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Eine Frage des Willens
Ich kannte Bobby Holmes seit er ein Baby war, ich konnte ihn sozusagen aufwachsen sehen. Mein Sohn hatte das selbe Alter, außerdem wohnten wir nur zwei Minuten voneinander entfernt.
Das erste Mal bewusst wahr genommen hatte ich Bobby allerdings an einem Spätsommerabend, der erfüllt war vom Lärm der Erntemaschinen und dem Geruch des überreifen Korns. Mein Sohn war sechs, der letzte Sommer vor der Schule, und ich bekam ihn jeden Tag frühestens bei Sonnenuntergang zu Gesicht. Dann allerdings hatte er eine Menge Erlebnisse zu berichten, von denen ich mindestens die Hälfte aus eigenen Kindheit kannte.
„Der Bobby Holmes hat eine volle Macke“, sagte er und ich hatte das deutliche Gefühl, dass er es durchaus ernst meinte damit. „Er ist verrückt, aber irgendwie cool. Und er gewinnt immer beim Versteckenspielen.“
Der Junge war in meinem Bewusstsein nicht mehr als eines der vielen anderen Kinder, mit denen mein Sohn seine Freizeit verbrachte. Einzig die Tatsache, dass einer meiner Nachbarn einmal eine abfällige Bemerkung hatte fallen lassen, ließ den Knaben in meinem Gedächtnis etwas präsenter erscheinen.
Mein Sohn erzählte mir nur, dass Bobby Holmes beim Verstecken einen Sieg nach dem anderen davontrug, er war nicht zu bezwingen.
Dass er jetzt tot ist und die Umstände seines Ablebens und das seiner Freundin, bilden den Schlusspunkt eines Lebens, dessen Zeuge ich war, und je näher ich mich mit ihm beschäftigte, desto faszinierender wurde er.
Es ist kalt, eisig. Der Winter ist noch früher eingezogen, als er es sonst ohnehin tut.
Die Dinge verändern sich, alles und jeder scheint in Bewegung – nur Bobby Holmes nicht. Bobby behielt sein kindlich wirkendes Gesicht, seine Interessen wandelten sich nicht und er spielte immer und zu jeder Zeit Verstecken.
Er war ein Kindskopf, verspielt wie ein Delfin und die Leute hatten verschiedene Namen für ihn. Holmie riefen ihn die einen, Bobby sagten seine Eltern zu ihm. Dann gab es welche, die nannten ihn Behindi, Mongo oder schlicht Idiot. Ich sagte Bobby zu ihm, jedenfalls, nachdem ich ihn näher kennen gelernt hatte.
Ich fragte mich nicht, warum Bobby so gut im Verstecken war, das tat mein Sohn. Er war sieben oder acht, als er Bobby mit zu uns nach Hause brachte. Der großäugige Junge folgte ihm wie ein Hündchen und stand am Treppenabsatz, als mein Sohn sagte: „Das ist Bobby.“ Dabei verdrehte er, dass nur ich es sehen konnte, die Augen und fuhr fort: „Aber er ist in Ordnung.“
Bobby war den ganzen Besuch über stumm, er lächelte nur und ließ sich willig durch die Wohnung führen.
„Er ist behindert“, flüsterte mein Spross mir irgendwann zu. „Plemplem, aber in Ordnung.“
Er brachte Bobby nie wieder mit nach Hause und verlor auch das Interesse an dem Jungen. Das einzige, das blieb, war die Frage: „Wie macht er das nur, dass wir ihn niemals finden können? Ich meine, er ist doof und wir nicht!“
Ich weiß nicht mehr, was ich ihm darauf antwortete, ich hoffe nur, ich tat es nicht von oben herab. Sicher kamen die Worte Toleranz, Glück und Mitgefühl vor. Insofern bin ich nicht sicher, dass mein Vortrag keinen Pathos enthielt.
„Er ist Bester beim Versteckenspielen! Wir können ihn niemals finden, irgendwann, wenn wir aufgegeben haben, kommt Bobby Holmes hervor und grinst uns an.“
Wie machte er das, wie stellte er das an? Diese Frage, je weniger ich sie fassen konnte, umso mehr beschäftigte sie mich. Was also hatte er an sich, das ihn befähigte, länger verborgen zu sein als andere? Wie musste man sein, um so zu sein?
Er wohnte zeitlebens bei seinen Eltern. Bis zum Ende, bis zu seinem Tod, unterstützten sie ihn im Leben, obwohl sie selbst schon Unterstützung nötig hatten.
Bobby zog den ganzen Tag durch die Straßen, mit einem Gesicht, als hätte er im Lotto gewonnen. Er kam vorbei an unserem Haus, winkte und lächelte. Bobby, der sich so gut verstecken konnte. Jahr um Jahr ging das so, er wich nicht ab von dem Ritual, sobald er mich sah, winkte er freundlich, solange, bis ich zurück grüßte.
Natürlich wurde auch Bobby älter, doch er blieb ein Kind. Viele aus der Stadt sahen genau das als Fehler in ihm – er wurde nicht erwachsen. Und strich gern durch die Straßen.
Mein Sohn war fortgezogen und meine Frau war schon lange nicht mehr. Ich wohnte allein im Haus. Bobby musste etwa 25 Jahre alt sein. Er war noch immer ein kleiner Junge.
Ich war noch kein alter Mann, doch es fehlte nicht mehr viel. Ich stand einsam in meinem Garten und während ich goss, beobachtete ich die Straße.
Drei Männer kamen den Weg hinunter, aufgeregt und mit rotem Gesicht. Bobbys Vater kam mir immer schon vor wie der Vater von Pinocchio – Gepetto, der alte Puppenmacher. Er rief: „Haben Sie Bobby gesehen?“ und die Blicke der beiden Begleiter nannten den Jungen Bastard oder Idiot.
Ich schüttelte den Kopf. „Was ist passiert?“
„Er hat schon wieder ei’m Huhn den Hals umgedreht“, krähte ein Nachbar und schon waren sie im Laufschritt vorbei.
Im Laufe der Jahre hatte der Junge tatsächlich allerlei Unartigkeiten verbrochen, die einzig dazu geführt hatten, dass die Leute im Ort von Mal zu Mal ungehaltener geworden waren und jedes Verständnis für ihn verloren. Ich hatte meine eigene Theorie dazu. Regelmäßig wurde dann eine Suchaktion gestartet.
Ich stellte die Gießkanne weg und ging in die Richtung, aus der die drei gekommen waren. Es war früher Abend, die Stadt war weitestgehend unbelebt.
Bobby stand mitten auf der Straße, als erwarte er mich und lächelte. Ich ging langsam auf ihn zu und hoffte, dass er meine Unsicherheit nicht bemerkte. Er war ein junger Mann mit dem Gesicht eines Zwölfjährigen. Dass er etwas Schlimmeres fertig bringen würde als bei Rot über die Kreuzung zu laufen, sah man ihm nicht an.
„Warum tust du das?“, fragte ich leise mit einem Blick auf die Fenster der umliegenden Häuser. Ich war sicher, dass hinter den Gardinen wachsame Augen lauerten.
Er lächelte mit den Lippen.
„Warum machst du das?!“
Stolz schlich sich in seinen Blick. Ich hatte ihn getroffen.
Er schaute um sich und zischte: „Ich kann die Zeit anhalten!“ Und lächelte wieder. Dann kehrte er mir den Rücken zu und lief davon.
Sein ganzes Leben bestand aus Verstecken spielen.
„Wie macht man das, die Zeit anhalten?“
Er tat den Ball weg, mit dem er gespielt hatte, und legte den Kopf schief. Wie es Hunde tun, wenn sie den kleinsten Ton mitbekommen wollen. Ich sah in seiner Miene, dass er es bereute, mir von seinem Geheimnis erzählt zu haben. Es kämpften die Furcht vor Entdeckung mit dem Stolz auf das Können in seinem Gesicht. Er war sich uneins, ob er mir mehr erzählen oder das Misstrauen siegen lassen sollte.
„Für mich bleibt Zeit stehen“, sagte er schließlich. „Für andere nicht, aber ich bin nicht mehr da.“
Das war alles, zu mehr ließ er sich nicht hinreißen an diesem Nachmittag.
Er nahm seinen Ball und tippelte davon.
Dieser kleine Bengel glaubte tatsächlich, er wäre in der Lage, die Zeit zu manipulieren. Keine Frage, mein Interesse war geweckt; ich beschäftigte mich nicht nur mit dem Jungen, sondern zunehmend auch mit seinen Ansichten. Und ich hielt die Augen offen. Ich beobachtete ihn und sein Verhalten, und mir fielen mit der Zeit immer mehr Kleinigkeiten auf, die ich nie wahrgenommen hatte.
Der Junge wurde fast ständig von irgendjemandem gesucht.
„Der Idiot ist schon wieder verschwunden. Ich habe gesehen, wie er in meinem Garten Blumen rausgerissen hat. Wenn ich mit dem fertig bin, macht er das nie wieder!“
Alle Welt glaubte, sich über Bobby Holmes stellen zu können, doch der Junge lachte nur über uns. Wenn er Lust hatte zum Verstecken spielen, dann animierte er irgendjemanden auf seine Weise, ihn zu suchen. Und saß dann sicher, wie unter einer Tarnkappe und schaute zu, wie sich die Leute abmühten.
Natürlich glaubte ich ihm nicht, dass er die Zeit anzuhalten vermochte. Doch irgendetwas tat er, er war zu etwas Besonderem in der Lage.
„Wie machst du das, die Zeit anhalten?“, fragte ich ihn, als er wieder einmal sichtbar war.
Er lächelte, wie fast immer, und schaukelt mit seinem Kopf. „Ich mach’s“, stieß er hervor und verharrte. Er schaute mich von unten herauf an.
„Aber wie?!“
„Weiß nicht. Ich mach’s.“
„Ja, aber du musst doch irgendetwas tun, Junge. Irgendetwas musst du machen, damit die anderen dich nicht sehen.“
Er lachte. „Ich halt’ die Luft an. Ist anstrengend und ich kann nicht lange. Luft anhalten“
Das war dann wieder alles gewesen. Er drehte sich weg und lief rasch davon. Einer meiner Nachbarn kam den Weg herunter, und ich hatte den Eindruck, er hätte Bobby verscheucht.
„Was wollte der denn von Ihnen?“
Er war erheblich jünger als ich und wohnte noch nicht lange hier.
„Ich glaube eher, es war umgekehrt“, murmelte ich in Gedanken und ließ ihn stehen.
Dann kam der Tag, an dem Bobby Holmes eine Freundin mit nach Hause brachte. Sie war ein hübsches, ruhiges Ding, etwas naiv zwar, aber freundlich und immer höflich. Eines Tages war sie auf Besuch gekommen bei ihrer Großmutter, und Bobby war an ihr vorbeigeschlendert. Wenn meine alten Augen mich nicht trogen, dann hatte die beiden sofort etwas füreinander übrig. Nun, Bobby war nicht hässlich und auf seine eigene Art auch gescheit.
So strichen beide Hand in Hand durch die Straßen, Bobby stolz und ohne Scheu und gehörten bald zum Stadtbild, eingehakt und lächelnd. Ein Ende war nicht in Sicht, zumindest nicht für Bobby und seine Freundin.
Ich sah sie oft, Bobby winkte wie immer und kam das erste Mal zu mir an den Gartenzaun, um mir seine Freundin vorzustellen. Wenigstens war das seine Art, sie mit mir bekannt zu machen.
Sie standen beide Hand in Hand mir gegenüber und sagten keinen Ton. Bobby lächelte und das Mädchen blickte auf den Boden, wie eine Schönheitskönigin vom Dorf.
„Hallo“, sagte ich unsicher.
Bobbys Blick stieg noch weiter nach oben, als er „Hallo!“ sagte und „Sarah.“
Ich konnte eben noch „Freut mich!“ erwidern, als die Beiden weitergezogen waren.
Doch die Zeit rückte näher, da musste das Mädchen wieder nach Hause reisen, der Besuch bei den Großeltern neigte sich dem Ende zu. Immerhin fast zwei Monate war sie hier gewesen – etwa die Dauer, die es braucht, sich aneinander zu gewöhnen.
Ich glaube, Bobby wollte nichts wissen von einer Trennung, für ihn gab es diese Möglichkeit gar nicht; hartnäckig zog er weiter mit der Kleinen durch die Stadt, je näher der Termin der Abreise auch rückte. Allein schon diese Tatsache zeigte, wie sehr er an dem Mädchen hing. Dass ich dies nicht rechtzeitig genug wahrnahm, die Verzweiflung Bobbys nicht sah und die Schlüsse daraus zog, das ist die Last, die ich tragen muss.
An dem Morgen lag eine harte Reifdecke über allem, der Frost war gekommen. Die Temperaturen fielen jetzt gut bis 10, 15 Grad unter Null. Die Gegend hier ist bekannt für frühe, harte Winter.
Der Tag, an dem die Kleine abreisen sollte! Seitdem ist die Stadt in Aufruhr. An diesem eisigen Vormittag kam Bobbys Vater zu mir, gebeugt und ohne Lebenswillen im Blick. Lange starrte er mich an, seine Augen flackerten.
Dann sagte er mit brüchiger Stimme: „Der Junge ist tot!“ Eine Träne löste sich und rollte übers zitternde Kinn. „Er ist heute Nacht erfroren, draußen vor der Stadt. Zusammen mit seiner Freundin.“
Als er schwer davon schlurfte, sah ich ihm nach, ohne ihn mehr zu sehen. Ich dachte an Bobby und seine Freundin und an die bodenlose Unvernunft, die Nacht im Freien zu verbringen. Sie waren einfach erfroren, als hätten sei keine Heimat mehr.
Ich weinte um ihn, als wäre er mein eigener Sohn.
Heute gelangte das Ergebnis der Obduktion in den Umlauf des täglichen Tratsches. Man hat die Leichname der beiden aufgeschnitten, weil es Unstimmigkeiten gab, kleine Differenzen mit dem Meister Tod. Als die Kälte in ihren Körper kroch, die Glieder klamm wurden, da lebten sie schon nicht mehr.
Man brachte die wahre Ursache des Todes von Bobby Holmes und seiner Freundin heraus. Alle Welt hatte geglaubt, sie wären erfroren, an eisiger Unterkühlung gestorben. Dass es nicht so war, dass der Tod anders kam, das hätte ich wissen müssen.
Die Beiden sind erstickt.
Ich weiß nicht, woran ich noch glauben soll.