in Friede und Freude löst, statt das Problem wirklich anzufassen. Da weckst Du Erwartungen in mir als Leser und dann kommen nur noch Streicheleinheiten.

So, ich hoffe, ich konnte mich diesmal etwas klarer ausdrücken. Ich würde auch gar nicht so viel auf Dich einreden, wenn ich die Idee nicht so verdammt gut finden würde und das Thema.

Liebe Grüße Fliege

 

Allein schon

«Das Burghölzli ist aber die Irrenanstalt!»,
muss jeden Jean Paul-Verehrer hier anlocken, bezeichnete Jean Paul noch die ganze Welt richtigerweise als Irrenhaus oder -anstalt, so trägt sie nun punktuell diesen wunderschön verniedlichenden Namen „Burghölzli“, in das sicherlich mancher mit einer andern Sicht auf die Welt einkehrt, nicht aber Hugentobler!

Alles schon gesagt,

lieber Anakreon?

Mitnichten & Neffen! Denn wo Hugenotten als „Eidgenossen“ ein fester Begriff sind, lohnt es sich, zum ahd. Wörterbuch – wegen seiner größeren Nähe zu alemannischen Dialekten – zu greifen, und der Name des Protagonisten dieser schlüpfrigen Nachkriegszeit-Geschichte (Adenauer & CG Jung liefern eine zeitliche Grenze) ist mehr als Omen. Findet sich unter „huggen“ /„hügen“ –
auch schon einmal „hogen“ (freilich mit begrenzter Bedeutung als „bedenken/beherzigen/bedacht sein“) –
eine Galerie von Bedeutungen als „gedenken, sich erinnern, im Bewusstsein haben, denken, hoffen, beherzigen, erkennen, denken an, bedenken, bedacht sein“ und damit nicht genug, sondern auch „erwägen, im Sinn haben, nachdenken, vermuten, achten auf, hören auf, sich freuen auf”, selbst “in Liebe entbrennen”, die Substantivierungen will ich dann gar nicht erst aufzählen, verstärkt doch der Vorname den ersten Teil des Hausnamens eh als der "glänzende Denker" (Hugo, Kurzform von Hu[gi]bert).

Aber der zweite Teil des Hausnamens hebt – wenig beruhigend - alles wieder auf, bedeutet doch „tobon/toben“ was im Altenglischen noch offensichtlich ist: „dofian“, und ordnet sich gehorsamst ein unter „dumm“ & „wahnsinnig sein“, was – natürlich – keineswegs Deine – wie ich fast immer finde – feine Geschichte mit feiner Ironie – hier schon im zwoten Satz

Sein Coiffeur, … -
was einer, der Coiffeure ungern konsultiert, und dann auch erst, wenn die Augenbrauen in der Suppe hängen, mehr als nur ironisch verstehn muss.

Freilich haperdet ma’ widda gehörich anne Koma-Setzung – vor allem beim Infinitv, aber eben nicht nur:

Die Vorstellung[,] eine Psychiaterin aufzusuchen[,] löste bei ihm panische Gefühle aus.

«Entschuldigen Sie bitte[,] Frau Arbenz, …

In der Hoffnung[,] es werde die Müdigkeit vertreiben, trank er …

Vorsichtig schielte er in die Richtung[,] in der Agnes ihren Arbeitsplatz hatte.
Sie spürte[,] da war mehr, verstand ….

…, aber kein Grund[,] zu einem Psychiater zu gehen, wie Doktor Müller es meinte.»

Erst bei einer Nachbarin, der ich im Treppenhaus begegnete[,] und dann am Samstagabend im Film.»

Oder was denkst du[,] was passiert, wenn du etwa im Tram sitzt.

«Ich glaube[,] Frau Doktor Wildermuth ist doch nicht die richtige Person[,] um dieses Problem zu lösen

… schritt eben eine junge[,] attraktive Frau nah an ihnen vorbei.

Hier nun wäre das erste Komma eher entbehrlich,
Er hat sich über die exakte Wissenschaft hinweg, vermehrt Kenntnisse auf dem Gebiet von Phänomenen erworben, …
, wenn es denn aber den Einschub beenden soll, sollte der Einschub – wie alles im Leben – auch einen Anfang haben
Er hat sich[,] über die exakte Wissenschaft hinweg, vermehrt …

Gelegentlich schnappt die Fälle-Falle nach Dir
…, die Frau legte eben den Arm um ihn, er lehnte seinen Kopf an ihrer Schulter.
Besser vllt. Akkusativ: „ihre Schulter“. Aber vllt. versteh ich die Situation auch falsch ...

Und wäre hier nicht statt der (durchaus korrekten) Dativ-Konstruktion der Genitiv eleganter, zumindest aber kürzer?, also statt

… trotzdem vier Tassen von dem Gebräu
…vier Tassen [des] Gebräu[s ?]

Zwingender aber hier:
… diesen suchte er ja nicht wegen Irresein auf, …
Nicht nur eleganter
… Irreseins

Hier wäre vllt. ein Konjunktiv zu wählen, je nach aufzuzeigendem Grad der Verunsicherung:
Anderseits fühlte sie sich jetzt verunsichert, was mit Hugo los war.

Gelegentlich wird, ohne dass jemand lachen müsste, „komisch“ für das treffendere „seltsam“ verwendet, wie hier
Das Wissen, das Hugo sie nackt sehen konnte, wenn er sie konzentriert anschaute, war komisch und auch etwas beschämend.

Und wäre in einem Zwiegespräch die Präposition nicht eher "zu" entbehren?
«Ich werde es mir überlegen», entgegnete er zu Dr. Müller.

Da is’ wat verschütt gegangen:
Im Film erging es mir ebenso, und auch als ich mich [im] Kino umgesehen hatte, sassen die Leute ganz ohne Kleidung da.

Und ein winziger Rechtschreibfehler:
Ein paarmal …
Immer getrennt:
… paar Mal

Mit andrer Sicht wie - fast immer - gern gelesen vom

Friedel

 

Liebe Novak

es ist eine hübsche Geschichte. Die mag ich. Sie ist ganz sanft und lebt einzig von diesem zurückhaltenden Herrn, der unglaublich schüchtern wirkt und gar nicht merkt, wie liebenswert er ist, und dass die anderen Leute ihn mögen.

:lol: Diese Zusammenfassung gefällt mir. Es gab mal einen Schweizer Film: Buchhalter Nötzli. Es war eben ein vertrockneter Buchhalter, den ich bei der Zeichnung der Figur Hugentobler zeitweilig vor Augen hatte.

Ich würd mir wünschen, gerthans würd sie auch lesen, er hätte bestimmt seinen Spaß an deiner Geschichte.

Er würde bestimmt auf die „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ von Freud aus dem Jahre 1905! zurückgreifen. :D

Vorweg mal, wie auch schon bei deiner letzten Geschichte finde ich hier, dass deine Sprache gut passt. Du hast ja einen sehr einzigartigen, unverwechselbaren Sprachstil, der für manche fremd klingt, ich hatte noch nie Probleme damit, andere vielleicht schon, aber natürlich ist es auch so, dass man dann seine Themen und seine Protagonisten vielleicht anders finden und zusammenstellen muss, damit der Sprachstil stimmig wirkt. Ich finde, das gelingt dir hier wieder sehr gut.

Du hast mich glattwegs durchschaut, warum ich das Thema auf die fünfziger Jahre fixierte, eine Fluchtbewegung. Mein Sprachduktus wird auf solche Zeiträume bezogen, allgemein eher akzeptiert. Es freut mich sehr, dass du diese Form hier passend findest.

Die Kribbelstörung ist erst einmal komisch, lustig, wenn er z. B. der Nachbarin begegnet, das hat eine sehr humorvolle Note.

Ja, es war meine Absicht, eine ernste Sache mit einem Touch Amüsement zu gestalten.

Wie das wohl heute wäre, wenn einer diese Sehstörung hätte? Oder welche Zeitgeiststörungen würde einen heute so quälen? Immer taub werden, wenn Leute Handy-Musik hören. Wohltuend blind werden, wenn die Chefin auf einen zuwalzt?

Bei solch Mutmassungen besteht direkt die Gefahr von Epidemien, die WHO würde überfordert.

Diese Geschichte kann man psychologisch sehen oder vor dem Zeitkolorit betrachten. Es lässt vieles zu. Es lässt vieles zu. Gerade das gefiel mir.

So habe ich es mir vorgestellt.

Und was mir noch sehr gut gefiel, das war, wie du diesen Mann begleitet hast in deiner Geschichte. Du betrachtest und zeichnst ihn sehr einfühlsam, mitfühlend, mit einem sehr liebevollen Blick.

So trat er in meiner Intention auf. Über die harten Burschen wird ja viel geredet in der Literatur, doch in der Wirklichkeit gibt es eine Palette von Charakteren.

Wenn ich hinausschaue in den Schneefall, denke ich, der Hugentobler hat einfach nur Frühlingsgefühle,

Tja, das zarte Spriessen in der Natur machte vor ihm nicht Halt. Bei uns blühen schon etliche verschiedene Frühlingsblumen, so dass ich ihn in diesen Tagen mir plastisch vorstellen kann.

Auch dass er dann bei Jung in Behandlung ist, das sind alles so charmante Einzelheiten. Wie auch der Film, die Schlagzeile; was hätte der alte Adenauer dazu gesagt , dass sich so ein hübscher Busen hinter seinem Namen verbirgt?

:lol:

Ich hatte erst Schwierigkeiten, den nachstehenden Abschnitt zeitlich einzuordnen. Für mich wäre es leichter gewesen, wärst du da in der Zeit zurückgegangen.

Zwischen dem ersten Absatz und dem Coiffeur ist ein rückwirkender Zeitsprung, der aufbauende Grund, weshalb er nicht einschlafen konnte. Ich hatte länger daran gegrübelt, anders zu beginnen, doch fand ich seine Angst vor der Psychiatrie den Aufhänger und stellte es vorab. – Vielleicht ändere ich daran noch etwas, im Moment habe ich jedoch noch zu wenig Distanz dazu.

Warum nicht lieber Migräne, das gabs schon damals und Form von Kopfschmerz, würd ein Arzt das so sagen?

Die Migräne ist eine bestimmte, intensive Form von Kopfschmerzen, die Hugentobler nicht hatte. Er verspürte keinen Schmerz, nur dieses komische Gefühl des Kribbelns. Heute kennt man gegen die 300 Arten von Kopfschmerzen, die nicht alle von Betroffenen so wahrgenommen werden. Im Gespräch mit Patienten äussert sich ein Arzt darum in einem solch spezifischen Fall schon so umschreibend.

Genau so hätten meine Mutter oder mein Vater reagiert. Psochologen, Psychiater, Psyche, das war was, das ließ man besser nicht auf die Zunge und auch sonst nirgendwohin.

Eine völlig natürliche Reaktion. Auch heute ist die Hemmschwelle bei vielen Menschen noch hoch, sich vorzustellen, sie brauchten solche Hilfe. Ihre Angst vor Stigmatisierung ist auch nicht ganz aus der Luft gegriffen, wenn es auch nicht mehr so eng gesehen wird, wie zu Hugentoblers Zeit.

Ein bisserl schachtelig gebaut?

Der kärgliche Versuch, den Sachverhalt in einen Satz zu pressen. Ich habe es nun etwas zusammengestaucht.

Zitat:
Als sich seine Wahrnehmung wieder klärte, blickte er direkt auf die nackten Brüste seiner Nachbarin. Die eine Hand erhoben, nun leer, in der sie vermeintlich die Zeitung trug.

vermeintlich gefällt mir hier nicht so, er weiß ja, dass diezeitung da sein muss, also vielleicht besser vorher? Und vielleicht getragen hatte? Wegen Vorzeitigkeit?

An diesem verflixten Satz dokterte ich mehrfach rum, habe es nun deinem Vorschlag gemäss geändert.

Zitat:
«Ist Ihnen nicht gut, Herr Hugentobler?» Frau Arbenz schaute ihn besorgt an.

«Ist Ihnen nicht gut, Herr Hugentobler?» Frau Arbenz schaute ihn besorgt an.

War das Absicht, dass sich das so wiederholt? Das würde ich doch anders lösen, denn so wirkt es wie ein unreiwilliger Tippfehler.

:heul: Das glaube ich jetzt nicht! In meinem Manuskript ist der Text nur einmal angeführt und ohne Leerzeile zum nächsten Satz. Aber abergläubisch werde ich deswegen nicht, wie ich mich erinnere, gab es elektronische Verbindungsprobleme, als ich die Geschichte postete.

Irgendwo hier in der Nähe muss noch ein Kommafehler vergraben sein, aber jetzt ist er mir entwischt.

Hipp, ich habe ihn gefunden, er lag vor: Er könnte stürzen. Nun ist das vorlautere Ding leiminiert.

Siehst du? Kein Wunder, dass er sich da einen Busenblick zulegen muss, wenn er immer so korrekt ist. Selbst seine durchs Moralkorsett gezwiebelte Natur weiß einen Ausweg. Es ist herrlich, ich mags echt.

:D

Hier im Gespräch bist du mal kurz in Agnes Perspektive gegangen, dass sie sich beschwingt fühlt durch seine Eröffnungen bei gleichzeitiger Besorgnis, das kann er nicht wissen, das weiß nur sie.

Ich denke, du meinst dies:
Agnes fühlte sich bei seinen Worten, dass sie ihm wichtig sei, ein wenig beschwingt, obwohl es sie auch beunruhigte, was er da über die Diagnose des Arztes gesagt hatte. «Ich verspreche es dir.»
Es ist die Erzählstimme, die ihre Gefühle und Gedanken umschreibt, bis sie dann selbst spricht.
Die Mühe des Lesers beim Perspektivenwechsel wurde aber bereits schon mal beanstandet und ich werde mir da noch Gedanken machen, wie ich dies eindeutiger setzen könnte oder auch kürzen.

Auch dann beim Hausarzt erschien es mi ein wenig trocken und zu langwierig, wie der Arzt da über C.G.Jung referiert. Da könnt man ein wenig straffen
.

Dies werde ich dann ebenso unter die Lupe nehmen, wenn ich die Geschichte aus zeitlich angemessener Distanz in ihren Reden und Wendungen nochmals durchgehe.

Das fand ich klasse, dass er da sofort dran denkt, wie sie ihm gefallen, er beschreibt sie nicht, er bewundert sie.

:lol: Kein Kostverächter. Wäre ich ein Literat, müsste ich ihn wohl als Gourmet bezeichnen.

Eben! Kein Wunder, dass die Natur sich Bahn bricht.

Eindeutig! Ich überlege mir, das Auftreten dieses Symptoms mit dem Schlüsselsatz Hugentoblers in den damaligen Fachwerken als Nachtrag festhalten zu lassen, und dem Zusatz, alles andere wäre widernatürlich.

Er reagiert da ja wie ein Kind, das mag ich einerseits, andererseits hat mir gerade hier ein bisschen gefehlt, dass ich mehr Ateil an seinen Gefühlen nehmen kann. Dass sich Sympathie in Liebe wandelt, ich weiß nicht, wie man das ausdrücken kann, ohne dass es kitschig wirkt. Aber hier ist es mir ein bisschen zu formell.

Hm, hm, der Hugi und seine Gefühle, das ist so eine Sache. Aber da ist er wirklich etwas gar arg, könnte seine Sympathien verspielen. Auch dieser Part wird in das Überdenken einfliessen.

Das ist auch wieder goldig, den Hugentobler muss man echt reinlegen, damit er sich helfen lässt. Süß, wie er sich hier selbst ausknockt.

Er gab sich Mühe nicht in eine irre Falle zu laufen. Gemein, dass das Kribbeln ihn ablenkte, so konnte es geschehen, dass der logische Datentransfer im Kopf eine falsche Weggabelung erwischte. Aber er blieb seiner Überzeugung treu.

Sehr charmant. Und gern gelesen

Das freut mich sehr.

Ich danke dir herzlich für das Lesen, den ausführlichen Kommentar und die Hinweise, welche zum Teil direkt einflossen, zum Teil aber noch der Reifung zur Überarbeitung harren.

Schöne Grüsse

Anakreon


PS: Friedels Korrekturen webe ich noch ein, doch mehr bewältige ich heute nicht mehr. Da ich mich in wenigen Stunden auf den Weg ins Schneeland Europa ennet dem Rhein mache und erst am Abend wieder in den Frühling hier zurückkehre, wird es wohl Donnerstag. Doch:

Fortsetzung folgt

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe Fliege

Ich nochmal, weil ich glaube, dass meine "Kritik" nicht ganz eindeutig rüberkam.

Es kommt bekanntlich in der Kommunikation schon vor, dass eine Botschaft vom Empfänger anders wahrgenommen wird, als der Sender es beabsichtigte. Ich glaube zwar nicht, dass ich deine Kritik so anders verstand, doch fiel meine Antwort möglicherweise in Teilen zu sehr auf einer Metaebene aus. Bei Kritiken achte ich schon darauf, was wie gesagt wird und gewichte es. Wesentliches bleibt da im Gedächtnis haften.

Aber, ist Dir schon mal aufgefallen, dass Du ihm und "seinem Leiden" nur aufgeklärte "Gegenspieler" bietest? Der kann doch gar nicht richtig leiden, weil um ihn herum, ihn alle verstehen? Überlege mal, wieviel stärker er von seinem Leiden ergriffen wäre, würden die Leute da auch zeitgemäß reagieren, bis er dann endlich den Jung findet ...

Du hast schon recht, dass das Leiden ihn nicht einfach wie ein Hammerschlag umwarf. Worin anscheinend unsere Sichtweise auseinandergeht, ist der Anspruch, den du an das Stück stellst. Du erwartest scharfe Konturen, eine geharnischte Reaktion seiner Umwelt, also den Konflikt. Dieser Konflikt findet durchaus statt, in seinem Innern, wobei ich jedoch die psychischen Abwehrmechanismen mitberücksichtigte. Zugegeben hätte seine Umwelt anders reagiert, was m. E. nicht zwingend mit zeitgemäss zu tun hat, wäre sein Konflikt diesbezüglich anders verlaufen. Es entsprach jedoch nicht meiner Intention, eine grosse Auseinandersetzung zwischen Protagonisten und Antagonisten ablaufen zu lassen.

Leider (Jedenfalls als Autor)

Einen Augenblick meinte ich, du wolltest meine Gutmütigkeit auf die Probe stellen. :D
Aber nein, dahinter steht deine internalisierte Meinung, wie sich Literatur darstellen muss. Ich respektiere und schätze deine literaturtheoretischen Ansichten durchaus und erkenne darin viel Wertvolles und Anregendes.

Geanu das ist mein Problem. Du fängst den Zeitgeist ja ein, nur machst Du daraus nichts. Du hast einen Prot. und einen Zeitgeist aus den Fünfzigern und der Rest des Personals scheint schon ein paar Jahrzehnte weiter und aufgeklärter zu sein.

Ich verstehe dein Problem, sehe es aber als ein Problem deiner Perspektive und deiner Erwartung von eher moralischen Figuren die es verkörpern. Hätte ich eine Gesellschaftskritik schreiben wollen, wäre dies beinah zwingend geworden, aber ich hätte es in der Rubrik Gesellschaft eingebracht. Zu Bedenken ist auch, dass der Zeitgeist bei Individuen verschieden stark aufgenommen und abweichend gelebt werden kann. Dem äusseren Rahmen, etwa den Moralvorstellungen, in denen die Individuen leben, können sie sich nicht gänzlich entziehen, es setzt auch ihnen gezwungenermassen Grenzen, sie müssen sich aber nicht in allen Sachverhalten unterwerfen.

Nein, nein, nein. Eben nicht. Du hättest nur Figuren wählen müssen, die für diese Zeit auch typisch waren. Da wäre er nämlich wirklich für Irre gehalten worden, man hätte Angst vor seinem Durchblick, er wäre die Pest der Moral gewesen. Und statt dessen, oh, dass ist schlimm für Dich, aber ich helfe Dir. Das verstärkt sein Leiden nicht, das bringt ihn nicht dazu, wirklich zu leiden, auch sozial, an der Moral zu Grunde zu gehen. Er hat da ein Leiden und er leidet ein bisschen, aber um ihn herum ist Verständnis und Großmut und achtziger Jahre Aufgeklärtheit.

Da muss ich noch einmal betonen, es lag nicht in meiner Absicht es so darzulegen, wie du es dir vorstellst. Ich finde deine Überlegungen sehr, sehr interessant und es könnte zweifellos Spannung erzeugen. Der Fokus würde sich aber ganz anders einstellen, weit abgeschlagen von dem, was ich mit der Geschichte vermitteln wollte.
Ein Insistieren gegen die Intention eines Autors kann Sinn machen, wenn diese auf verkehrten Rückschlüssen oder fehlender Logik in den Zusammenhängen basiert. Ich behaupte jedoch, dass dies in der Geschichte nicht der Fall ist. Was ich jedoch offen lasse, ob sie vielleicht viel besser ankäme, wenn sie deiner Vorstellung gemäss abgefasst wäre.

Da weckst Du Erwartungen in mir als Leser und dann kommen nur noch Streicheleinheiten.

Da gibt es für Leser vermutlich, mit Literatur allgemein, viel vergleichbare Erfahrungen. Mir ging es vor Kurzem so, als ich fasziniert ein Buch eines Bestseller-Autors kaufte, der mich stets überzeugte. Als ich es las, wurde ich arg enttäuscht. Ich will mich damit nicht herausreden. Es war mir von Anfang an klar, dass die Geschichte keinen allzu grossen Anklang finden wird, dazu ist sie zu abgehoben. Wenn ich Leser enttäusche, finde ich es natürlich auch unbefriedigend und hoffe einfach einmal im Mittelfeld zu liegen.

Ich würde auch gar nicht so viel auf Dich einreden, wenn ich die Idee nicht so verdammt gut finden würde und das Thema.

Das freut mich sehr, dies zu hören. Hoffentlich nistet sich mir nun aber nicht der Gedanke ein, ich könnte lediglich als Ideen-Lieferant fungieren und suche im Traum eine Ideen-Börse, die kreativ ausgepumpte Autoren bedient. :shy:

Herzlichen Dank für dein Nachfassen, das sich in den grauen Zellen nun unweigerlich festgebissen hat. Und nichts für ungut, wenn ich meine engstirnige Intention nicht so leicht auf dem Scheiterhaufen verfeuere.


+​

Lieber Friedel

Der Schock sass tief, als ich feststellen musste, dass so manche unverkennbare Notwendigkeit, und weise sie sich in Form von Kommas, beim vermehrten Durchsehen sich meinem Blick entzog. Da kann sich mein Entscheid, nur noch selektiv Geschichten einzubringen und dies erst nach intensiver Forschung nach Schwächen, nur verfestigen.

muss jeden Jean Paul-Verehrer hier anlocken, bezeichnete Jean Paul noch die ganze Welt richtigerweise als Irrenhaus oder -anstalt,

Jean Paul wäre heute jedoch enttäuscht, da man nicht nur die Bezeichnung Irrenhaus entfremdet hat, sondern auch der Name Burghölzli, dem nüchternen aber zeitgemässen Titel Psychiatrische Universitätsklinik Zürich weichen musste. Na ja, im Volksmund wissen noch etliche davon.

und der Name des Protagonisten dieser schlüpfrigen Nachkriegszeit-Geschichte (Adenauer & CG Jung liefern eine zeitliche Grenze) ist mehr als Omen.

Was du da unter dem Namen ausgegraben hast, lässt tief blicken. Dabei traf ich ihn diesmal nach dem Zufallsprinzip. Zur Auswahl überlegte ich mir auch Huggenberger, Senti, Vonlanthen und andere. Es sollte aber schon ein akzentuierter sein, einer der sich mit der Figur dadurch verbindet.

Zitat:
Sein Coiffeur, … -

was einer, der Coiffeure ungern konsultiert, und dann auch erst, wenn die Augenbrauen in der Suppe hängen, mehr als nur ironisch verstehn muss.

Der kam nun dagegen nicht zufällig ins Spiel. Dieser Berufsstand muss sich ja so vieles anhören, Freud und Leid wird denen vorgetragen. Die ersten Milchzähne des Kleinen, sein Schreien, bis hin zu Familiendramen sollen sich da unter der Haube entfalten. Schmerzensgeld erhalten sie dafür jedoch nicht, und die grossen Honorare tragen die Klagenden dann zum Seelenklempner, wenn das Gespräch trotz Kopfwäsche nicht entlastend wirkte.

Für das Lesen und deine unermüdlich Lektorate Leistung, die ich bereits vergangene Nacht schleunigst nachvollzog, sowie die Preisgabe deiner Assoziationen, welche mich schmunzeln liessen, danke ich dir herzlich.

Schöne Grüsse, euch beiden, aus dem Frühling. Durch ein paar nun doch hierher getragene Schneeflöcken erinnert es uns daran, dass der Winter im hohen Norden noch wirkt.

Anakreon

 

Hallo Anakreon,

ich habe keine der anderen Kritiken zuvor gelesen, und riskiere zugunsten der vorurteilsfreien Auseinandersetzung mit deiner Story mögliche Wiederholungen.

Früher gab es mal im Fernsehen eine Fernsehserie, die nannte sich "Unglaubliche Geschichten". In einer Episode konnte ein Mann plötzlich Gedanken lesen. Was ihn am Anfang noch amüsierte, wurde zunehmend zum Fluch und zur Belastung.

Daran hat mich deine Geschichte ein wenig erinnert-

Du hast sie in früheren Zeiten angesiedelt, schreibst mit einem eleganten und formvollendeten Stil. Dieser trägt die Handlung ruhig und ohne Eile voran, was du von Anfang bis Ende konsequent beibehältst.

Ähnlich wie bei Filmen, die früher deutlich weniger Schnitte und somit Mut zu langen Einstellungen und Szenen hatten, nimmst auch du dir Zeit für deine Szenen und Dialoge. Da muss man sich erst einmal ein wenig hineinfinden, sich darauf einlassen.

Ein Spannungsbogen war da, weil man natürlich von Anfang an, sobald dieses seltsame Phänomen beim Prot auftritt, wissen will, wohin das ganze führt.

Zwischendurch tritt schon mal die eine oder andere Länge auf, aber seltsamerweise habe ich das beim ersten Lesen stärker empfunden, als beim zweiten Mal, also hat das auch immer mit Tagesform zu tun, oder mit den Umständen, unter denen man einen Text liest.

Tja, die Spannung, die du bei mir aufgebaut hast, und die Neugier, wie das wohl enden wird, traf auf ein offenes Ende, ein sanfter Ausklang. So ist der Schwerpunkt der KG wohl eher in seiner zarten Romanze zu sehen, als in einer pointierten Auflösung einer seltsamen Geschichte.

Ja, ich gebe zu, mit einer Pointe gerechnet zu haben, und insofern war ich am Ende etwas ... irritiert.

Dennoch fand ich die Geschichte auf eine sympathische Weise unterhaltsam und stelle fest, dass du deinem Stil sowohl bei Kritiken als auch beim Gestalten deiner Geschichten unbeirrt treu bleibst. Für dich wäre der Maskenball vielleicht auch mal geeignet, etwas Neues auszuprobieren? Einen knallharten Krimi mit üblen Gestalten und hundsgemeinen Dialogen ;-)

Nun denn, ich verließ deine KG schon gestern und habe heute morgen beim Joggen darüber nachgedacht, wie ich sie wohl hätte enden lassen. Das zeigt ja, dass der Text bei mir nachhaltig wirkte!

Rick

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Rick

Es freute mich sehr, deine Meinung zu dieser etwas abgehobenen Geschichte zu lesen.

und riskiere zugunsten der vorurteilsfreien Auseinandersetzung mit deiner Story mögliche Wiederholungen.

Ich schätze die unbeeinflusste Meinungsbildung sehr, auch wenn solche nicht frei von etablierter Subjektivität sein kann, reflektiert sie doch die unmittelbare Begegnung mit dem Stoff.

In einer Episode konnte ein Mann plötzlich Gedanken lesen. Was ihn am Anfang noch amüsierte, wurde zunehmend zum Fluch und zur Belastung.

Ich ahnte, dass die utopische Idee an sich, das Wahrnehmungsvermögen eines Menschen könnte sich derart sprengen, nicht neu sein kann. In der Erinnerung hatte ich nur eine leicht annähernde Geschichte und suchte nicht nach anderen Vorgängern, um mich nicht selbst vom Thema abzuschrecken.

Du hast sie in früheren Zeiten angesiedelt, schreibst mit einem eleganten und formvollendeten Stil. Dieser trägt die Handlung ruhig und ohne Eile voran, was du von Anfang bis Ende konsequent beibehältst.

Das freut mich, diese Einschätzung. :)

Ähnlich wie bei Filmen, die früher deutlich weniger Schnitte und somit Mut zu langen Einstellungen und Szenen hatten, nimmst auch du dir Zeit für deine Szenen und Dialoge. Da muss man sich erst einmal ein wenig hineinfinden, sich darauf einlassen.

Um einen plausiblen Hintergrund zu schaffen, sah ich eine gewisse Notwendigkeit an Informationen, die mitlaufen müssen. An den Dialogen werde ich noch etwas schnippeln, sobald ich ausreichend Distanz zur Geschichte gewonnen habe. Die Längen darin, welche du und andere Leser bemerkten, ausgleichen. So etwa nach Ostern, denke ich, wage ich mich an die Beschneidung.

Ein Spannungsbogen war da, weil man natürlich von Anfang an, sobald dieses seltsame Phänomen beim Prot auftritt, wissen will, wohin das ganze führt.

Da fürchtete ich, er könne manchen Lesern zu seicht sein, da ich effekthaschende Szenen nur soweit einsetzte, als sie zum Verständnis seiner Störung notwendig waren. Dass es anscheinend gelang, die Neugierde der Leser wachzuhalten, liess mich aufatmen.

ein sanfter Ausklang. So ist der Schwerpunkt der KG wohl eher in seiner zarten Romanze zu sehen, als in einer pointierten Auflösung einer seltsamen Geschichte.

Das war mir mitunter ein Grund, sie zaghaft hinter einem unauffälligen Titel zu verstecken. Eine Pointe wirkte mir in diesem Kontext zu verfremdend, sodass ein sanfter Ausgang sich anbot. Dazu mache ich mir nochmals Gedanken. Es gäbe schon Variationen, doch macht eine dieser nur Sinn, wenn es eine unerwartete Wendung herbeiführt, die nicht konstruiert wirkt.

Dennoch fand ich die Geschichte auf eine sympathische Weise unterhaltsam und stelle fest, dass du deinem Stil sowohl bei Kritiken als auch beim Gestalten deiner Geschichten unbeirrt treu bleibst.

Mehr als unterhaltsam will sie nicht sein, dazu ist das Thema auch zu haarsträubend. Der Stil ergibt sich wohl aus meiner Arbeitstechnik, die mehr auf Spontanität setzt, als zwanghafter Vorgabe.
Bei den Kommentaren differenziere ich schon, gehe aber vorab meist vom Versuch aus, der vermeintlichen Intention eines Autors einfach mal zu folgen. Wenn ich über etwas stolpere, schaue ich dann jedoch kritischer hin und merke es an, wenn es mir bedeutungsvoll erscheint. Dabei bin ich mir bewusst, dass meine Sichtweise keineswegs die richtigere sein muss, es sei denn, es handle sich um unumstössliche Fakten.

Für dich wäre der Maskenball vielleicht auch mal geeignet, etwas Neues auszuprobieren? Einen knallharten Krimi mit üblen Gestalten und hundsgemeinen Dialogen ;-)

Ich musste schmunzeln, als ich die Maskenball-Auftritte bemerkte. Es erinnerte mich an die Begebenheit, dass in früheren Jahrhunderten zuweilen Autoren als Anonymus auftraten, damit man sie nicht als Urheber einer brisanten Schrift erkannte.
Bei mir würde eine (zweite) Maske aber ihren Dienst versagen, da mein Sprachduktus immer durchbricht und Inhalte auch bei überdeckender Linienführung, unweigerlich in entlarvenden Merkmalen münden.
Ich hatte mal versucht das Böse, entgegen meiner Diktion festzumachen. Die dargebotene Hand war ein Ausbruch, eine Idee, die ich nur zustande brachte, indem ich Wesentliches aus realen Gegebenheiten entlehnte und verdichtete. An sich suche ich aber nicht nach Themen und greife nur zu, wenn spontan ein Gedankengang sich etabliert, der niedergeschrieben sein will. Also bin ich kein Macher unter den Autoren, aber so gefällt es mir und hält mich frei von jeglichem inneren Zwang.

habe heute morgen beim Joggen darüber nachgedacht, wie ich sie wohl hätte enden lassen. Das zeigt ja, dass der Text bei mir nachhaltig wirkte!

Dass die Geschichte auf dich eine nachhaltige Wirkung hatte, du ihren Ausgang beim Laufen kathartisch überdachtest, beeindruckt mich.

Für das Lesen und deinen differenzierten Kommentar danke ich dir herzlich. Ich habe mich darüber sehr gefreut. Ob mein Schnippeln am Text diesen dann erheblich verbessern kann, muss sich erst noch weisen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

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