- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 22
Eine andere Sicht
Ausgeruht fühlte sich Hugentobler an diesem Morgen nicht. Die Verärgerung über seinen Hausarzt, welcher ihm eine psychiatrische Behandlung nahelegte, hatte ihn lange wach gehalten. Seine Gedanken kreisten um das Gefühl, welches ihn verunsicherte und er vergeblich versuchte loszuwerden. Dabei begann es völlig harmlos, ein leichtes Kribbeln im Kopf, das sporadisch auftrat. Sein Coiffeur, dem gegenüber er es erwähnte, hatte ihm zwecks besserer Durchblutung zu Kräutershampoo und Kopfmassage geraten. Zwar tat dies im Moment wohl, doch das Gefühl des Kribbelns, wie wenn Ameisen in breiter Front darin marschierten, stellte sich wieder ein. Dr. Müller, seinen Hausarzt, hatte er ungern wegen einer solchen Lappalie aufgesucht. Dieser diagnostizierte eine Form von Kopfschmerz. Nachdem das Symptom auf die verordneten Präparate auch nicht ansprach, hatte er eine klinische Untersuchung im Spital veranlasst. Die verschiedenen Abklärungen, darunter neurologische und psychologische Tests, waren ergebnislos verlaufen. Selbst Stromstösse, denen man ihn ausgesetzt hatte, änderten nichts an seinem Zustand.
Dr. Müller meinte, jetzt bliebe nur der Weg zum Psychiater. In solchen Belangen arbeite er vorzugsweise mit Frau Dr. Wildermuth, eine auf Psychosomatik spezialisierte Fachärztin, zusammen.
«Ich bin doch nicht verrückt!» Aus Hugo Hugentobler, der erst sprachlos gewesen war, brachen die Worte impulsiv, beinah schreiend hervor. Er war ausser sich, bebte sichtlich.
«Beruhigen Sie sich. Von verrückt kann keine Rede sein.»
«Was soll ich dann bei einer Irrenärztin?»
«Frau Doktor Wildermuth ist keine Irrenärztin!» Diese Worte hatte Müller scharf ausgesprochen. Er wartete, bis sich Hugentoblers emotionaler Ausbruch legte, und hatte dann in seiner üblichen, milden Tonlage erklärt: «Der Mensch ist ein sehr komplexes Wesen, was in seinem Innern manchmal zu völlig irrationalen Komplikationen führen kann. Hierbei treffen seelische und körperliche Komponenten aufeinander, die aus nicht immer offensichtlichen Gründen eine Disharmonie auslösen. Dies kann durch verschiedenste Formen von Überforderungen auftreten, etwa Anspannungen im Privatleben oder im Beruf. Doch auch Einsamkeit oder Rastlosigkeit könnten die Ursache sein. Ich will mich hier nicht festlegen, da es rein spekulativ wäre. Gewissheit kann nur eine entsprechend gründliche Untersuchung bringen. Wenn solche Symptome sich nicht in einem bestimmten Zeitraum selbst auflösen und keine körperliche Ursache feststellbar ist, findet man oft über eine psychosomatische Behandlung Zugang zu diesen Leiden und kann sie beheben.»
«Aber ich habe keine seelischen Probleme und bin nicht einsam oder mehr Anforderungen ausgesetzt als andere Leute auch. Da es nur Kopfschmerzen sind, braucht es doch keinen Psychiater!»
Müller liess sich nicht beirren. «Wie ich bereits ausführte, gibt es reaktiv körperliche Störungen, die ihre Ursache in der Psyche haben. Vergleichsweise waren manche Formen von Lähmungserscheinungen so heilbar, ohne dass diese Patienten psychische Auffälligkeiten zeigten. Ich will Sie nicht drängen, aber überlegen Sie es sich. Wir können zum jetzigen Zeitpunkt sicher noch etwas zuwarten, eine maligne Veränderung im Hirn konnte ja ausgeschlossen werden. Doch zögern Sie nicht zu lange, wenn es chronisch wird, erschwert es eine Behandlung massiv.»
Hugentobler fühlte sich stark verunsichert. Die Vorstellung, eine Psychiaterin aufzusuchen, hatte bei ihm ein panisches Gefühl ausgelöst. Mit einer rein körperlichen Diagnose hätte er sich abgefunden, aber mit einer Geisteskrankheit oder so etwas, nein, ein solches Eingeständnis erschien ihm untragbar. «Ich werde es mir überlegen», entgegnete er Dr. Müller. Insgeheim dachte er, ganz bestimmt nicht! Mit dem bisschen Kribbeln kann ich durchaus leben.
Seinen Kaffee bereitete er nach dieser alptraumartigen Nacht besonders stark zu, bitter im Geschmack, wie er beim ersten Schluck bemerkte. In der Hoffnung, es werde die Müdigkeit als auch die belastenden Gedanken vertreiben, trank er vier Tassen des Gebräus.
Im Treppenhaus begegnete ihm eine Nachbarin. Diese kam von unten ihm entgegen, die Morgenzeitung in der erhobenen Hand. Sie grüssten einander bereits aus Distanz. Sein Blick fiel auf die Zeitung, die Schlagzeile fixierend: „Konrad Adenauers erster Staatsbesuch in Italien …“ Die Schrift verschwamm vor seinen Augen und einen Moment sah er gar nichts mehr. Als sich seine Wahrnehmung wieder klärte, blickte er direkt auf die nackten Brüste seiner Nachbarin. Die eine Hand erhoben, nun leer, in der sie vorher die Zeitung getragen hatte.
«Ist Ihnen nicht gut, Herr Hugentobler?» Frau Arbenz schaute ihn besorgt an.
Da erst merkte er, dass er schwankte, als ob eine Kreislaufschwäche über ihn gekommen wäre. Er griff sich an den Kopf und rieb sich die Augen. Unter der Schädeldecke, es lag tiefer, als er bisher meinte, war das Kribbeln stärker als sonst. Die Nachbarin stand tadellos bekleidet mit einer rosafarbenen Bluse vor ihm, die Zeitung in der Hand. Mit der andern Hand stützte sie ihn, wohl in der Befürchtung er könnte stürzen.
Hugentobler fühlte sich benommen. «Entschuldigen Sie bitte, Frau Arbenz, es muss der Kreislauf gewesen sein», bemerkte er, ohne sie direkt anzusehen. Hastig und beschämt stürzte er die Stufen hinab, diese Halluzination hatte ihn völlig aus der Fassung gebracht.
Auf dem Weg zur Arbeit überlegte er noch, ob es nicht besser wäre umzukehren, sich krankmelden. Doch dies widerstrebte ihm. Er schob die Halluzination und das kurze Unwohlsein auf die Müdigkeit ab, in Kombination mit der Wirkung des überdosierten Koffeins. Die Erinnerung an diesen suspekten Moment liess ihn kurz auflachen, wenn Frau Arbenz geahnt hätte, was er an ihr erblickte. Er fühlte sich entspannter, obwohl das Kribbeln noch leicht vorhanden war. Unangenehm war es ja nicht, dieses Bild, das er sich von ihr machte. Sie war zwar nicht mehr die Jüngste, aber attraktiv hatte sie schon immer auf ihn gewirkt. Die verblassende Erinnerung gab ihm zusehends ein beschwingtes Gefühl, er hätte länger hinsehen, es sich einprägen sollen.
Für den Samstagabend verabredete sich Hugentobler mit Agnes Haag, einer Arbeitskollegin, die auch alleinstehend war, zu einem Kinobesuch. Im Rex brachten sie „Der Reigen“ von Max Ophüls, der mit Simone Signoret, Serge Reggiani und andern bekannten französischen Stars als unbedingt sehenswert angepriesen war. Der Andrang von Besuchern war, wie für das Wochenende gewohnt, gross, doch sie hatten sich frühzeitig eingefunden, da an Samstagabenden immer vor Filmbeginn die Plätze bereits ausverkauft waren.
Gebannt starrte er auf die Leinwand. Er fand Simone Signoret in der Rolle als Dirne eine faszinierende Frau, die Musik untermalte noch die Handlung. Dass sich bei ihm das Kribbeln einstellte, merkte Hugentobler gar nicht, da die Handlung ihn gefangen nahm. Irgendwann wurde das Bild einen Moment unscharf, als wären seine Augen überanstrengt und durch Tränen verschwommen, dann wurde es wieder klar. Erschrocken schaute er nach vorn, die Dirne war völlig unbekleidet. Ebenso andere Personen, die ins Spiel kamen. Er kniff die Lider zusammen, doch die Bilder blieben, ein Film von Nackten. Peinlich berührt schaute er vorsichtig zu Agnes, die gebannt auf die Leinwand sah. Als er seinen Blick an ihr hinabgleiten liess, war er fassungslos. Sie sass unbekleidet neben ihm, ebenso die Leute in der gleichen Reihe. Ein Schwindelgefühl erfasste ihn. Ich muss verrückt sein! Rasch stand er auf und drückte sich an der Reihe murrender Leute vorbei, ohne diese anzusehen, verliess er fluchtartig den Kinosaal.
Am Montagmorgen, es war ihm klar, er musste Agnes um Entschuldigung bitten, betrat er mit gemischten Gefühlen das Unternehmen. Er war früh dran, glücklicherweise war Agnes noch nicht anwesend, als er an ihrem Arbeitsplatz vorbeikam. Hinter seinem Pult in der Buchhaltung verkrochen, ein Stapel Papiere vor sich, versuchte er sich auf die Zahlen zu konzentrieren. Doch noch immer rang er nach den Worten, mit denen er sich Agnes erklären könnte. Eine plötzliche Übelkeit, die mich veranlasste wortlos hinauszurennen. Doch wie erkläre ich, dass ich nicht draussen wartete, bis die Filmvorführung vorbei war? Ich liess sie einfach sitzen …
Hugentobler stöhnte auf, es klang alles so unglaubwürdig.
«Ist Ihnen nicht gut, Herr Hugentobler?» Es war der Lehrling, der vor seinem Pult stand, Papiere in der Hand.
«Nein, nein, ich war nur in Gedanken bei einem Problem.» Er hatte weder bemerkt, dass die andern Mitarbeitenden inzwischen anwesend waren, noch ihr Grüssen gehört. Mit verlegenem Lachen hob er die Hand, um die Papiere entgegenzunehmen, die ihm der Lehrling hinhielt.
Vorsichtig schielte er in die Richtung, in der Agnes ihren Arbeitsplatz hatte. Die Räume waren durch Glasscheiben getrennt, sodass er sie auf Distanz erblicken konnte. Sie sass vor ihrer Schreibmaschine, Korrespondenzen erledigend. Auch wenn sie sich mal erhob, um einen Ordner aus einem Regal zu holen, vermied sie es tunlichst, zu ihm herüberzusehen. Sie ist zutiefst beleidigt und das mit Recht. Er fühlte sich unglücklich, ja richtiggehend elend. Sie waren zwar nicht intim befreundet oder liiert, es hatte sich einfach ergeben, dass sie immer öfter etwas zusammen unternahmen. Für beide brachte dieses ungezwungene Zusammensein eine Abwechslung. Es würde ihm fehlen, wie ihm nun bewusst wurde, wenn sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Abrupt stand er auf.
«Agnes, ich muss mit dir sprechen.» Nervös stand er neben ihrem Schreibtisch, sich nicht klar, wie er beginnen sollte.
«Guten Morgen, ist ja wohl das Mindeste, was ich erwarten darf», bemerkte sie spitz.
«Entschuldige bitte. Selbstverständlich, guten Morgen.» Er fuhr sich zerfahren mit der Hand über den Kopf. «Ich bin völlig durcheinander, weiss nicht, wie ich es dir erklären soll … das, was samstags passierte.»
«Du meinst, was mir geschah?» Ihre Augenbrauen hatte sie demonstrativ in die Höhe gezogen, während sie ihn von ihrem Stuhl aus von unten ansah.
«Ja natürlich, … was ich dir antat … aber … Es ist so schrecklich.» Zum zweiten Mal an diesem Tag stöhnte Hugentobler laut auf, was auch andere Mitarbeitende vernahmen und neugierig herüberblickten. «Es klingt völlig verrückt und hat überhaupt nichts mit dir zu tun, weshalb ich weglaufen musste.»
Agnes war es peinlich, da die andern Mitarbeitenden auf sie aufmerksam wurden und bestimmt die Ohren spitzten. Anderseits verunsicherte es sie jetzt, was mit Hugo los war. Er war immer nett und korrekt gewesen, insgeheim dachte sie sich manchmal gar zu korrekt. Sie hatte auch schon überlegt, den ersten Schritt zu tun. Wäre er am Samstagabend nicht davongelaufen, ihre Absicht war auf jeden Fall vorhanden, der Film hatte sie erst noch animiert. Nein, dieses Verhalten hatte überhaupt nicht zu ihm gepasst. «Wir können uns in der Mittagspause unterhalten», ihre Worte klangen immer noch etwas spitz, aber doch mit einem Ton von Unsicherheit.
«Danke, Agnes, dass du mich anhörst. Also bis mittags.» Hugentobler fühlte sich erleichtert. Nicht, dass sein Problem dadurch geringer wurde, wie er es ihr erklären sollte, aber sie gab ihm überhaupt eine Chance dazu.
Sie hatten sich belegte Brote besorgt und spazierten wortlos am Seeufer entlang. Auf einer freien Parkbank liessen sie sich nieder, um zu essen.
Nach dem letzten Bissen fing Hugentobler an, zu sprechen. «Es begann alles so harmlos.»
Agnes schaute ihn irritiert an, meinte er sie beide damit?
«Es war ein Kribbeln in der Kopfhaut unter dem Haaransatz. Anfänglich dachte ich, es sei nur eine Durchblutungsstörung und liess mich entsprechend behandeln.» Er schilderte ihr die ergebnislosen Untersuchungen. «Mein Hausarzt …» Hugentobler begann zu stottern. «meinte dann … es sei … sei psychisch ausgelöst. … Durch Überforderung oder dergleichen. Dabei fühle ich mich weder privat noch beruflich überfordert.»
Agnes legte eine Hand auf seinen Arm. Sie spürte, da war mehr, verstand es zwar immer noch nicht, doch ihr kam ein warmes Gefühl von Mitleid auf. Er hatte gesagt, er fühle sich privat nicht überfordert, das bezog sich doch auf sie.
«Mit diesem blöden Kribbeln kann ich gut leben, es ist zwar zeitweilig etwas komisch, aber kein Grund, zu einem Psychiater zu gehen, wie Doktor Müller es meinte.»
Agnes drückte leicht seinen Arm.
«Aber es ist dann etwas passiert. Nein, jetzt sogar zweimal. Erst bei einer Nachbarin, der ich im Treppenhaus begegnete, und dann am Samstagabend im Film.» Hugentobler trat Schweiss auf die Stirn. Sein Mund öffnete sich, doch er brachte kein Wort heraus, nur ein paar stammelnde Laute.
«Was ist passiert? Hattest du einen Migräneanfall?» Sie schaute ihn besorgt an, ihre Hand strich nun sachte an seinem Arm.
«Nein, nichts Derartiges.» Hugentoblers Sprachhemmung hatte sich wieder gelöst. «Das Kribbeln verwandelte sich zu einem fliessenden Strom und meine Sicht veränderte sich. Ich sah zwar die Menschen, die ich betrachtete, aber anders, als sie waren.»
«Das klingt ja unheimlich,», bemerkte Agnes. Einen Augenblick hatte sie den Schauspieler Boris Karloff vor Augen, in einer seiner monsterhaften Rollen. Diese Vorstellung schien ihr jedoch zu absurd. «Wie zeigte sich denn die Veränderung?»
«Das ist ja das Schreckliche.» Hugentobler bemühte sich die richtigen Worte zu finden, ohne Agnes zu brüskieren. «Es klingt völlig verrückt, oder wenn man es jemandem erzählt, auch provozierend und beleidigend.»
«Jetzt sag schon, ich werde weder lachen noch böse werden.»
«Versprichst du mir das? Es ist wirklich ehrlich was ich sage, kein dummer Scherz, das würde ich mir nie erlauben. Dazu bist du mir viel zu wichtig. Ich habe bisher auch mit niemand anderem darüber gesprochen.»
Agnes fühlte sich bei seinen Worten, dass sie ihm wichtig sei, ein wenig beschwingt, obwohl es sie beunruhigte, was er da über die Diagnose des Arztes gesagt hatte. «Ich verspreche es dir.»
«Also, wenn ich die Leute fixiert betrachte, wie da im Film, sehe ich plötzlich durch die Stoffe hindurch. Auch als ich meiner Nachbarin begegnete. Sie hatte die Zeitung in der Hand. Als ich meinen Blick auf die Schlagzeile konzentrierte, verschwamm es vor meinen Augen und ich sah sie unbekleidet. Im Film erging es mir ebenso, und auch als ich mich im Kino umgesehen hatte, sassen die Leute ganz ohne Kleidung da. Da konnte ich nicht mehr, bin einfach davongerannt.»
Agnes war verdutzt und ein Moment sprachlos. Dann kam es nicht ganz ohne amüsierten Unterton. «Das ist ja etwas, wovon Männer ansonsten wohl nur träumen.» Dann stutzte sie. «Hast du mich etwa auch so gesehen?»
Hugentobler errötete und machte ein zerknirschtes Gesicht. «Ja, aber es war im Halbdunkel, also mehr schemenhaft.»
«Da hat dein Hausarzt nicht unrecht, dass du Hilfe brauchst. Aber ich denke, es ist eher ein Streich der Fantasie, der da abläuft. Männerfantasie, die da überbordet. Wobei, wenn ich es mir überlege, könnte es für eine Frau manchmal auch ganz angenehm sein, einen schön gebauten Körper zu erblicken.» Sie lächelte über diesen Gedanken.
«Du glaubst mir also?»
Agnes blickte ihn einen Moment ernst an. «Doch, ich glaube dir. So unsinnig es klingt, hat es mir doch eine gewisse Plausibilität. Niemand würde sich so etwas ausdenken. Aber es ist wirklich sehr, sehr merkwürdig.»
Hugentobler seufzte. «Ich weiss nun nicht, was ich machen soll. Ich bin doch nicht verrückt. Doktor Müller meinte zwar, dem sei nicht so, doch er konnte da nicht wissen, was mir noch widerfahren wird. Diese Halluzinationen sind erst später dazugekommen.»
«Hm. Jetzt möchte ich doch noch genau wissen, was du bei mir gesehen hast? Irgendetwas musst du ja erkannt haben.»
«Nun ja, deine … nackten Brüste. Die Lichtreflektion war so, dass man diese sehen konnte. Nicht zu gross und fest waren sie.»
Agnes war leicht errötet bei diesen Worten. «Gab es da irgendetwas Besonderes daran, das dir aufgefallen ist?»
Hugentobler überlegte, versuchte sich das Bild abzurufen. «Schön waren sie.»
Agnes lachte. «Sonst nichts, kein besonderes Merkmal?»
Nun erinnerte sich Hugentobler, das Bild war ihm nun klar vor Augen, wie es sich in der Erinnerung einbrannte. Es war zwar Halbdunkel gewesen, dennoch erkennbar. «Ein Muttermal an der linken Brust.»
Agnes schaute ihn einen Moment mit offenem Mund an. … « Das stimmt, ich habe da ein Muttermal. … Du siehst Dinge, die normalerweise nicht sichtbar sind.»
«Das ist doch verrückt!», Hugentoblers Stimme klang nun verzweifelt. Dass es mehr als Halluzination sein könnte, was er bisher abwehrte, drang nun überschwemmend in sein Bewusstsein. Etwas stimmte wirklich nicht mit ihm.
Agnes widersprach: «Nein, das glaube ich nicht. Wenn es nur Fantasien wären, Vorstellungen, die du dir einbildest, würde ich sagen, es ist krank. Aber du erkennst die Dinge, wie sie wirklich sind. … Vor dem Krieg gab es in Deutschland doch diesen Hellseher, Hanussen hiess er. Er soll mit unglaublicher Präzision Dinge vorausgesagt haben, die er gar nicht wissen konnte. So etwa den Reichstagsbrand. Wie ich hörte, besass er verschiedene unglaubliche Fähigkeiten. Da ist es doch möglich, dass bei dir sich etwas Ähnliches abspielt, nur eben anders?»
«Aber ich bin doch kein Hellseher. Als Buchhalter bin ich es gewohnt logisch zu kalkulieren, nur reale Fakten zu akzeptieren. Von magischem Klimbim wie es die Zauberkünstler bieten, habe ich nie viel gehalten. Die ziehen doch einzig mit billigen Taschenspielertricks den Leuten das Geld aus der Tasche.»
Agnes, der aufgrund seiner Verzweiflung ein starkes Mitgefühl aufgekommen war, musste über diesen, nun nüchternen Ausbruch lachen. «Ich wollte dich damit nicht auf die Stufe von Zauberkünstlern oder Scharlatanen stellen, nein überhaupt nicht. Aber es soll doch vereinzelt Menschen geben, deren Wahrnehmung sensibler ist, die eine Begabung entwickelten, wie sie nicht jeder hat.»
«Aber was ich habe, ist doch keine Begabung, eher eine Sehstörung. Wenn dies jemand merkt, sieht man in mir eine Gefahr, ein Lüstling, den man wegsperren wird.»
Nun war es an Agnes, der Betroffenheit aufkam. «Aus dieser Sicht habe ich es noch gar nicht überlegt», meinte sie. «Du hast recht, es darf niemand etwas merken, sonst gibt es ernsthafte Probleme.»
«Das meine ich ja.» Hugentoblers Stimme war nun weinerlich, da er sich seiner Situation hilflos ausgeliefert sah. Er schaute nicht mal auf, als er spürte, wie Agnes seine Hand ergriff.
«Ich werde dir beistehen», ihre Stimme hatte einen sanften, liebevollen Klang. Ein wenig unwohl war ihr schon. Das Wissen, dass Hugo sie nackt sehen konnte, wenn er sie konzentriert anschaute, war seltsam und auch etwas beschämend. Doch sie war sich gewiss, dass er seine Fähigkeit nicht missbrauchen würde, nicht er.
Eine Zeitlang waren sie schweigend dagesessen, jeder in seine Gedanken vertieft, als Stimmen sie aufsehen liessen. Eine Familie kam daher, ein kleiner Junge trieb einen grossen Holzreifen mit einem Stecken neben sich her. Die Erwachsenen schwatzten laut, die Frau ging Hand in Hand mit einem kleinen Mädchen.
Hugo hatte auf den Jungen geachtet, es gab sie also noch immer, diese Holzreifen, mit denen er als Kind selbst gern gespielt hatte. Da stockte ihm der Atem, mühsam zwang er sich, seinen Blick wegzureissen. Nun gerieten die andern Familienmitglieder in seinen Fokus, alle nackt. Er schlug die Hände vor sein Gesicht und begann zu weinen.
Die Familie war auf das Paar aufmerksam geworden. Das Schluchzen des Mannes war nicht laut aber doch wahrnehmbar, die Frau legte eben den Arm um ihn, er lehnte seinen Kopf an ihre Schulter. Mitleidig schauten sie auf die beiden, eine schlimme Nachricht musste den Mann getroffen haben.
Agnes merkte anhand der Reaktion von Hugentobler, was passiert sein musste. Es mochte ja angenehm sein, eine bestimmte attraktive Person unbekleidet zu erblicken, aber so ungewollt und dazu noch eine Familie mit Kindern, das schockierte sie auch. Sie war nicht prüde, eine Freundin von ihr ging regelmässig ins FKK-Gelände auf dem Zürichberg zum Sonnenbaden. Ein paar Mal hatte diese versucht sie mitzuschleppen, doch hatte sie stets abgelehnt. Die Vorstellung, sich unbekleidet unter fremde nackte Leute zu mischen, war ihr doch zu unangenehm. Sie strich Hugentobler nun sanft übers Haar, um ihn zu trösten. «Vielleicht hat dein Arzt doch recht und es ist mit fachärztlicher Hilfe möglich, diese … hm … Fähigkeit, zu beeinflussen.»
«Du willst mich also auch in die Psychiatrie stecken», erklang Hugentoblers Stimme tränenerstickt unter den Händen hervor. Der Weinkrampf schüttelte ihn.
Agnes war zutiefst betroffen, so hätte sie ihn sich nie vorstellen können, unter keinen Umständen. Er war immer sehr selbstbewusst und zugleich höchst korrekt aufgetreten. Ein Mann, dem man vertrauen konnte und den man auch gerne um Rat fragte, wenn man selbst nicht weiter wusste. Nun sass er hier wie ein Häufchen Elend. So absurd die Situation auch war, es wurde ihr nun erst recht bewusst, dass sie viel mehr für ihn empfand, als sie sich bis anhin eingestand. Wenn sie ihn nicht verlieren wollte, müsste sie ihm helfen dies durchzustehen, komme was auch immer. Energisch entgegnete sie seinem verzweifelten Ausruf. «Nein, ich will dich nicht in die Psychiatrie stecken, dazu bist du mir viel zu wichtig. Aber ich möchte, dass du Hilfe annimmst, um zu sehen, ob die Ärztin, welche Doktor Müller vorschlug, es nicht beheben kann. Er sagte doch, dass sie bei seltsamsten psychosomatischen Beschwerden andern helfen konnte. Ich verstehe ja nichts davon, aber an deiner Stelle würde ich keinen Moment zögern, es bei ihr zu versuchen.»
Hugentobler blickte sie mit rotumränderten und feuchten Augen an. Spontan küsste sie ihn auf den Mund, ihr Eingeständnis von vorhin noch bestärkend und wie besiegelnd.
Hugentobler fühlte sich angenehm berührt und verblüfft, doch sein Problem überlagerte diese Empfindung wieder. «Du meinst, ich solle es wagen? Man sperrt mich dann nicht einfach weg?»
«So einfach sperrt man Menschen nicht weg und du hast ja niemandem etwas angetan. Mich darfst du anschauen, soviel du willst», sie errötete etwas bei ihren Worten, «und ansonsten musst du dich bemühen, den Leuten nur ins Gesicht zu blicken, dann kann nichts passieren.»
Ein Hoffnungsschimmer keimte in Hugentobler. «Das ist die Lösung, ich schaue den Leuten nur noch ins Gesicht.» Er lachte befreit auf. «Dann muss ich aber nicht zu dieser Psychiaterin.»
«Nein, Hugo, so geht es nicht», herrschte Agnes ihn streng an. Sein Verhalten kam ihr nun etwas unreif vor. Kaum sah er eine Zwischenlösung für sein Problem, meinte er, er könne seiner dummen Angst nachgeben. «Wir gehen nun zusammen zu Doktor Müller, dann kann er dich für eine ambulante Behandlung überweisen, nur so führt es zu einer nachhaltigen Lösung. Oder was denkst du, was passiert, wenn du etwa im Tram sitzt. Auf der Bank dir gegenüber sitzt vielleicht eine alte Frau. Du wirst ihr nicht dauernd ins Gesicht schauen, das wäre zu komisch. Unbedacht gleitet dein Blick dahin, fixiert sich irgendwo, und du nimmst welke Brüste wahr. Diese sind völlig normal, doch nicht unbedingt attraktiv anzusehen. Oder was war vorhin mit der vorbeigehenden Familie, das war wirklich arg.»
Diese drastische Schilderung erschreckte Hugentobler umso mehr, da die Erfahrung mit den Kindern ihn schockartig getroffen hatte. «Du hast recht, doch ich habe Angst, dass Müller diese so weit gehende andere Sicht nicht versteht, und mich für verrückt hält. Vielleicht meint, ich könnte andern gefährlich werden.»
Beschwichtigend bemerkte Agnes: «So, wie du ihn mir geschildert hast, wird er dies sicher nicht denken. Auch hat man alles andere klinisch ja bereits abgeklärt. Also wird er sich schon an das halten, was er vorgeschlagen hat. Und ich bin bei dir, ich werde dich unterstützen.»
«Hm, aber wenn die sagen, du könntest da nicht mitreden, wir seien ja nicht verwandt?»
Einen Moment stutzte Agnes, Hugo hatte recht, das Arztgeheimnis! «Wir erklären, wir seien verlobt, dann machen die keine Schwierigkeiten. Irgendwann holen wir dies dann nach.»
Ihre Worte hatten ihn vom Kern seines Problems abgelenkt, ihm eine neue Perspektive gegeben, die ihm für den Moment wenigstens geeignet war, aus seinem Tief herauszukommen. Auch der Reiz ihres unbekleideten Anblicks im Kino war nicht spurlos vorübergegangen. Seine lang gehegte Sympathie zu ihr hatte sich schon seit einiger Zeit in ein zartes Liebesempfinden verwandelt, das ihm erst jetzt, dafür überschwänglich, bewusst wurde. «Oder wir verloben uns gleich, hier und jetzt», bemerkte er hoffnungsvoller.
Obwohl nicht angemeldet, war Dr. Müller bereit Hugentobler zwischen zwei anderen Terminen einzuschieben, da sie Dringlichkeit bei der Praxisassistentin anmeldeten.
Geduldig hörte er die Schilderung von Frau Haag an, der Verlobten von Hugentobler. Dieser sass bleich neben ihr und hatte seinen Blick starr auf die Seite gewandt. Ein kurzes Lächeln war über sein Gesicht gehuscht, als er erfuhr, wie die andere Sicht seines Patienten sich manifestierte. Als Agnes endete, schwieg auch Dr. Müller einen Moment, Hugentobler sinnierend anblickend.
«Ich glaube, Frau Doktor Wildermuth ist doch nicht die richtige Person, um dieses Problem zu lösen. Für Ihre ungewöhnliche Begabung, einem doch merkwürdigen Phänomen, welches bei Ihnen auftritt, hat die Psychosomatik eher auch keine rehabilitierende Therapie zur Hand.»
Hugentobler war aufgeschreckt und sah ihn entsetzt an. «Ich will aber nicht in die Psychiatrie!», schrie er auf.
Dr. Müller schmunzelte kurz. «Nein Herr Hugentobler, dazu besteht keinerlei Anlass. Aber das Problem müssen wir natürlich schon angehen, wobei mir schwebt da ein anderer Arzt vor. Dieser war, vor seiner Zeit als Ordinarius, während neun Jahren der ärztliche Leiter des Burghölzli …», weiter kam er nicht, da Hugentobler sich wieder erregte.
«Das Burghölzli ist aber die Irrenanstalt!»
«Lassen Sie mich erst mal fertig sprechen, Herr Hugentobler, und beruhigen Sie sich.» Unterstützung suchend schaute er Agnes an, die beruhigend ihre Hand auf den Arm von Hugentobler legte.
«Also dieser Arzt befasste sich, nach seiner klinischen Tätigkeit, der Erforschung von Phänomenen, und zwar zu solchen, zu der die Psychiatrie auf Distanz geht. Ich denke, wenn jemand das Wissen und die Kompetenz besitzt, um ihre Befindlichkeit erfolgreich zu behandeln, dann ist er es. Wie Frau Haag richtig sagte, lässt sich Ihr Problem zwischenzeitlich regulieren, indem Sie anderen Menschen nur ins Gesicht schauen. Es ist auch nicht sicher, ob es gelingen kann, die andere Sicht, wie Ihre Verlobte es so schön nannte, ganz zu beheben. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass es sich stark regulierend in den Griff bekommen lässt. Wenn Sie also einverstanden sind, werde ich gleich einen Termin mit Doktor Jung vereinbaren. Er ist zwar weit über Siebzig, aber an ungewöhnlichen Fällen noch immer höchst interessiert.»
Agnes drückte bestärkend die Hand von Hugentobler. «Doch ja, ich bin einverstanden», bemerkte dieser mit einem Seufzer.
Dr. Müller telefonierte und forderte einen raschmöglichsten Termin. Dann wandte er sich wieder an Hugentobler. «Sie haben mitgehört, morgen um vierzehn Uhr. Ich notiere Ihnen hier noch die Adresse, er wohnt in Küsnacht.»
Hugentobler blickte auf den Zettel mit Adresse und Telefonnummer. Der Name kam ihm bekannt vor, doch wusste er nicht woher. Es war ihm auch gleichgültig, mit Irrenärzten hatte er glücklicherweise nie zu tun, und diesen suchte er ja nicht wegen Irreseins auf, sondern einzig wegen seiner ungewöhnlichen Begabung, wie Dr. Müller sagte.
Im Treppenhaus trat bei Hugentobler schlagartig das Kribbeln wieder auf, intensiver als je. Als sie das Haus verliessen, schritt eben eine junge, attraktive Frau nah an ihnen vorbei. Hugentobler stockte im Schritt, er war vom Kribbeln abgelenkt, beinah in sie hineingelaufen.
Agnes puffte ihn an, «Du weisst, nur auf das Gesicht schauen», sagte sie verschmitzt und lachte.
Hugentobler, der der Frau nachblickte, war jedoch nicht zum Scherzen zumute. «Agnes, ich … ich sehe sie nicht mehr …! »Er blickte nun Agnes an, sie von oben bis unten musternd.
«Was ist mit dir los, Hugo?» Sein Gesichtsausdruck wirkte fassungslos.
«Ich sehe die Menschen nicht mehr nackt, wenn ich sie konzentriert betrachte. Dafür … wie bei einer optischen Unschärfe, … ihre Körperkonturen doppelt.»