Eine Frage des Glaubens
Eine Frage des Glaubens
Andrew atmete tief durch. Hatte er die Leute gerade belogen? Nein, wenn dann hätte Gott sie belogen. Der hatte sich das alles ausgedacht und den Menschen diese Flausen in den Kopf gesetzt. Andrew war nur einer von vielen die diese Worte immer und immer wieder aufsagten um sie zu verbreiten. Um den Glauben zu verbreiten. Einen Glauben, an dem Andrew mehr und mehr zweifelte. Sünden hatte er begangen. Einige. Und er hatte gebetet, dass sie ihm vergeben würden. Dann hatte er einfach weitergelebt und erneut gesündigt. So lebte Andrew nun schon einige Jahre. Das man mit den Verboten Gottes so leichtfertig umgehen konnte ohne bestraft zu werden, ließ ihn die Macht des Allmächtigen in Frage stellen. Andrew war sich nicht mehr sicher, ob der Herr das alles wirklich wert war. Seine Gemeinde vertraute ihm. Sie waren sehr zahme und leichtgläubige Schäfchen. Lange Zeit konnte er sie blenden. Doch seine Überzeugung in dem eigenen Gesagten, nahm ab. Wie sollte er andere von etwas überzeugen, an das er selbst nicht mehr glaubte?
„Amen!“, sagte er und verschränkte die Hände.
„Amen!“, wiederholten sie im Chor und taten es ihm gleich. Damit war der Gottesdienst offiziell beendet. Leises Volksgemurmel trat ein, als die Menge die Kirche verließ. Nur wenige blieben sitzen und schwelgten in Gedanken. Die interessierten Andrew nicht. Der Beichtstuhl verlangte nach Aufmerksamkeit. Der ein oder andere Gläubige hielt es noch für nötig, Buße zu tun. Ob sie dabei wie Andrew dachten, sei mal dahingestellt.
Er macht sich bereit und schritt auf die Beichtkammer zu. Die Ironie, anderen ihre Sünden zu vergeben und derweil selbst zu Sünden, entging ihm nicht. Es störte ihn jedoch auch nicht. Er vergab, der Herr vergab, und so war jeder mit jedem im Reinem. Alles war in Ordnung. Für den Augenblick war Andrew unsicher, doch nicht ungläubig. Zumindest dachte er das...
In der engen Kabine war es sehr stickig. Andrew hatte den dunkelroten Vorhang zugezogen und wartete auf den ersten Sündiger. Derweil kreisten seine Gedanken um seine Beförderung von vor einigen Tagen. Seit seinem erstem Tag hatte er diesen Posten des Priesters angestrebt. Bischof wäre natürlich noch besser gewesen, doch bei einer so kleinen Gemeinde in einem so unwichtigem Landkreis, war es sehr unwahrscheinlich Bischof zu werden. Andrew hatte sich mit seinem neuen Posten jedoch recht schnell angefreundet. Seine Macht war erheblich gestiegen und in einem Umkreis von wohl hundert Kilometern gab es niemandem, der ihn befehligen konnte. Natürlich würde es irgendeine weltliche Macht versuchen. Und natürlich könnten sie ihn herumschubsen. Aber dabei vergaßen sie alle, die wahre Macht der Kirche. Die größte Macht!
„Ich habe gesündigt, mein Vater.“ Andrew schreckte auf. So plötzlich aus den Gedanken gerissen, sah er sich verwirrt um. Er hatte niemanden reinkommen gehört. Nach einer kurzen Pause antwortete er:„Erzähle es mir mein Sohn. Der heilige Vater und ich werden dich anhören.“
„Danke!“ Diese Stimme weckte Unbehagen in Andrew. Er bekam eine leichte Gänsehaut und sehnte schon dem Ende dieses Tages entgegen.
Er erwartete nun das übliche Gejammer. Die Menschen machten sich wegen den kleinsten Vergehen unendlich viele Vorwürfe und befürchteten, Gott verraten zu haben. Andrew sagte dann immer Sachen wie:’ Vier Arvemaria’ und ’Der Herr und ich verzeihen dir’ und ’ Gehe in Frieden’. Dann waren die meisten glücklich und gingen ihrer Wege. Doch warum ihnen Vorwürfe machen? Er war doch keinen Deut besser. Er erhielt seinen Glauben auf genau die gleiche Weise am Leben.
Was er aber nun von diesem unbekannten Sünder hörte, entsetzte ihn, und erschütterte seinen Glauben und das Vertrauen in den eigenen Verstand. Er traute seinen Ohren nicht.
„Ich habe mit einer Frau geschlafen. Sie war gerade mal 17 Jahre alt und hatte ihren Vater verloren. Ich nutze ihr Vertrauen in mich schamlos aus. Ich glaube, ich habe sie vergewaltigt.“ Die Stimme machte eine Pause um ihre Worte wirken zu lassen. In ihr war kein Fünkchen von Reue. Sie schien zu mahnen. Andrew war wie versteinert.
„Gestern erst habe ich meine Nachbarin verflucht, als sie mir den Rücken zugedreht hatte, kurz nachdem sie ihren Hund auf mein Rosenbeet sein Geschäft hat verrichten lassen, schimpfte ich sie als eine alte Hure.“ Der Atem des Priesters kam nur noch stockend und an einatmen war nicht mehr zu denken.
„Zu allem Überfluss, Vater, bin ich auch noch Habgierig. Ich strebte etwas an und war bereit, jedes Mittel dafür einzusetzen. Ich bin ein schlechter Mensch.“
Andrew wusste nicht, wie darauf reagieren. All die eben genannten Sünden kamen ihm verdammt bekannt vor.
„Vergebt ihr mir?“
„Vergebt ihr... Eure Sünden?“ Das habe alles ich begangen, dachte Andrew. Es stimmte. Er hatte mit der Minderjährigen geschlafen, aber sie wollte es doch, oder?. Hatte sie ihn nicht darum gebeten? Oder hatte er sie dann doch vergewaltigt? War er der Räuber ihrer Unschuld? Sie hatte sich aber nicht gewehrt. Sie hat sich angeboten, ihren Körper willig bereitgestellt. Sie hatte sich ihm geradezu aufgedrängt. Ja, so war es. Der Strafe entkam Andrew. Er hatte sich Gott gegenüber schnell als Sündiger bekannt gegeben und Buße getan. Damit war es bereinigt. Das war es doch?
Bislang war er mit dieser Methode immer gut gefahren. Nie gab es Problem. Gott verzieh denen, die es ernst meinten. Und Andrew hielt sich für so jemanden. Er war eben ein Priester mit Ecken und Kanten, und der allmächtige Herr hatte Verständnis für seine fehlerhafte Schöpfung. So war alles gut.
Doch wie konnte dieser Kerl davon erfahren haben? Hatte das Mädchen geredet? War sie so eine falsche Schlange? Das wäre möglich, aber was war mit den anderen Dingen? Woher konnte denn auch nur irgendjemand von den anderen Sünden erfahren?
Dann setzte es bei Andrew kurzzeitig aus. Wenn diese Sünden seiner Gemeinde bekannt wären, wäre ich die längste Zeit Priester gewesen. Sie durften nichts davon wissen. Niemand durfte davon erfahren. Niemand!
„Hört ihr mir noch weiter zu?“ Andrews Gefühlszustand hatte sich mittlerweile ihn Wut gewandelt. Er würde dieser Stimme nicht noch einmal diesen Triumph gönnen. Standhaft wollte er bleiben. Entschlossen antwortete er:„Ja, sprich weiter!“
„Gut!“ Das Geräusch, wie wenn man sich auf einem harten Stuhl streckt, war zu hören. Andrew wartete gespannt und achtete auf alles um ihn herum. Ein leichter Schwefelgeruch stieg ihm in die Nase. Seine Zunge war trocken und klebte am Gaumen. Er strengte seine Augen an, doch anstatt besser zusehen, wurde es in der kleinen Kabine zunehmend dunkler.
„Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie gerne zeitgenössische Klavierstücke auf ihrem Grammophon hören“ Das versetzte Andrew wieder einen Schlag ins Gesicht. Er hatte nicht erwartet, dass er noch etwas über sich selbst hören würde. Das Wissen dieser Stimme hielt eigentlich für erschöpft. Langsam wurde ihm jedoch klar, dass es vermutlich unerschöpflich war. Ebenso wie Gottes.
„Ich denke Sie verstehen, dass ich ihnen ihre Sünden nicht einfach so durchlassen kann. Sie müssen bestraft werden!“ Nun kam zu Andrews geistlicher Verwirrung und den Zweifeln an seinem Verstand, auch noch panische Angst um sein Leben hinzu. Er wusste nicht, was sich für ein Mensch hinter dieser Stimme verbarg und wie er aussah. Aber er war sich ziemlich sicher, dass jemand mit einem solchen Wissen auch große Schmerzen bringen konnte. Das stand außer Frage.
„Eure erste Strafe wird sein: NIE WIEDER MUSIK!“ Es rumpelte nebenan und dann knallte es in Andrews Ohren. Er schrie auf, fiel auf die Knie und hob die Hände über den Kopf. Auf den Knall folgte ein langgezogenes, hohes Fiepen, welches sein Trommelfell zum erzittern brachte. Andrew verzerrte das Gesicht während sich der gellende Ton scharf durch seine Gehörgänge zwängte und sein Gehirn vibrierte.
Er sprang auf, wobei der Lärm in seinem Kopf die Tonleiter rauf und runter rutschte. Andrew rannte aus der Kabine. Er stieß gegen eine der Bänke und blieb benommen liegen. Der Laut verhallte in seinen Gedanken auf nimmer wiederhören.
Geweckte wurde er von einer lieblichen Stimme die fragte:„Pater? Geht es Ihnen gut?“
Langsam hoben sich Andrews Lider. Er sah in ein sehr schönes weibliches Gesicht. Es war Lucy, ein sehr junges Mädchen, welches schon seit ihrer Geburt fast täglich zu ihm in die Kirche kam. Ein nettes und aufrichtiges Kind. Ihre kristallklaren, blauen Augen sahen ihn sorgevoll an.
„Danke meine Liebe!“ Sie half ihm hoch. „Mir geht es bestens. Alles in Ordnung.“ Aber dem wahr nicht so. Ihm war schwindelig und er taumelt ein wenig. Sie hielt ihn fest. Ihre roten Lippen wurden von einem liebevollen Lächeln umspielt.
„Setzen Sie sich doch.“ Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Vorsichtig ließ er sich auf einer der Bänke nieder.
„Danke Kleines. Es geht wieder.“ Im sitzen ging es ihm wirklich schon ein wenig besser.
„Was ist denn eigentlich geschehen, Pater?“ Andrew wurde wieder schwindlig. Was war geschehen? Er war sich da selbst nicht so sicher. War denn überhaupt etwas geschehen.
„Ich war unvorsichtig und bin... bin ausgerutscht!“ Ja, vielleicht war es sogar wirklich so. Warum nicht? Er war auf den glatten Boden ausgeglitten, wahrscheinlich auf dem Weg zur Beichte, hingefallen und mit dem Kopf gegen die Holzbank gekommen. Jetzt hat er Kopfschmerzen und ist ganz einfach verwirrt. So etwas passiert. Das war normal.
„Das tut mir Leid.“
„Das muss es nicht. Ich muss Hans das nächste Mal nur sagen, dass er den Fußboden nicht allzu gründlich putzen soll.“ Sie lachte. Ein so glockenhelles Lachen war ein wahrer Segen für eine Kirche und nachdem es durch die vielen Windungen und Bögen des alten Gemäuers tönte und sich an Andrews Ohr schmiegte, wurde ihm warm ums Herz. Sein Kopf war für einen Augenblick vergessen. Ich kann noch hören! Dies ist doch wohl der eindeutige Beweis dafür, dass nichts ungewöhnliches geschehen war. Das Leben gingweiter. Normal wie eh und je. Niemand weiß von meinen Sünden. Das wäre Irrsinn. Völlig unmöglich.
Dennoch würde Andrew diesmal doppelt so lange beten.
„Ich sehe, dass dir noch etwas auf dem Herzen liegt.“ Das war leicht zu erkennen. Lucy war nervös, rieb sich die Hände und ihre Wangen bekamen eine zarte Röte.
„Sag es mir, Liebes!“
„Also gut. Pater, Gary und ich wollen heiraten!“
„Das ist doch wunderbar. Wann?“
„In zwei Tagen.“
„So früh?“
„Ja, und ich wollte Sie fragen, ob Sie uns trauen würden?“
„Aber natürlich werde ich das.“ Lucy strahlte über beide Ohren. Ihr ganzes Gesicht erschien nun in einem sanften Rot.
„Oh vielen Dank Pater!“ Sie fiel ihm um den Hals und er konnte ihr Wärme spüren.
„Kindchen, das ist doch meine Aufgabe.“ Er sprach mit einem Lächeln und sie ließ von ihm ab.
„Und ich mache es gern.“ Sie sahen sich in die Augen. Ihre Augen funkelten vor Freude, seine beruhigten Lucy.
„Ich muss es allen erzählen. Vor allem Gary muss es erfahren.“
„Na dann geh mein Kind! Geh los und verkünde die frohe Nachricht!“
Sie lief los, wobei ihr langes, blondes und zu einem Zopf gebundenes Harr auf und ab wippte.
„Ach Lucy“, rief Andrew ihr nach. Sie blieb an der Schwelle stehen und drehte sich um. Ihr Lächeln war noch nicht verschwunden und würde es wohl auch in den nächsten Tagen nicht tun.
„Ich freue mich für euch!“ Sie nickte und verschwand.
Andrew war nun allein. Sie steckt so viel vertrauen in dich. Möchtest du dieses wirklich missbrauchen? Sie hält dich für einen heiligen Mann, sündenfrei und ein Freund in der Not. Willst du sie enttäuschen?
Dafür müsste er mir meine Sünden vergeben und ich dürfte sie nie wieder begehen. Aber funktioniert der Glauben so? Wenn ich solche Dinge tue, glaube ich dann noch? Darf ich mich überhaupt noch als Gläubiger bezeichnen? Aber ja doch. Ich glaube an Gott. Er kann mir vergeben. Und nur er darf über mich bescheid wissen. Nur er.
Andrew schwenkte seinen Blick zur Beichtkammer. Niemand sonst!
Die Kopfschmerzen wurden schlagartig stärker. Ihm drehte sich alles und sein Magen rebellierte. Er ließ sich der Länge nach auf die Bank fallen und wollte sich am liebsten übergeben. Ihm war schlecht. Er würgte und röchelte.
Das kann doch nicht wahr sein!, dachte Andrew. Wie ist das möglich?
Gerade eben hatte er den Vorhang zur Beichtkammer beiseite geschoben, um einen Hinweis auf die unbekannte Stimme zu bekommen. Und er hatte einen bekommen.
Die Kabine waren Kohlrabenschwarz. Ein kleine Rauchsäule stieg daraus hervor. Es roch nach Schwefel. Ein Geruch, der Andrew noch auf ewig nachhängen würde. Das Holz der Kabine knisterte noch und glühte an einigen Stellen. Man könnte meinen, es wäre jemand aus der Hölle gekommen. Für ihn war es auf jeden Fall Beweis genug. Jemand war hier, und dieser jemand war alles andere als normal, und er wusste alles über Andrew.
Wie könnte ich jetzt noch jemandem Vertrauen schenken? Jetzt, wo ich der Sündiger bin und es wahrscheinlich schon die ganze Stadt weiß? Es ist hoffnungslos. Man wird mich...
„Pater? Sind Sie hier?“ Eine tiefe Männerstimme brüllte durch die Halle. Da sind sie. Sie werden mich holen und steinigen. Wahrscheinlich baumle ich heute Abend schon am Galgen. Soll ich mich verstecken? Nein. Nein das sollte ich nicht! Ein bisschen Ehre besitze ich dann doch noch. Da stell ich mich lieber.
„Ja! Ja ich bin hier.“ Andrew stand auf, zu schnell, wie ihm sein Kopf zu verstehen gab.
„Sehr schön. Sie sollten sich das mal ansehen. Wir sind fast fertig. Kommen Sie!“ Wie? Was? Wo? Er verstand nicht auf anhieb und folgte dem Mann von daher nach draußen.
Das grelle Sonnenlicht blendete seine Augen und machte ihn vorrübergehend blind. Er trat hinaus auf die sandige Straße und wurde von einigen Arbeitern und freiwilligen Helfern umringt. Die Geräusche von Pferdekutschen, mehreren Menschen und einigen Marktschreiern überfielen ihn. Andrew bekam sein Augenlicht wieder und sah in das grimmige Gesicht eines bärtigen Mannes.
„Drehen Sie sich um!“ Sie wollen mich also von hinten erledigen, diese Feiglinge! Er drehte sich um und schloss die Augen, bereit zu büßen.
„Wie finden Sie es? Schön oder?“ Verwirrt öffnete Andrew die Augen, und dann fiel es ihm ein. Er hatte seine Gemeinde vor einigen Tagen gebeten, die Kirche neu zu streichen. Nun strahlte ihm ein himmlisches Blau entgegen. Es war wirklich schön. Noch schöner war jedoch, dass er sich geirrt hatte. Heute war noch nicht sein Ende. Gott war gnädig.
„Mir fehlen die Worte“, begann Andrew, „Es wunderschön. Wahrhaftig!“
Erleichterter Jubel war die Antwort. Sie klopften sich gegenseitig auf die Schultern und beglückwünschten sich. Die Gemeinde applaudierte.
Andrew vergaß bei dem Anblick der neu gestrichen Kirche seine Sorgen. Er liebte diese Farbe. Sie war... einzigartig.
„Pater! Wie haben wir das gemacht?“ Diese Stimme erkannte Andrew sofort. Es war Hans, früher freiwilliger Helfer, mittlerweile guter Freund der Kirche und Andrews. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge und umarmte den Priester. Sie klopften sich auf den Rücken.
„Das war fabelhafte Arbeit, mein Freund!“ Hans ließ los. „Ich hab das nicht allein gemacht.“ Er drehte sich um und schwenkte mit dem Arm zu den anderen Helfern. „Sie alle haben tatkräftig mitgewirkt. Nur zusammen konnten wir es schaffen.“ Sie verbeugten sich alle ein kleines Stück mit ihren bärtigen und grinsenden Gesichtern. Auch Andrew verneigte sich „Sage Euch meinen Dank!“ Triumphgeschrei setzte ein und die Gemeinde fiel in einen Beifallssturm.
Andrew betrachtete Hans, wie er da mit seiner gekrümmten Haltung stand, in einer Latzhose und den krausen und schon grauen Haaren. Er war alt. Schon seit Jahren arbeitete er für diese Kirche. Hatte sich ihr verpflichtet. Ohne auf Bezahlung zu hoffen, hatte er bei jeder Tätigkeit mitgeholfen und keine Mühen gescheut. Dafür achtete Andrew ihn. Er hatte großen Respekt vor Hans. Der Leutselige Hans. So nannte ihn die Gemeinde. Ein Titel, wie ihn sonst niemand verdient hatte. Manche behaupteten, Hans sei ein Engel. Gesandt um den Menschen zu helfen. Und das hatte er tatsächlich. Er war ein Freund der ganzen Stadt. Bekannt wie ein bunter Hund, geliebt wie der eigene Vater. Der einzige, der genauso viel vertrauen genoss, wie Andrew.
Doch sah er im Augenblick, trotz seines Freudenstrahlenden Gesichts, nicht gut aus. Er schwitze, doch das war normal. Er zitterte. Das war seltsam. Er hielt sich mit der Rechten das Herz. Das war nicht normal.
„Ist alles in Ordnung mit dir? Du wirkst etwas krank auf mich.“
„Nein. Mir geht es gut. Da mach dir mal keine Sorgen, alter Freund!“ Er richtete seinen Blick auf die immer noch jubelnde Gemeinde. „Sie sind glücklich, und das macht mich glücklich.“
Andrew senkte den Blick. Hans war ein edler Mann. Gläubig und sündenlos. Er sollte Priester werden. Er hätte diesen Posten wohl mehr verdient. Aber wer weiß? Vielleicht ist dieser Posten ja morgen schon frei, während Andrew hing und Buße tat.
„Ich muss jetzt gehen Pater. Das Laub auf dem Friedhof muss noch zusammengekehrt werden.“ Er lief los. Aufmerksam wie immer.
„Hans!“ Der Leutselige drehte sich um. „Ja?“ Andrew wollte nicht, dass sein Freund ging. Eine Art Vorhersehung. „Putz den Kirchboden das nächste Mal bitte nicht zu gründlich! Wäre heute beinah ausgerutscht.“
„Mach ich!“ Er verschwand mit einem verwirrten Lächeln hinter dem Gebäude, begleitet von den Kindern, die ihn liebten.
Auch Andrew liebte ihn. Er war sein Freund, aber auch Mentor. Durch Hans hatte er erst seinen Glauben gefunden. Doch ob er ihm diesmal auch wieder bei der Suche helfen konnte?
Andrew lenkte seinen Blick auf die blaue Fassade der Kirche. Diese Farbe war wirklich wunderschön.
Mit einen Lächeln verließ er die Menschentraube und ging auf den von beiden Seiten durch Holzhäuser abgeschirmten Sandstraßen nach Hause. Dabei wurde er von allen Seiten gegrüßt und sie gratulierten zum neuen Anstrich. Er nickte zurück und bedankte sich. Sie hatten alle so viel Vertrauen in ihn, und er hatte es missbraucht. Dafür schämte Andrew sich. Er hoffte, er könnte es irgendwie wieder gut machen.
Er wohnte im äußeren Ring der Stadt. Dort besaß jedes Haus einen kleinen Garten oder gehörte zu einer Farm. Man hörte Kühe und Hundegebell rund um die Uhr. Am Morgen krähten mehrere Hähne. Dadurch wurden manche Nachbarn unfreiwillig geweckt, was zu diversen Streiten geführt und dem einen oder anderen Federvieh das Leben gekostet hatte. Man lebte also in Frieden nebeneinander. Der Priester mochte es hier. So nah an der Natur fühlte er sich wohl. Und bis auf den Hund seiner Nachbarin, hatte er nichts gegen die Tiere. Das Krähen war sein Wecker und die Kühe hörte er kaum, da er am Tag sowieso nur in der Kirche war und zu Hause über sein geliebtes Grammophon Musik hörte. So ließ er sich es gut gehen.
Andrew stieg auf die Veranda und musste leicht verärgert feststellen, dass der Schaukelstuhl, den er bislang noch nicht benutz hatte da er sich noch nicht für so alt und unnütz hielt, an der einen Seite etwas dunkler war. Der Hund konnte sich mal wieder nicht zurückhalten.
Er ging hinein. Erst jetzt bemerkte er, dass er seine Kutte noch an hatte. Normalerweise ließ er sie immer in der Kirche wo sie hingehörte, doch heute hatte er daran überhaupt nicht gedacht. Das Holz knarrte unter seinen Füßen, als Andrew die Treppe in den zweiten Stock hinaufstieg. Oben angekommen nahm er eine seiner Lieblinsschallplatten und legte sie ein. Vorsichtig platzierte er die Nadel und ließ sich auf sein Bett fallen. Entspannt atmete er durch. Er lauschte.
Die besinnlichen Töne des Pianos ließen ihn schweben. Sie massierten seine Seele und befreiten sie von allem Kummer. Losgelöst von seinem Körper tanzten sie mit ihr in feinfühlenden Bahnen und drehten geschmeidige Pirouetten. Der melodische Klang ihres Gesangs durchspielte und lenkte sie. Somit waren ihr Dinge möglich, von denen ihre fleischliche Hülle nichts verstand. Freiheit und Vollständigkeit herrschten vor. Alles war vollkommen. Diese Musik war eine Art Tor ins Paradies. Die Erfüllung aller Träume. Ruhe und Frieden. Ja, das konnte Andrew jetzt gebrauchen.
Stille. Mehr war nicht zu hören. Doch, Nachbarshund schien eine Katze zu jagen. Die Kühe wurden unter Protest von der Weide getrieben. Ein Fliege summte durch den Raum und landete irgendwo. Ein Windzug ließ die kahlen Äste eines Baumes gegen die Häuserwand kratzen. Aber Musik gab es keine.
Er hatte rechtbehalten, dachte Andrew. Es war geschehen. Meine Strafe. Ich soll büßen, für meine Taten. Man hat mir meinen Seelenfrieden genommen.
Eine Träne rann ihm aus den Augenwinkel. Die Musik war ihm sehr wichtig gewesen. Nun war sie davon. Ihn Gedanken hörte er sie noch, doch reichte dies beiweiten nicht.
Andrew stand auf. Langsam und bedächtig, während seine Finger über die weiche Bettdecke strichen. Er stellte sich vor das Grammophon. Entmutigt und Deprimiert. Mit einem lauten Wutschrei warf er es aus dem Fenster. Es krachte und der Hund bellte.
Wie konntest du mir das nur antun?
„Hey, was soll das? Pater, können Sie nicht besser aufpassen?“
„Halten Sie doch den Mund! Sie konnten die Musik doch hören! Ihren Ohren geht es doch nochgut, verdammt!“ Wie konnte sich diese Person nur Anmaßen, ihn anzuschreien? Hatte sie in den letzten Stunden schon um ihr Leben fürchten müssen? Hatte sie vielleicht die ganze Stadt verraten? Hatte sie sich etwa von dem Sinn ihres Lebens abgewendet? Hatte sie vergessen, wozu sie auf dieser Welt weilte? Hatte sie?
Der Geruch von Schwefel riss ihn aus seinen Gedanken.
Nur wenige Menschen waren noch unterwegs, da sich der Tag dem Abend beugte. So konnte Andrew ihn deutlich heraussehen. Das hätte er wahrscheinlich auch getan, wenn die Straße belebter gewesen wäre. Eine solche Gestalt fiel überall auf. Dann aber nur denen, die sie sehen sollen. Und er sollte ihn sehen.
Es war ein großer dürrer Mann mit herunterhängenden Schultern, einer abgewetzten Hose und einem zerschlissen Hemd. Feuerrote Haare, welche in alle Richtungen abstanden, bedeckten sein Haupt. Eine mit widerlichen Pickeln überfüllte Fratze sah Andrew in die Augen.
„Du hast schon wieder gesündigt.“ Obwohl das Wesen draußen auf der Straße stand, könnte man der Stimme nach zu urteilen, denken, dass es direkt neben dem Priester stand. Aber die Gestalt bewegte ja nicht einmal den Mund. Sie grinste nur gehässig.
„Du hast dich der Trägheit hingegeben und hast geflucht.“ Andrew atmete diesen unheilsverkündenden Schwefelgeruch ein und ahnte schreckliches. Welche Strafe willst du mir diesmal geben?
„Deine zweite Strafe lautet: ERBLICKE NIE WIEDER DES HIMMELS BLAU!“
Auf Worte folgten Taten.
Es war ein Knall ohne Schall. Ein Blitz ohne Donner. Andrew schreckte vor dem aufblitzenden Licht zurück. In vielen bunten Facetten schillerte es auf. Kleine Farbbomben explodierten lautlos in seinen Augen und bescherten ihnen ein breites Spektrum an blenden Gewittern. Schnell hintereinander brannten sich das prächtige Feuer in seine Netzhaut um dort auf ewig zu verharren. Andrew schrie auf und bedeckte seine geschlossenen Lider mit den Händen. Beinahe kratzte er sich die Augen aus den Höhlen in denen sie loderten, gepeinigt von dem ununterbrochenem Spektakel der grellen Flammen und dem Funkensprühen aus der Regenbogenschmiede.
Andrew stolperte und landete unsanft auf dem Boden. Das Reich der Träume erwartete ihn.
Jemand klopfte an die Haustür. Es pochte durch das ganze Haus. Energisch, und entschlossen nicht aufzugeben bevor die Tür geöffnet wurde. Der Schall trug das Gehämmere die Treppe hinauf und direkt in Andrews Ohr. Es holte ihn aus seinem Koma zurück auf den Bretterboden. Er schlug die flache Hand vor die Augen und hob die Lider.
Blau, Gelb, Grün und Rot leuchtete es in der Dunkelheit. Langsam entfernte er die Hand von seinem Gesicht. Die Farben verblassten im Sonnenlicht bis zur Unkenntlichkeit. Klar war seine Sicht. Er schwenkte den Blick durch den Raum. Das Bett, die Kommode, der Kleiderschrank das... Grammophon? Andrew runzelte die Stirn. Dann fiel es ihm wieder ein. Er stand mühsam und streckte sich. Immer noch drang das eindringliche Geklopfe von unten heran.
„Ich komme! Bin sofort da!“ Andrew lief die Stufen herunter, froh sie überhaupt noch sehen zu können. Die Tür ließ sich fast wie von selbst öffnen und brachte eine ältere Frau zum Vorschein. Misses Moss sah ihn mit großen, glänzenden Augen an. Der Glanz entstand durch dicke Tränen, welche ihre Falten entlang liefen.
„Oh Pater!“ Sie warf sich ihm an den Hals. „Es ist schrecklich!“
„Aber was ist denn geschehen?“ Gary Farren trat hervor. Er hatte die weinende Frau begleitet. Mit seinen 25 Lenzen und der guten Statur war er ein beliebter Junggeselle. Ein netter Mann. Lucy hatte wirklich die richtige Wahl getroffen.
„Gary, was ist so schrecklich?“ Selbst diesem Herrn waren die Tränen gekommen.
„Es ist Hans, Pater. Er ist tot!“
Wenn jemand gestorben ist, kann man nichts mehr für ihn tun. Seine Seele hat einen neuen, besseren/schlechteren Ort gefunden. Sie wird nie wieder diesen Körper bewohnen. Denn die fleischliche Hülle ist nur ein Abfallprodukt. Der gefühllose Geist schwindet ohne Trauer. Anders ist das bei den Hinterbliebenen. Ihnen bleibt nur der Körper und die Tränen. Sie müssen ihr Leben weiterführen können, auch wenn ihnen etwas entscheidendes fehlt. Die eigenen Gedanken und Emotionen werden ihnen zur Last und könnten sie zerdrücken. Sofern es zugelassen wird, denn nicht jeder lässt sich davon entmutigen. Für manche bedeutet der Tod eines geliebten Menschen das Ende, für andere ist es der Beginn eines neuen Lebens. Sie finden zu sich selbst zurück.
Andrew hatte den ersten Schock noch nicht überwunden, da erwartete ihn schon der Zweite. Anstatt eines himmlischen Blaus erblickten seine Augen ein mattes grau. Die Kirche strahlte nicht mehr in der Sonne. Sie schien verzweifelt. Als hätte ihr der Tod von Hans ebenso zugesetzt, wie dem Rest der Stadt. Die Gemeinde hatte sich vor dem Gebäude eingefunden. Alle in dunklen Gewändern und tiefer Trauer. Sie schnäuzten, und hielten sich gegenseitig fest. Andrew war noch nicht dazu gekommen, sich darüber zu wundern, dass er wahrscheinlich die gesamte Nacht auf dem Fußboden seines Hauses verbracht hatte. Dem Sonnenstand nach zu urteilen war es schon Mittag.
Als er mit Misses Moss und Gary die Menge erreichte, bildeten diese eine Gasse zum Eingang. Niemand sprach ihn an. Er war auch nicht bereit zu reden. Innerlich starb er mit ihnen. Hoffnungsvolle Blicke wurden ihm zugeworfen. Nun sollte er, ihr Priester und Schäfer, ihnen Trost und Zuversicht bringen. Sie hielten an ihm fest, an seinem Glauben. Andrew weinte und sah nicht zurück. Er ging auf das Tor zu. Gefolgt von Gejammer und Gebeten. Tränen von allen Seiten. Hoffnungslosigkeit umringte ihn. Gib uns unseren Glauben zurück, verlangten sie. Wir vertrauen dir, meinten sie. Wie soll ich das anstellen? Ich kann euch nicht geben, was ich selbst nicht mehr besitze. Ihr fordert zuviel. Ich kann es nicht!
Dort war er. Vor dem Alter lag ein Sarg, und in ihm, die Leiche eines Freundes. Seine Seele schien den ganzen Saal auszufüllen, obgleich er doch leer war. Hans Gutmütigkeit war noch immer zuspüren. Als wolle er diesen Ort noch ein allerletztes Mal segnen, und sich verabschieden. Nur war niemand da, dem er auf wiedersehen sagen könnte. Ich werde dich verabschieden, mein Freund. Ich bin hier.
„Wir haben sie den ganzen Morgen gesucht“, sagte Gary zu Andrews rechten. „Derweil haben einige von uns hier schon alles vorbereitet.“ Er atmete laut. „Aber nehmen sie sich Zeit Priester. Ich denke, man kann die Leute noch eine Weile hinhalten.“
„Ich lasse sie in ihrer Trauer nicht allein.“
„Pater?“
„Bring sie herein! Wir nehmen zusammen Abschied!“ Andrew redete ohne zu denken.
„Jawohl!“ Gary drehte sich um.
Der Priester lief durch die Bankreihen. In seiner alten Kutte und gefalteten Händen näherte er sich seinem Freund und begann zu beten.
Sie sahen alle zu ihm auf. Ihre feuchten Augen beteten ihn an. Gott natürlich auch, doch er, Andrew, war hier, in Fleisch und Blut und ein Vertreter des Allmächtigen. Außerdem noch ein Freund der Gemeinde. Bei ihm suchten sie Hoffnung und etwas gegen ihren Kummer. Sie brauchten ihn nun.
„Liebe Gemeinde, wir nehmen heute Abschied von Hans Lauter, Hans den Leutseligen.“ So begann es. Der Standardteil. Der Teil, mit dem man die Seele eines Menschen zu Gott führte. Man reinigte sie und vergab ihr. Damit der Herr gnädig war und sie in sein Reich aufnahm. Doch wie löste man diese Seele von den Herzen der Menschen? Man musste... Nein, man wollte einfach drauf losreden. Alles was einem zu dieser Person einfiel. Private Ereignisse ohne Hemmung und Scheu. Nichts sollte verborgen bleiben. Geheimnisse gab es nicht. Und genau das befürchtete Andrew. Er selbst würde auch reden müssen. Er würde anfangen müssen. Zu seiner Überraschung fing jemand anderes an.
Ein ältere Herr aus der dritten Reihe stand auf. Nervös fingerte er an seinem Hut den er sich vor den Bauch hielt. Georg Fursen sprach:„Ich kannte Hans seit meiner Kindheit.“ Ein jeder schien dem alten Farmer nun zuzuhören und sich seine eigene Gedanken zumachen.
„Ich hatte Angst vor dem großen Hund meines Nachbarn. Er hat mich immer angebellt und geknurrt. Mit seinem sabberndem Maul hätte er mich eines Tages bestimmt in der Luft zerfetzt.“ Andrew kannte das. „Aber dann kam Hans. Er hielt die Bestie zurück und beherrschte sie. Das war meine Rettung, damals.“ Man könnte jetzt meinen, es träte ein Pause ein um die Worte wirken zu lassen. Stattdessen stand der Nächste auf.
„Ich war früher sehr schüchtern.“ Laut dem, was Andrew so hörte, war ihr Bürgermeister, Cord Heaven, immer noch recht schüchtern.
„Ich habe mich nicht getraut ein bestimmtes Mädchen anzusprechen.“ Seine Frau wurde neben ihm rot. „Immer wieder hatte mich aus der Affäre gezogen, weil es mir peinlich war. Bis Hans mit mir redete und mir Mut zu flüsterte. Damit konnte ich sie ansprechen und lieben lernen. Bis sie dann meine Frau wurde.“ Er setzte sich und umarmte sie. Eine ältere Dame erhob sich:„Vor Jahren, als ich noch ein junges und unerfahrendes Ding war, hatten mich ein paar Rüpel bedroht. Es waren wohl noch Kinder, aber dafür unverschämt und dreckig.“ Als alte, verbitterte und spießige Greisin ging sie vielen jungen Leuten hier auf den Zeiger. Heute interessierten diese kleinen Nebensächlichkeiten niemanden. „Ein oder zwei von ihnen hätte ich wahrscheinlich auch alleine in Schacht halten können, aber gegen fünf war ich unterlegen. Mit der Hilfe von Hans konnten sie ohne weiteres abgewehrt werden.“ Damit war noch nicht genug. Einer nach dem Anderen stand auf und erzählte seine Geschichte. Von entlaufenen Kätzchen über Hilfe bei der Gartenarbeit bis zur Sanierung eines Hauses. Es schien, als hätte Hans jedem in der Gemeinde irgendwie geholfen. Sie fühlten sich alle besser nachdem sie geredet hatten und Andrew ging es ebenso.
„Lasst uns zusammen beten!“, forderte er sie auf und schloss somit die offizielle Trauerfeier. Eine Persönliche stand noch an.
Der Regen trat ein, als die Gemeinde die Kirche verließ. Es stört jedoch keinen. Sie hingen ihren Gedanken nach und gingen nach Hause. Andrew blieb allein zurück. Das Tor wurde geschlossen und es schallte durch die Halle. Dicke Regentropfen klatschten gegen die Buntglasfenster und erzeugten ein angenehmes Klopfen.
Während der Priester auf den offen Sarg zuschritt, rauschte es in seinen Ohren. Sein langes Gewand roch schon etwas, doch interessierte es ihn nicht. Für einen Wechsel seiner Kleidung war keine Zeit gewesen.
Andrew blieb stehen und betrachtete den Leichnam. Es waren keine Verletzungen festzustellen. Gary sagte, dass man Hans auf dem frischen Laub liegen gesehen hatte. Da ein Schläfchen bei der Arbeit für ihn untypisch war, kamen sie näher. Es war das Herz, meinte Gary, es schlug nicht mehr. An einen Herzinfarkt dachte niemand. Für die Menschen war es einfach nur Gottes Wille. Sie wussten es ja nicht besser. Dadurch stellte sich aber auch die Frage nach dem, warum? Andrew konnte es sich nicht erklären. Weshalb hast du ihn zu dir genommen? Was sollte das? Wieso jetzt? Ist das wieder einmal einer deiner unnötigen Beweise deiner Macht? Dem Priester kamen die Tränen.
„Ich hätte dich noch gebraucht Hans.“ Da er alleine war, ließ er sich es nicht nehmen, laut zu sprechen. Nur im Beisein des Kreuzes.
„Heute nötiger denn je.“ Die nachfolgenden Worte sprach er ohne Überlegung. Das sich noch jemand in der Kirche befand, ihn beobachtete und lauschte, bemerkte Andrew nicht. Für ihn gab es im Augenblick nur ihn selbst, und Hans.
„Weißt du noch, damals? Natürlich erinnerst du dich! Wie könnte es anders sein?“ Die starre Miene der Leiche blieb ausdruckslos, dennoch konnte man ihn überall im Saal spüren.
„Auf der Flucht vor Menschen habe ich mich hier versteckt. Ausgerechnet in einer Kirche. Ohne Familie und zu Hause suchte ich hier Asyl. In dem Haus des Mannes, an dem ich nie glaubte. Ich hatte es auch nicht vor und trotzdem hoffte ich auf seine Hilfe. Als Heide sollte mir diese eigentlich versagt bleiben, doch da kamst du. Damals waren wir alle jünger gewesen, nicht wahr?“ Andrew musste lachen, was seinem feuchten Gesicht einen erhellendem Glanz gab. „Du hast zu jener Zeit schon die Böden dieser heiligen Stätte gesäubert und mich dabei schluchzend in einer Ecke kauernd gefunden. Es war im Winter, in den frühen Abendstunden. Kerzen beleuchteten den Saal. In dem Schatten dieses Altars dachte ich mich sicher.“ Der Priester ließ seine Blicke schweifen. „’Warum weinst du?’, hast du mich gefragt. ’Weil ich so allein bin’, habe ich geantwortet. Da hast du dich neben mich gesetzt und mir dein Taschentuch gegeben. Es war schon etwas schmutzig, ich nahm es aber dennoch dankbar an. Deine Freundlichkeit verwunderte mich. Noch nie war ein Christ so freundlich zu mir gewesen. Ich schnäuzte und wollte es dir zurückgeben. Du sagtest:’ Kannst es behalten.’“ Unter Tränen zog Andrew einen dreckigen Lappen aus seinem Gewand hervor. „Ich besitze es immer noch! Es war seitdem immer bei mir. Wie die Erinnerung an jenen Tag hat es mich begleitet.“ Er trocknete sich die Augen und wischte einmal über sein Gesicht.
„’Wie heißt du?’, fragtest du mich. Ich antwortete und du strecktest mir deine Hand entgegen. ‚Meine Name ist Hans. Freut mich dich kennen zu lernen, Andrew!’ Wieder überrascht, zögerte ich. Entschlossen nahmst du meine Hand und schüttelst sie. Du hast gegrinst, und ich musste einfach zurück grinsen. Seitdem waren wir Freunde.“ Der Priester sah zum Fenster hinaus. „Wir saßen im Schatten und plauderten über dies und jenes, während draußen ein Schneesturm tobte. Drinnen wärmten wir uns und Kerzen halfen auch mit. Nie fragtest du nach meiner Herkunft, auch nicht nach meiner Familie, als wüsstest du, was passiert war.“
Wie ein wildes Getöse prasselten die Regentropfen auf die Kirche ein. Der heimliche Beobachter wurde ein wenig unruhig.
„Da hast mir angeboten, zu dir nach Hause zukommen und dort zu wohnen. ‚Würden das deine Eltern denn erlauben?’, fragte ich. ‚Aber natürlich werden sie das!’ Und sie taten. Bevor wir gingen wolltest du noch beten. ‚Warum machst du das?’, wollte ich wissen. ‚ Ich möchte ihm danken.’ ’ Für was?’ ’Na für alles. Für mein zu Hause, mein täglich Brot, meine Eltern, mein Leben und für dich. Oder denkst du es war Zufall, dass wir uns hier heute getroffen haben?’ Ich konnte es nicht sagen. Ich war verwirrt, aber nicht dumm. Das soviel Glück auf einmal zufällig gewesen sein sollte, kam mir auch seltsam vor. Ich kniete mich neben dich und faltete meine Hände. ‚Sprich mir einfach nach! Herr im Himmel, geheiligt sei dein Name...’ Da beteten wir das erste Mal zusammen. Von diesem Zeitpunkt an, betete ich viel, da mir viel Gutes wiederfuhr. Du halfst mir dabei, zu Gott zufinden, hast mich aber nie gezwungen. Ich tat es aus freien Stücken, aber mir deiner Hilfe.“
Andrew ging auf Knie und legte die Hände in den Schoß. „Nun aber, mein Freund, habe ich dich verraten. Ich habe ihn verraten.“ Da kamen die Tränen wieder. „Ich habe mich verraten!“
Langsam stand er wieder auf und machte sich daran, die Kerzen zu löschen.
„Damals hast du mich zum Christlichenglauben geführt. Du hast mir meinen Glauben gegeben.“ Eine orangerote Flamme nach der anderen löste sich in einer dünnen Rauchsäule auf. „Jetzt habe ich ihn verloren, und du bist nicht mehr da um ihn mir wieder zugeben. Warum nur?“ Dunkelheit nahm den Saal in Besitz, nur bedrängt von dem schwachen Mondlicht. Der Priester stand einige Meter vor dem Sarg. „Ich würde dich jetzt brauchen. Mehr als je zuvor!“ Das Licht war verschwunden, doch die Wärme war geblieben. Andrew konnte sie um sich herum spüren, und in sich. „Was möchtest du mir damit sagen?“ Die Wärme umhüllte ihn. Sie gab ihm eine Antwort in seinen Gedanken. „Ich bin nicht allein.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Andrew wusste es.
„Dann hilf mir, bitte!“ Es krachte und grausame Kälte drang in den Saal. Eine Seitentür stand Speerangelweit offen und ließ das donnernde Geräusch des Regens hinein. Der Priester schreckte herum. „Ich gehe nun wohl besser!“
Mit gesenktem Kopf verließ er die Kirche und trat hinaus, auf den Friedhof. Den Schwefelgeruch bemerkte er dabei nicht.
Durch tiefe Pfützen und über schlammigen Boden führte ihn sein Weg. Mit jedem Schritt versanken seine Schuhe tiefer im Matsch, der nach ihnen gierte. Triefend zog Andrew sie wieder heraus worauf sich das entstandene Loch heißhungrig verschloss. Der sabbernde Morast machte schmatzende Geräusche, während sich der Priester unbeirrt durch die Reihen von Gräbern schlängelte. Sein langes Gewand sog dabei einigen Dreck auf und erschwerte das Voranschreiten. Der Friedhofssumpf bekam immer mehr Nahrung durch den unnachgiebigem Regen. Andrew hingegen, stellte sich das Himmelswasser feindlich gegenüber. Es behinderte ihn und peitschte ihm gegen das Gesicht.
„Du bist noch immer nicht schuldenfrei!“ Regen, Schlamm, Kälte, all das war vergessen. Anstatt des Geruches, von aufgeweichtem Sand, drang ein beißender Schwefelgestank in Andrews Nase und weckte grausige Erinnerungen. Er blieb stehen und richtete seinen Blick auf eine Gruft. Sie öffnete sich langsam. Ein dürrer Kerl in Latzhosen und feuerroten Haaren kam hervor. Der Regen verdampfte um ihn herum und hüllte die Gestalt in weißen Dunst.
„Und wirst noch weiter büßen müssen!“ Der Priester versank bis zu den Knöcheln. Sein Gewand hatte soviel Wasser aufgezogen, dass ihn zu einer gekrümmten Haltung nötigte. Sein verzerrtes Gesicht starrte den Teufel in Person entgeistert an.
„Warum?“, fragte er flehendlich.
„Allein für diese Frage!“
Das Rauschen in seinen Ohren nahm zu, ebenso wie der Schwefelgeruch. Ab und zu stierte die grinsende Fratze des Unbekannten aus dem Dunst hervor. Seine Augen blitzen.
„Deine dritte Strafe lautet: ERFAHRE NIE WIEDER DIE BERÜHRUNG DES FLEISCHES!“
Dann schoss er die Regentropfen auf Andrew.
Tausend kleine Nadeln durchstachen seinen Körper. Sie durchdrangen seine Poren und folterten seine Nervenbahnen. Dann platzen sie. Ein Gefühl, als würde die eigene Haut in Flammen stehen breitete sich über Andrews Körper aus. Er schrie, doch erstickte der Schrei schnell unter den Qualen. Das imaginäre Feuer fraß ihn buchstäblich auf. Jeder einzelne Muskel zuckte unkontrolliert. Heftige Krämpfe ließen seine Gliedmaßen in grotesken Winkeln abstehen und wild herumfuchteln. Dann bekam er einen Schlag auf die Stirn und fiel zu Boden. Bewusstlos ruhte Andrew vor der Gruft.
Ein kleiner Wassertropfen bahnte sich seinen Weg in die Nase des Priester. Er atmete ihn ein und stockte. Feucht blies er ihn heraus und erwachte. Mit einer Hand wischte er sich die Nase und hustete überflüssigerweise.
„Pater? Pater sind Sie hier?“ Eine zierliche Stimme rief ihn über den Friedhof. Andrew versuchte aufzustehen. Sein Gewand war jedoch zu schwer und er steckte auch ziemlich tief im Dreck.
„Ich bin hier!“ Da kam sie. Lucy stand einige Meter von ihm entfernt und sah sich verwirrt um.
„Pater!“ Sie kam herbei gerannt und kniete sich neben ihn. „Was ist mit Ihnen geschehen? Warum liegen Sie hier? Geht es Ihnen gut?“
Er hob beschwichtigend die Hand. „Keine Sorge mein Kind! Mir geht es gut. Es war sehr rutschig gestern Nacht und da bin ich wohl ausgerutscht.“ Die gleiche Ausrede zum zweiten Mal. Wieder habe ich gelogen...
„Ich helfe Ihnen hoch!“ Sie gab ihm ihre Hand und er ergriff sie. Doch spürte er sie nicht. Wie Luft kam ihm sie ihm vor. Er seufzte.
Wieder auf den Beinen atmete der Priester kräftig ein.
„Das tut gut! Danke, Lucy.“
„Gern geschehen, Pater! Weinen Sie?“ Andrews Augen waren tatsächlich feucht.
„Es ist nichts! Nur der Wind.“ Sie nickte misstrauisch.
Einige Minuten standen sie da. Die frische Luft eines Herbstmorgens erfrischte ihre Herzen. Vögel zwitscherten und sprangen zwischen den bunten Bäumen hin und her. Auch ein paar Eichhörnchen hüpften über die Pfade.
„In welcher Angelegenheit wolltest du mich sprechen, mein Kind?“
„Nun, es ist wegen der Hochzeit.“ Er verstand. Sie wollten die Trauung verschieben, aus Respekt vor Hans.
„Ich wollte Ihnen das nur sagen, weil...“
„Geh mein Kind! Geh in Frieden!“, sagte er ruhig. Sie machte einen Knicks und ging.
Andrew blieb und sah zum Himmel hinauf. Ein grauer Wolkenfetzen zog darüber hinweg und Vögel flogen in einer V-Formation.
Was muss ich tun, damit du mir verzeihst?
Die Tage kamen und gingen. Hans der Leutselige wurde beerdigt. Viele waren dabei und nahmen endgültig Abschied von ihrem Messias. Andrew hielt die Grabrede. Es war ein sehr ergreifender Moment, den Niemand ohne Tränen über sich brachte. Die Meisten trösteten sich damit, dass Hans nun in einer besseren Welt war und es ihm gut ginge.
Zwei Wochen darauf heirateten Gary und Lucy. Es waren zwei Wochen der Dunkelheit, jedenfalls für Andrew. Ohne seine Musik, ohne die prächtige Farbe der Kirche... ohne Hans. Er kam sich schrecklich Leer vor. Oft saß er stundenlang in seinem Zimmer und dachte nach. Über sich, die ihm aufgelegten Strafen, und seinem Glauben. Man hat ihm viel böses angetan, Höllenqualen musste er erleiden, und Andrew dachte darüber nach, weshalb er so gepeinigt wurde.
Ich habe Gott erzürnt. Mit meinen Sünden habe ich seinen Zorn auf mich gezogen. Jetzt lässt er mich dafür büßen. Ich habe ihn um Verzeihung angefleht, doch hat dies nicht gereicht. Sein Groll gegen mich, seinem Anhänger, besteht weiter. Aber warum lässt er mich denn so leiden? Bin ich denn schon in der Hölle? Hat er mich zu einem Dasein im Fegefeuer verbannt? Ist für mich denn schon ein Platz im Hades vorbestimmt? Aber welch Unrecht habe ich dir angetan? Bin ich denn wirklich ein so großer Sünder?
Oder bist am Ende gar nicht du mein Richter? Existierst du womöglich überhaupt nicht und der Teufel erlaubt sich einen Spaß mit mir?
Aber wenn es den Satan gibt, muss denn dann auch nicht dich geben? Wo Böses lebt, lebt da nicht auch Gutes? Man hat mir viel Böses zukommen lassen, wo bleibt die Gute Seite? Wie soll ich an dich als Gutes glauben, wenn du dich mir nicht als solches zeigst? Bin ich dessen nicht würdig? Oder bist du es nicht?
Trotz seiner Zweifel, kam Andrew noch seinen Pflichten nach. Nicht seinen Pflichten gegenüber Gott, sondern denen, gegenüber seiner Gemeinde. Er traute Lucy und Gary. Es war eine wundervolle, weiße Hochzeit. Sie gaben sich aus voller Überzeugung das Ja-Wort und verließen unter einem Rosenblütenregen die Kirche. Es wurde Gejubelt und vor Freude geweint. Eine große Kutsche fuhr das Brautpaar zu ihrem neuen Haus. Dorthin luden sie auch gleich die ganze Gemeinde ein und es wurde unter freiem Himmel gefeiert. Eine Kapella bot beste Tanzmusik und auf einem langen Tisch aufgereiht, waren die verschiedenste Gerichte. Von Suppen über gebratenem Schwein bis hin zu Puddings und Torten. Man lachte und schlemmte.
Auch Andrew war dabei. Der Priester saß auf einem Ehrenplatz, was ihm sehr unangenehm war, und genehmigte sich auch einige der Köstlichkeiten.
„Noch ein Stück vom Schwein, Pater?“, fragte der Bürgermeister.
Andrew legte eine Hand auf den Bauch und lächelte. „Ich denke, ich habe genug!“ Das hatte er nicht. Gerade mal ein Stück Brot hat den Weg in seinen Magen gefunden. Er wollte es sich selbst nicht zugeben, aber er hatte Angst, für Völlerei bestraft zu werden.
„Aber nein. Kommen Sie!“ Irgendjemand schnitt noch ein Stück des Braten ab und reichte ihm Cord. „Bitte sehr, Pater!“ Immer noch dampfend lag das Steak vor ihm.
„Na kann ich wohl nicht anders.“, sagte der Priester und langte zu. Es schmeckte wunderbar. Das hat man mir noch nicht genommen. Wahrscheinlich ist es als nächstes dran.
Andrew kaute langsamer. Er ließ seinen Blick über den Hof gleiten. Vor Freude gerötete Gesichter, welche durch das Bratenfett glänzten. Sie unterhielten sich über belanglose Dinge und Lachten. Die Tanzenden wirbelten herum und bewegten sich mehr oder weniger im Takt, den ihnen die Kapelle vorgab. Lucy und Gary stachen darunter sehr deutlich heraus. Sie in ihrem weißen Kleid, und er in schwarz. Eng aneinander tanzten sie ihren ganz eigenen Tanz der Liebe. Der Priester beobachtete sie und lächelte. Er liebte sie beide. Ihm wurde warm ums Herz wenn er sah, wie sie sich mit diesem bestimmtem glitzern in den Augen ansahen und sich ab und zu einen scheuen Kuss gaben.
Er schluckte hinunter. Der Braten war wirklich köstlich. Genieß es, sagte er sich, vielleicht ist es das letzte Mal. Mit bedauern sah Andrew auf seine rechte Hand.
„Kommen Sie Pater!“ Lucy stand neben ihm und streckte ihm beide Arme entgegen. „Tanzen Sie mit mir!“
„Oh, ich...“, stotterte Andrew verlegen. „Ich denke nicht, dass...“
„Aber natürlich!“ Sie nahm ihn bei den Händen und zog ihn hoch. Der Priester bewegte sich zu Anfang noch sehr ungelenk. Lucy hingegen steuerte sie beide in die Mitte des Rasens.
„Nicht so verkrampft, Pater! Geben Sie sich einfach der Musik hin!“ Das war einfacher gesagt als getan. Die Kapelle bestand aus Bauern und Schmieden, was aus der Musik eher ein Geklimper und Gerassel machte. Aber Andrew verstand, was Lucy meinte. Es ging nicht darum, wie gut gespielt wurde, es ging darum, was es für einen selbst bedeutete. Und für den Priester bedeutete diese Feier, mit dem Essen, den Freunden und Freuden, im Augenblick alles. Dies war sein zu Hause, seine Heimat.
Vielleicht, ist dies auch der Ort meines Glaubens...
Man feierte noch bis in den Abend hinein. Das Bankett war schon lange leergegessen und die Musiker wechselten sich permanent ab. Sie wurde dadurch nicht besser. Aber der Spaß hielt bis zum Ende an. Andrew erhob sich.
„Danken wir dem Herren für dieses köstliche Mahl! Und bedanken wir uns ebenfalls für die fantastische musikalische Unterstützung!“ Allgemeines Gelächter war die Antwort.
„Ich denke jeder hier, hat sich amüsiert. Auch ich!“ Breit grinsende Gesichter sahen zu ihm auf.
„Lasst uns diesen Tag nie vergessen, und ihn für immer in unserem Herzen verwahren. Nun geht zu Bett und gönnte Euch, Eure wohl verdiente Ruhe! Lassen wir das Brautpaar allein!“ Alle lachten und erhoben sich ebenfalls. Der Übergenuss von Bier erschwerte es den Meisten. “Gute Nacht, Pater“, verabschiedete ihn Lucy.
„Dir auch, mein Kind!“ Andrew verließ die Festwiese, doch erging nicht zu sich nach Hause. Er hatte etwas Wichtigeres vor.
Grau war das Antlitz der Kirche. In der Nacht war dies jedoch egal, man sah die Farbe nicht. Die Dunkelheit ließ somit der Fantasie freien Lauf. Für Andrew erstrahlte sie in einem himmlischen Blau. Es war wunderschön. Ein Zeichen.
Er stemmte das Tor zur Seite und trat ein. Nur fahles Mondlicht erhellte den Saal und tauchte ihn in einen geistlichen Schein.
Andrew kniete vor dem Altar und faltete die Hände.
„Ich bin hier, um Vergebung zu erlangen. Es gab einst eine Zeit, in der ich nicht an dich glaubte. Ich wusste es nicht, man hatte es mir vorenthalten. Doch dann kam jemand, einer deiner Engel und erlöste mich. Er wies mir den Weg zu dir und half mir aus meiner Hölle. Mit dir an meiner Seite lebte ich fortan glücklich und zufrieden. Ich habe dich geehrt und angebetet. Ich habe deine Regeln geschätzt und deine Worte weitergegeben.“
Er hob den Kopf und richtete seinen Blick auf das große Kreuz.
„All dies tat ich aus tiefster Überzeugung und Ehrfurcht. Dann jedoch habe ich dich verraten. Ich vergaß mit der Zeit deine Bedeutung. Oder nein, besser. Die Bedeutung, die du für mich früher einmal hattest, war unwichtig geworden. Ich war auf der Suche nach einer Neuen. Ich benötigte dringend eine. Das weiß ich nun. Als du deinen Engel zu dir genommen hattest, dachte ich erst, das ich nun gar keine Chance mehr haben würde. Doch dem war nicht so. Es geschahen Dinge, die mir die Augen öffneten, ich sah Dinge, die mich berührten, ich fühlte Dinge, die... die... mich bekehrten. Es war wie eine Erleuchtung, nur zog sie sich über Tage hinweg. Ich kann nicht sagen, dass ich dein Handeln verstanden habe, doch denke ich, dass es genau das war, was ich erhoffte. Dein Wunder! Diese Menschen hier, die mich aufnahmen und mir vertrauten, sie sind deine Kinder. Sie sind meine Heimat. Hier bin ich willkommen, hier mögen mich die Menschen, respektieren mich und ich geben ihnen was ich kann. Mein Leben, unser aller Leben, besteht allein durch dich. Du hast mir meinen Glauben geschenkt, wie du es schon so viele Male getan hast. Du!
Ich denke, nein, ich weiß, ich glaube wieder! Kannst du mir verzeihen?“ Er starrte mit freudiger Miene auf den hölzernen Jesus am Kreuz und wartete auf eine Antwort. Langsam jedoch, verblasste sein Lächeln. Der Herr blieb stumm. Andrew war bestürzt. Er ließ den Kopf hängen und weinte. Sein Seufzen war das einzige Geräusch im weitem Kirchensaal.
Der Schrei einer Frau riss ihn aus seiner Trauer. Er schreckte auf und lauschte. Das aggressive Knistern von Feuer drang in sein Ohr. Verwirrung spiegelte sich in seinem Gesicht wieder. Er rannte zu einer der Seitentüren und öffnete sie.
Die Kirche war von drei Seiten zu betreten. Vom Süden her, wo die Hauptstraße lag. Vom Osten her, wo sich der Friedhof befand und vom Westen, wo sich ein zur Zeit braches Weizenfeld an das Gebäude anschloss. Es schien in der Dunkelheit der Nacht unendlich weit und war immer Menschenleer.
Diese Nacht traf jedoch keiner dieser Punkte zu. Es waren Menschen da. Als Andrew heraustrat blickte er in das entsetzte Gesicht einer alten Frau. Hinter ihr stand der Rest der Gemeinde. Viele hatten sich hingekniet und bekreuzigt. Einige wunden sich vor Schmerzen auf dem Boden, schrieen, während andere beide Arme zum Himmel empor streckten und laut beteten. Die menschlichen Stimmen wurden jedoch gnadenlos vom Knistern eines Feuers übertönt Der Priester drehte sich um und nahm dabei mit erschreckender Gewissheit, den Schwefelgeruch war.
Anstatt eines dunklen Feldes erblickten seine Augen das Werk des Teufels. Dort, wo normalerweise Dunkelheit regierte, brannten nun helle Flammen und griffen Gottes Symbol an.
Ein ungefähr zwei Meter großes Kreuz stand auf dem Feld, und es stand in Flammen. Zu allen Seiten sprühende Funken waren ein Zeichen für den Kampf, zwischen Gut und Böse. Die Erde um das Kreuz herum war verkohlt und rauchte. Das Holz des Kruzifix wehrte sich verbissen gegen die Höllenglut. Man konnte seine Schreie hören. Wind blies dagegen. Die Flammen wurden zur Seite geworfen, gaben aber nicht auf. Der Wind drehte und warf sich mit voller Wucht gegen das Feuer. Es loderte weiter.
Als Andrew schon dachte, schlimmer kann es nicht kommen, ging das Kreuz in einer riesigen Feuersäule unter, die bis zum Himmel reichte. Ein direkter Angriff.
Der Priester sah mit weit aufgerissenen Augen zu.
Das ganze Feld, das ganze Dorf wurde von dem rotglühendem Licht erhellt und verbrannte. Die Wolken versuchten dagegen anzukommen. Der Himmel zog sich über der Säule zusammen. Ein tiefes Grollen dröhnte von oben herab. Blitze zuckten, doch waren sie nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Ungehindert prasselte eine Feuerregen auf die Gemeinde herab.
Andrew achtete weniger auf die Schmerzensschreie als mehr, auf die schwarze Silhouette, welche sich deutlich vor den Flammen zeigte. Zwei Punkte blitzen auf. Der Priester konnte das verzerrte Grinsen vor seinem geistigen Auge schon fast sehen. Der scharfe Schwefelgeruch erleichterte es ihm. Langsam kam ging er darauf zu. Mit einer Hand schirmte er seine Augen vor dem Licht und der Hitze.
„Mach das es aufhört! Im Namen Gottes, schicke diese Flammen wieder zurück in den Höllenschlund aus dem sie kamen!“
Das Grinsen wurde breiter und auch der Schwefelgeruch nahm zu. Andrew wurde schwindlig. Er schmeckte Ruß.
„Nun? Was ist? Tust du es?“
Die schwarze Silhouette reichte ihm etwas. „Nicht ich. Du löschst es!“
Der Priester kam vorsichtig näher und nahm den Eimer an sich. Ja, es war ein Holzeimer gefüllt mit Wasser.
Wie soll ich denn damit...
WENN DU WIRKLICH AN GOTT GLAUBST; DANN WIRD ES FUNKTIONIEREN!
Andrew sah der Gestalt in die dunkle Fratze. Sie macht ihm Platz und wies sogar auffordernd mit dem Arm auf die Feuersäule.
Mit gerunzelter Stirn drehte Andrew sich um. Es ist nicht nur eine Prüfung meines Glaubens, auch die Anderen werden geprüft. Und so wie Gott von der Menschheit abhängig ist, so bin ich von diesen Menschen abhängig. Nur mit ihrer Hilfe ist dies möglich.
Lucy sah Andrew flehende Blicke als Erste. Ihr Kleid war versengt, aber dennoch war sie bereit, für ihren Gott in den Kampf zuschreiten. Und für Andrew.
„Der Priester benötigt unsere Hilfe!“, sagte sie laut. Alle sahen zu ihr auf. „Andrew braucht uns!“
Gary nickte und nahm seine Frau an die Hand. „Ja, und hier sind wir!“
„Jawohl!“, pflichtete ihnen Bürgermeister Heaven bei und stützte seine Frau neben sich. „Das sind wir alle!“
„Yeah!“, rief Georg Fursen und die Gemeinde stimmte zu. Sie hielten sich alle an den Händen und trotzen dem Feuer und dem Bösen. Sie sammelten ihren Glauben und stärkten ihn gegenseitig. Eine gewaltige Welle der Liebe und des Vertrauens schwappte zu Andrew herüber.
Danke!
Der Glauben war nun fest in ihm verankert. Er wirbelte herum vernichtete die Flammen mit den Augen, schloss darauf die Lider, warf den Kopf in den Nacken und betete:
Die Gemeinde hatte im Chor mitgebetet. Andrew öffnete die Augen und rief den Flammen zusammen mit den hinter ihm stehenden Menschen entgegen: „AMEN!“ Der Boden erbebte. Der Priester schleuderte das Wasser auf die Höllenbrut.
Sein Atem kam nur noch stoßweise und bildete kleine Dunstwölkchen. Seine Pupillen rasten. Seine Gedanken standen still. Sie hatten sich im letzten Moment an seinen Glauben gefesselt. Total verkrampft stand Andrew da.
Sonnenlicht schien auf ihn. Es war vorbei! Er hob den Kopf. Ein schwarzes Kreuz stand vor ihm. Es war nass. Der Himmel riss auf und gab ein unbeflecktes Blau von sich. Die Strahlen der Sonnen wärmten Andrews Körper liebevoll. Er ließ den Eimer fallen und streckte sich. Der Wind rauschte sanft über das Feld und erfrischte Andrews Gesicht. Es ist vollbracht! Der Herr hat gesiegt, und ich habe meine Prüfung bestanden! Er atmete tief ein.
„Noch nicht ganz.“ Der Priester drehte sich erschrocken zu der dürren Gestalt mit den Feuerroten Haaren und der Latzhose um.
„Ein Teil deiner Prüfung steht noch an.“ Das Geschöpf trat einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf die Gemeinde frei.
„Du musst ihnen noch etwas beichten!“ Andrew verstand, und war auch ein wenig froh darüber, dass es nun endlich rauskam. Ein für alle mal ist Schluss mit den Lügen. Entschlossen schritt er über das Feld.
„Bete, dass wir uns nie wieder sehen!“, flüsterte die Kreatur ihm hinter her. Dann macht sie Kehrt und verließ den Acker.
Sie erwarteten ihn mit teilweise freudigen, aber auch erschöpften Gesichtern. Die Freude nahm jedoch bei den Meisten die Überhand.
„Pater!“ Lucy kam auf ihn zu und umarmte ihn. Die Menge lächelte.
„Danke, mein Kind!“ Er wandte sich an die anderen „Danke Euch allen! Ohne Eure Unterstützung, wäre dies nicht möglich gewesen.“ Verständnisvolles Nicken war die Antwort.
„Aber muss ich Euch um Euer Gehör bitten. Ich habe noch etwas wichtiges zu erzählen, etwas, dass ich schon viel zu lange geheimgehalten habe.“ Besorgt sahen sie dem Priester zu, wie in die Knie ging und sich seine Augen mit Tränen füllten.
„Vor Jahren bin ich hergekommen als Fremder und Ausgestoßener. Ihr habt mich aufgenommen und Euch um mich gesorgt. Dafür bin ich Euch unendlich Dankbar.“ Sie hörten aufmerksam zu, als er erzählte. Am Ende waren sie verwundert, doch änderte dies nichts. In dem kleinen Dorf blieb alles beim Alten bis auf das große schwarze Kreuz auf dem Weizenfeld, welches von daher geehrt wurde, und bis auf die Tatsache, dass sie sich alle ein Stückchen näher gekommen waren. Sie agierten nun mit einem Glauben, zusammen, als eine Gemeinde.
Und während sie sich noch über ihren Sieg freuten, schlenderte ein große, dürre Gestalt mit feuerroten Haaren und eine Latzhose tragend, auf einer staubigen Landstraße seiner nächsten Aufgabe entgegen. Wer weiß, vielleicht kehrt er ja eines Tages zurück und prüft die Gemeinde ein weiteres Mal. Bevor er das tut, beten wir lieber alle zusammen und danken dem Herren, für das Leben.
Amen!
Ende