Eine etwas andere Bahnfahrt
Iwan erwachte. Noch immer rumpelte die U-Bahn die Gleise entlang. Wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie endlich an seiner Station hielt. Draußen war es, bereits vor Beginn der Fahrt, also vor ca. 30 Minuten, dunkel gewesen. Er saß parallel zum Fenster. Ihm gegenüber befand sich ebenfalls eine fensterparallele Sitzreihe, die bis auf einen Platz leer war. Iwan musterte die Frau, die den Platz besetzte. Klein, schmal (insgesamt zierlich gebaut), dunkles, sorgfältig zurechtgestutztes Haar. Asiatischer Teint. Iwan ordnete sie Japan zu. Iwan sah auf seine Uhr, ein Erbstück. Er liebte diese Uhr, es war eine goldene Taschenuhr, so eine zum Aufziehen. In Ihren Deckel war Basilius-Kathedrale eingraviert. Er blickte auf. Die Frau hatte ihn beobachtet und es war ihr peinlich, dass er es bemerkt hatte. Sie hüstelte leicht und drehte den Kopf weg. Sie wirkte nervös. Obwohl sie schlicht in Schwarz gekleidet war, machte sie einen eleganten Eindruck. Iwan beobachtete ihr Tun noch eine Weile, aber die Frau blickte nicht mehr zu ihm hin und so verlor er das Interesse an ihr.
Ming war unwohl zumute. Der grobschlächtige Typ, der ihr gegenübersaß, starrte sie an. Kurz malte sie sich aus, was passieren würde, wenn er sie angreifen würde. Er war sehr kräftig und hatte ein breites Kreuz. Der Mann war ihr körperlich deutlich überlegen, aber er sollte es je nicht wagen sie zu unterschätzen. Ming schmunzelte in sich hinein, als sie an das Pfefferspray in ihrer Handtasche dachte. Ihr Handy klingelte. Sie nahm den Anruf entgegen, aber der Empfang war zu schlecht, als das sie etwas hätte verstehen können, also legte sie wieder auf. Vorsichtig blickte sie zu dem Mann hinüber. Er war schlecht rasiert, hatte ein Doppelkinn und trug so eine Fellmütze, wie sie die Leute in den russischen Filmen immer trugen. Die U-Bahn verlangsamte ihre Fahrt und hielt an einer, nur spärlich beleuchteten, Station. Zwei Personen stiegen ein. Nun waren sie also zu Viert, im gesamten Abteil. Ming wusste, da sie diese Strecke Abend für Abend von der Arbeit nach Hause fuhr, dass das nichts Ungewöhnliches war. Oft genug kam es vor, dass sie sogar ganz alleine war. Die Zwei Einsteiger waren beide männlich. Der Erste setze sich neben den mutmaßlichen Russen, der Zweite bezog, einige Plätze neben ihr sein Fahrtquartier.
Carlos lies sich auf den Sitz fallen. Er betrachtete sein Spiegelbild in der gegenüberliegenden Fensterscheibe. Die Haare saßen schlecht, wie immer wenn er den Tag über im Sonnenstudio gewesen war. Er strich sie glatt, machte ganz lässig eine Kaugummiblase, lies sie platzen und musterte die Anwesenden. Der Typ neben ihm war ihm schlichtweg egal. Irgend so ein alter Sack, der seinen Lebensabend damit verbrachte, in Cafes zu sitzen und einen Espresso nach dem anderen zu schlürfen. Auch der Kerl, der mit ihm eingestiegen war, interessierte ihn nicht im Geringsten, aber da war ja noch das Mädel. Sie war zwar nicht unbedingt sein Traumtyp von einer Frau, aber warum so wählerisch sein. Er setzte sein charmantestes Lächeln auf, bei dem die Frauen normalerweise reihenweise auf ihn hereinfielen (Carlos wusste nicht, dass er der Einzige war, der das so sah).
Brad öffnete genüsslich, in Vorfreude auf das, was ihn erwartete, die braune Papiertüte. Er griff hinein und zog seine große Hand, welche nun den extragroßen Hamburger umschloss, wieder heraus. In seinem Mund sammelte sich so viel Speichel, dass er fast aus seinem Mund tropfte, als er diesen öffnete, um den halben Burger als Nahrung aufzunehmen. Nach der Bekämpfung seines Hungers, widmete er sich der Flüssigkeitsaufnahme. Er zog eine habvolle (aus seiner Sicht natürlich halbleere) Flasche Limonade aus der weiten Tasche seiner Jeans und vermischte sie mit dem verspeisten Fastfood. Die leere, wertlose Plastikverpackung schleuderte er zum anderen Ende des Abteils. Beim Aufprall der Flasche zuckte die kleine Asiatin neben ihm zusammen. Der Mann in der unmodischen Verkleidung drückte seine Verstimmung über Brads Tat in einer Verschlechterung seiner Mimik aus und der Westeuropäer grinste bloß weiter stumpf die Frau an.
Neugierig betrachtete Iwan die zwei Neuen. Der neben ihm, war leicht zu durchschauen, ein Musterbeispiel für einen Macho. Der Andere, war ein beleibter, scheinbar gemütlicher Typ, nicht viel weniger durchsichtig, als der Erste. Der Mann saß da und verspeiste genüsslich westliche Massennahrung, wie Iwan sie nicht einmal mit größtem Hunger gegessen hätte. Aus welchem Land dieser Koloss kam, war nicht zu übersehen. Ein patriotisches XXL T-Shirt überspannte den Bauch des Mannes. Blau, Rot und Weiß. Sterne und Streifen. Amerikaner. Obwohl Iwan Menschen nur ungern in genau festgelegte Schubladen einordnete, tat er es doch immer wieder und diese beiden männlichen Mitfahrer, waren ganz klare Bestätigungen dafür, dass das bei manchen Menschen auch gerechtfertigt und unumgehbar war. Noch ehe er länger darüber nachdenken konnte, geschah etwas. Die U-Bahn wurde langsamer, ohne dass jedoch eine jener erleuchteten Stationen in Aussicht kam.
Von dem Halten der U-Bahn, wurde Carlos von seinem konzentrierten Flirten mit dem Objekt seiner Begierde abgelenkt (vielleicht auch, weil jenes „Objekt“ alles andere tat, als seine Anspielungen und Gesten zu erwidern). Leise ächzend, kam das Fahrzeug zum stehen. Das Licht, das, durch die Scheiben, nach Draußen fiel, kämpfte gegen die dort herrschende Dunkelheit an. Carlos bemerkte wie der gefräßige Amerikaner sich verdutzt umblickte, dann aber das Interesse verlor und sich wieder dem Nichtstun hingab. Der bis jetzt regungslose Mann neben ihm, war aufgestanden und schritt nun durch den Wagon weiter nach Vorn. Die kleine Frau, wirke noch nervöser, als zuvor. Er selbst, war auch beunruhigt, aber nicht so sehr, als dass er es nicht, hinter seiner kontrollierten, stets lässig-coolen Fassade, hätte verbergen können.
Was war denn nun los? Ein Problem mit der U-Bahn? Ein schwerer Unfall, womöglich ausgelöst durch Banden, die die U-Bahntunnel kontrollierten? Würden sie hier je wieder rauskommen? Aufgeregt wühlte Ming nach ihrem Handy (sofern man es wühlen nennen konnte, einen Gegenstand aus einer Handtasche zu nehmen, in der sich ansonsten nur eine geöffnete Packung Kopfschmerztabletten und ein Adressbuch befanden). Sie wählte die Notrufnummer. Es knackte in der Leitung, aber es erschien kein Freizeichen. Wieder kein Empfang. Ohne ihr Handy fühlte sie sich irgendwie von der Außenwelt abgeschnitten, einsam und verloren. Dem Kerl, den sie die ganze Zeit über beobachtet hatte, schien es ähnlich zu gehen und obwohl er versuchte die Unruhe zu vertuschen, bemerkte Ming sie. Der Mann neben ihr wirkte wie ein Stein in einem Ameisenhaufen. Er war gelassen und an der Situation völlig desinteressiert. Der Russe suchte wohl schon nach einem Ausweg oder zumindest nach der Ursache des Problems.
Brad ärgerte sich, diese paranoiden Idioten fingen an ihn zu nerven. Warum waren die so aufgedreht? Weil die U-Bahn ohne ersichtlichen Grund gehalten hatte? Oh Mann, was waren das für kleinbürgerliche Freaks? Eine völlig normale Situation, passierte doch ständig. Technik, die von Menschen entwickelt wurde, hatte nun mal, gelegentlich einen Fehler. Egal, irgendwann würden die fleißigen Jungs vom Rettungsdienst, ihnen schon zu helfen wissen. Er lehnte sich auf seinen anderthalb Sitzen zurück und versuchte sein derzeitiges Umfeld zu vergessen.
Zwei Stunden später, fuhr die Bahn weiter. An der nächsten Station warteten einige Inspekteure, um nach dem Defekt zu suchen. Ming hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten und wollte nichts lieber, als raus aus dem Abteil. Carlos war auch nicht in bester Laune, aber die Tatsache, dass die Situation so lange gedauert hatte und sie dadurch, von Minute zu Minute, harmloser und langweiliger geworden war, hatte ihn beruhigt. Man könnte sagen, er hatte sich an sich an die Misere gewöhnt. Brad hatte sich auf den Sitzen ausgestreckt und war eingeschlafen. Iwan hatte es irgendwann aufgegeben, einen Ausweg aus ihrer misslichen Lagen zu suchen. Stattdessen hatte er versucht, seine drei Mitfahrer (oder zumindest die, die es nötig hatten) zu beruhigen und abzulenken. Er war der einzige der Vier, der nach der „Rettung“, nach der Ursache fragte und er war der einzige, der erfuhr, dass ein ausgearteter Streik bei den Mitarbeitern der Bahn-Gesellschaft dazu geführt hatte, dass die U-Bahn ihre Fahrt unterbrochen hatte. Für Ming war es, im Nachhinein, eine halbwegs gute Story („Mein Leiden in der Horrorbahn“), für welche sich die Zeitung eventuell interessieren würde , für Carlos ein Abenteuer (mit ihm in der Hauptrolle versteht sich), von dem er all seinen Kollegen erzählte, für Brad eine mehr oder minder normale Fahrt und für Iwan ein weiteres ungewöhnliches Erlebnis in seinem Leben, das er mit einigermaßen gewöhnlichen Menschen erlebt hatte.