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Eine gar traurige Geschichte

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21.10.2003
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Eine gar traurige Geschichte

Eine gar traurige Geschichte

"Oh, I see through the darkness my way back home
the journey seems endless, but I'll carry on
the shadows will rise, and they will fall
and our night drowns in dawn."

-HIM, "The Path"

Eine gar trostlose Einleitung

Es war einmal, vor etwa einhundert Jahren in England, ein Haus, tief, tief in einem dunklen, unheimlichen Wald. Dieses Haus war gar seltsam: Es war alt und grau hatte viele Türme und Fenster. Nebelschleier kreisten des Tages langsam darum herum, so dass die Sonne niemals das Haus erreichte und Krähen und Raben setzten sich des Nachts auf seine Türme und kreischten ganz laut, so dass immer eine schrecklich misstönende Musik durch das Dunkel hallte. Der Garten war von ebenso unwirtlicher Natur: Der Rasen war starr und dunkel und die Blumen ließen die Köpfe hängen und manchmal, wenn der Wind ging, schienen sie zu seufzen.
Man könnte wohl meinen, dass es niemand in so einem schrecklichen Gemäuer aushielte, aber falsch gedacht: Tatsächlich lebte zu fraglichem Zeitpunkt schon seit sechzig Jahren eine Frau in dem Haus. Und wie könnte es anders sein, wenn schon das Heim so grauslig ist: Diese Frau war eine knochige Gestalt mit langen, dünnen Fingern und grauem, rattenhaften Gesicht, aus dessen immerzu boshaft grinsendem Mund oben zwei große, gelbe Zähne standen, und das fast in unterschiedliche Richtungen. Ihre Stimme war schlimmer als das Kreischen von Fingernägeln auf Schiefertafeln, und immerzu schimpfte sie nur. Sie schimpfte schlimmer als der schlimmste Rüpel in den übelsten Städten der gesamten Welt. Und auch, aber nicht nur deshalb, war die alte Frau immer allein. Sie war so allein, dass sie immer böser wurde.
Tagsüber saß sie an ihrem Spinnfaden und sponn neue Kleider, die immer nur schwarz waren. Diese Kleider zog sie dann den großen Puppen auf dem dunklen und verstaubten Dachboden an, denn da standen Duzende von ihnen. Und sie wechselte die Kleider niemals, so wie sie ein neues Kleid fertig hatte, zog sie es einer neuen Puppe an. Mit dem Kleiderspinnen hatte sie angefangen, als sie in das Haus gezogen war, und da einige Puppen schon seit Anbeginn ihrer einsamen und bösen Herrschaft über das Haus auf dem Dachboden standen, waren viele schon vergilbt und von Motten zerfressen.
Nachts aber, da zog die alte Frau murmelnd durch die dusteren Gänge ihres Hauses. Und dann tat sie, was sie eigentlich am besten konnte: schimpfen.

Drei gar unglückliche Geschwister

Nun wollte es aber eine grausige Fügung des Schicksals so, dass die drei entzückendsten Kinder, die man sich vorstellen kann, in die Fänge dieser griesgrämigen alten Frau kamen: Durch eine Reihe betrüblicher Ereignisse, die tatsächlich so betrüblich sind, dass sie an dieser Stelle besser nicht genannt werden, kamen die drei Geschwister Loreley unter die Obhut ihrer alten Tante Agatha.
Die drei Kinder waren ihr ganzes Leben in vollendetem Glück großgeworden, und durch das plötzliche Herausgerissenwerden aus ihrem perfekten Leben in einem großen, hellen englischen Landhaus waren sie noch ganz durcheinander.
Da war einmal Lily, das entzückendste, artigste kleine Ding im ganzen Königreich. Lily war ein süßes und anhängliches Mädchen mit guten Manieren und einer einfach hinreißenden Art - früher, hat sie jeder, der sie kennen lernte, spätestens nach einem Tag ins Herz geschlossen, denn da war sie ein wunderhübsches Mädchen mit langem, schwarzen Haar und vollem roten Mund, der lächelte wie die Rosen blühe, wenn die Sonne scheint. Heute allerdings, da bietet sie einen wahrhaft erdrückenden Anblick: Ihre Haut ist leichenblass, ihr Haar ist zu einem Zopf gebunden und der Mund ist bläulich angelaufen, ihre Augen haben vor lauter Weinen rote Ringe bekommen, und sie trägt nun immer nur mehr schwarze Kleider. Ihre Gestalt ist rührend: Der kleine Kopf immer gesenkt, die Schultern hochgezogen, die Hände wie zum Gebet ineinander gelegt.
Brocus ist der kleine Bruder von Lily: Er ist schmal geraten und trägt eine artige, aber lustige Scheitelfrisur. Er war immer schon ein wenig schüchtern und zurückhaltend und war nach der gewollt ungenannt gebliebenen Reihe von unerfreulichen Ereignissen nun noch mehr in sich gekehrt, aber er hatte immer schon einen unfassbar starken Beschützerinstinkt seiner Geschwister und besonders Lily gegenüber. Auch er trägt nun bevorzugt schwarz, und die Trauer hat beinahe noch tiefere Spuren bei ihm hinterlassen als bei Lily - wenn das denn noch möglich sein sollte: Die braunen Haare sitzen auf einem beinahe totenschädelartigen Kopf, der vor einigen Wochen noch strahlend und braungebrannt war. Er stakst durch die Welt wie ein verhindertes Skelett.
Cherry ist das kleinste der drei unglücklichen Geschwister - obwohl Cherry gar nicht so unglücklich ist. Ob es nun ein Junge oder ein Mädchen ist, weiß man nicht - Cherry ist Cherry und nichts anderes. Das kleine Kindchen ist für sein Alter schon ungeheuer schlau und flitzt durch die Welt wie ein Frettchen, und da Cherry noch so jung ist, hat es wahrscheinlich noch gar nicht gemerkt, was ihm widerfahren ist - jedenfalls ist es jetzt, wo es allein ist mit ihren Geschwistern, noch kontaktfreudiger geworden als zuvor.

Eine gar dustre Ankunft

Anfang Herbst 1905 also fuhr eine schwarze Kutsche gemächlich durch den rotbraun verzierten Wald. An der Tür der Kutsche prangte ein großes, silbernes “L” (was freilich für “Loreley” steht, den Familiennamen von drei der vier Reisenden: Lily, Brocus und Cherry). Die Kinder fuhren gemeinsam mit dem Notar Mr. Dumpty, ein kleiner, dicker und glatzköpfiger Mann mit Brille und schwarzem Anzug, der zwar hochnäsig, aber auch hingebungsvoll war.
So fuhr die Kutsche zwischen schräg stehenden, kahlen Bäumen hindurch, deren Äste wie Knochenhände in den klaren Herbsthimmel ragten, einen schmalen und unwirtlichen Weg entlang, immer tiefer in den Wald hinein. Je weiter sie fuhren, desto dichter wurde der Wald, und desto mehr Wolken warfen ihre Schatten über die Welt.
Die drei Kinder saßen betrübt und nachdenklich auf ihren Plätzen im dunklen Inneren der Kutsche auf mit Samt ausgeschlagenen Sitzen. Sie dachten darüber nach, ob sie es bei Tante Agatha wohl recht gut haben würden.
Wird sie auf uns aufpassen?, fragte sich Lily.
Wird sie sich um uns kümmern?, fragte sich Brocus.
Wird sie mich regelmäßig füttern?, fragte sich Cherry.
Nach fast drei Stunden Fahrt erreichten sie schließlich ihr Ziel: Tante Agathas Haus.
Es war inzwischen später und dunkler Abend. Wolken und Nebel hatten das Haus umschlossen. Ein kalter Wind wehte, und die kahlen Bäume, die am Waldrand zu sehen waren, schienen mit ihren Ästen ein Spinnenetz um das Haus weben zu wollen.
Lily, Brocus, Cherry und Mr. Dumpty stiegen aus der Kutsche und blickten auf das Gemäuer: Die kahlen, grauen Wände, die vielen Türme und Zinnen und die großen, schwarzen Fenster.
“So, Kinder. Hier wären wir. Euer neues Zuhause!”, sagte Mr. Dumpty feierlich, obwohl er etwas erschrak, als er das Haus sah.
Die Kinder wichen zurück.
“Mir wird beim Anblick schon ganz Leid”, gab Lily tonlos zurück. “Wie soll ich denn je darin wohnen?”
Mr. Dumpty wirkte verlegen. Auch ihm war das Haus ungeheuer, aber er gab es nicht zu.
“Von innen ist es viel schöner!”, versuchte er die Stille nach Lilys Frage zu brechen. “Es ist pompös eingerichtet, und jedes Kind hat sein eigenes, großes Zimmer voll mit den tollsten Spielsachen!”
Lily sah kurz zu Mr. Dumpty, dann blickte sie auf das Haus zurück.
“Ich will keine Spielsachen. Wenn ich meine Geschwister nicht mehr habe, habe ich gar nichts mehr.”
“Selbstverständlich könnt ihr euch frei im Haus bewegen, wie, wo und wann ihr wollt!”
Die vier blickten wieder für einige Zeit auf das Haus, während der kalte Wind beängstigende Ausmaße annahm. Sie waren so sehr von der finsteren Atmosphäre, die das Haus umgab, gefangen, dass keiner es wagte, sich zu rühren.
“Wird sich Tante Agatha gut um uns kümmern?”, fragte Lily schließlich.
“Sicher! Wie kannst du das nur bezweifeln?”, gab Mr. Dumpty empört, aber gleichzeitig mitleidig zurück.
“Meine Mutter sagte einmal, Tante Agatha sei eine böse Hexe, mit mehr Verstand für das Fluchen als für das Spielen mit einer Katze.”
“Ach was! Tante Agatha ist nur etwas... eigenbrötlerisch.” Mr. Dumpty sagte für einige Sekunden nichts mehr, sondern blickte abwechselnd zwischen den Kindern und dem Haus hin und her. Dann schob er die Kinder durch den Garten auf die Haustür zu.
“Wenn Tante Agatha uns schlecht behandelt... kommen Sie dann wieder?”, fragte Lily unterwegs.
“Wenn ihr zu mir kommt und mich darüber unterrichtet, dass Tante Agathas Verhalten euch gegenüber nicht angemessen sein sollte, ja, dann werde ich wieder hierher kommen”, sagte Mr. Dumpty und drückte die Klingel, die schrill läutete.
Lily blickte über die Schulter.
“Aber dazu müssten wir da durch.” Sie nickte auf die Bäume zu. “Durch den Wald.”
“Ja, das müsstet ihr wohl.”
“Ich will sterben”, sagte Brocus in genau dem Augenblick, als sich die Tür öffnete.
“Aber, aber, mein Junge...”, wisperte eine Stimme aus dem Dunkel des Hauses. “Mit solchen Wünschen sollte man vorsichtig umgehen, sie sind wie Papierdrachen im Herbstwind: Einmal losgelassen können sie überallhin fliegen und jede nur erdenkliche Person treffen...”
Die vier standen wie erstarrt vor der dunklen Tür, und einige Zeit nach dem letzten Satz trat eine gebeugte, verrunzelte, alte Gestalt aus dem Finstern hervor.
“Ich bin Tante Agatha”, sagte sie in Flüsterton. “Und ihr seid...”
Sie zeigte mit ihren langen, dürren Fingern auf die erschrockenen Gesichter der Kinder.
“Lily... Brocus... Cherry!”
Dann wandte sie sich an Mr. Dumpty.
“Danke sehr, guter Mann. Seien Sie versichert, dass die Kinder bei mir in besten Händen sind. Und nun: Guten Abend!”
Mr. Dumpty verstand und machte auf der Stelle kehrt, hastete zur Kutsche, und hieß den Kutscher fahren. Binnen weniger Sekunden waren sie im Nebel verschwunden. Die Kinder blickten ihnen bis zuletzt nach. Als sie sich wieder umdrehten, sahen sie in die nebelgrauen Augen von Tante Agatha, in denen die pure Schadenfreude aufblitzte.
“Kommt rein, kommt rein”, kreischte sie, “es zieht ein Sturm auf, und es wird eine unruhige Nacht werden. Kommt rein, ich zeige euch das Haus. Ich zeige euch euer neues Zuhause”, kicherte sie, legte ihren Arm um die Kinder und schob die drei unglücklichen Geschwister in ihr Haus.

Ein gar unheimliches Haus

Von innen war das Haus noch einmal so gruslig wie von außen. Das stellten die Kinder sofort fest, als sie den Salon durchquerten.
Der Salon war mit einem großen, blutroten Teppich ausgelegt, der zwar flauschig war, aber auch seltsam roch. Die Wandvertäfelung war aus schwarzem Holz, dass mit Schnitzereien von Hexensabbaten und Teufeln, die gegen Engel kämpfen, verziert war. Die Decke war mit einem gewaltigen und gewalttätigen Bild versehen.
Die Gänge im Haus waren dunkel. Nur eine einzige Kerze flackerte jeweils an einer Wand, und das reichte aus, um die Hand vor der eigenen Nase zu erkennen.
Die Zimmer der Kinder waren tatsächlich fast vollständig in Violett, Dunkelrot und Schwarz gehalten: Die Teppiche, die Sofapolster, die Betten, alles, außer die Gestelle der Betten, Tische, Stühle und Sofas natürlich: Sie waren aus dunklem Holz gefertigt.
Sofort nach ihrer Ankunft wurden die Kinder von der alten Frau auf ihre Zimmer gebracht.
“So, meine lieben Kinderchen, hier bleibt ihr bis morgen früh. Geht besser schon bald in euere Bettchen, heute Nacht wird ein gewaltiges Unwetter den Wald umtosen. Wenn ihr Angst habt... nun, dann könnt ihr euch gegenseitig Beistand leisten. Versucht aber nie, mich nachts zu finden, ihr würdet euch verlaufen und vermutlich vor Angst sterben... und nun: Gute Nacht!”
Mit diesen Worten verließ die alte Frau das Zimmer von Lily, in dem die drei Geschwister auf dem Bett saßen.
“Ich vermute, Cherry ist in meinem Bett nachts besser aufgehoben. Und du kannst für die erste Nacht auch hier schlafen.”
“Danke, Lily. In diesem Haus alleine in einem Zimmer schlafen, und dann auch noch zusammen mit dieser alten Frau während eines Gewitters... da wird einem ja ganz bange!”
Fürs erste waren die Kinder ruhig, doch dann fing Lily an zu schluchzen.
“Ich möchte zurück in unser Haus.”
Brocus nahm sie in den Arm.
“Ich auch. Und ich denke, Cherry will auch nicht hier bleiben. Aber nun sind wir einmal hier und müssen versuchen, das Beste daraus zu machen. Ich meine, so schlimm wird es schon nicht werden, und sollte uns Tante Agatha ungerecht behandeln, dann werden wir einfach zu Mr. Dumpty nach London fahren. Wir laufen einfach durch den Wald, bis wir irgendwo wieder herauskommen, und dann nehmen wir eine Kutsche nach London - so schwer ist das nicht!”
Brocus wollte seine Schwester freilich mit diesen Worten aufheitern, aber er selbst glaubte auch nicht so recht daran, hier eine Minute in Glück und Frieden verbringen zu können, und schon gar nicht, dass ihnen eine Flucht aus dem Haus gelingen würde. Da fing auch schon der Wind zu tosen an, und kurz darauf regnete es.
So verbrachten die Loreley- Kinder die erste Nacht in Tante Agathas Haus zusammengekuschelt unter der Decke im Bett, während draußen der Wind tobte und der Regen prasselte, die Blitze zuckten und die Donner grollten, die Krähen und Raben krächzten, und manchmal, ein, zweimal in der Nacht, Tante Agatha an ihrer Zimmertür vorbeiging und kicherte.

Ein gar furchterregender Tag

Am nächsten Tag, gerade nachdem sie aufgewacht waren, kam Tante Agatha ins Zimmer und zog die Vorhänge auf. Es war zwar schon morgen, aber der Himmel war noch sehr bewölkt und es nieselte noch etwas, deshalb begrüßte die Kinder statt strahlender Sonne, wie in ihrem alten Zuhause üblich, nur bleifarbene Luft, aber das schlimmste schien überstanden zu sein - zumindest was das Wetter anging.
“So, nun habt ihr aber genug geschlafen!”, giftete Tante Agatha sie an. “Steht auf und wascht euch!”
Mühsam erhob sich Lily als erste aus dem Bett. Es war schwer genug für das Mädchen, das kuschelig warme und weiche Bett zu verlassen und sich der bitteren Kälte des Zimmers auszusetzen, nein, Tante Agatha bestand auch darauf, dass sie sich eiskalt abduschte, um ihrer “kränklichen Natur etwas Leben einzuhauchen”.
Nachdem Lily in einen dicken, violetten Morgenmantel gewickelt aus dem Bad torkelte, war Brocus an der Reihe, der aber mit heißen Wasser duschen musste (Brocus war viel zu niedergeschlagen, um Einwände zu erheben), um “etwas Feuer in seinen dürren, kalten Glieder zu entfachen”. Dann wusch Tante Agatha Cherry, welches daraufhin den Rest des Tages und die ganze Nacht hindurch schlief.
Das Frühstück fiel spärlich für die Kinder aus: Brot und Kamillentee, je eine Portion für jeden.
Danach wurden sie wieder auf die Zimmer geschickt.
“Da habt ihr alles, was ihr braucht!”
Cherry schlief, Brocus lag auf dem Fußboden in Lily Zimmer und träumte vor sich hin (wobei er manchmal zu seufzen und schluchzen begann) und Lily schrieb Gedichte in ein kleines, schwarzes, dickes Büchlein, das nur leere Seiten hatte und auf dem Schreibtisch in ihrem Zimmer gelegen hatte. Diese Gedichte waren einfach, aber inspiriert, wie zum Beispiel:

Totenschädel, Spinnenbeine,
Ich bring um die Tante meine.
Dann können wir gehen gleich nach Haus.

oder

Düstere Tante mit düsterem Haus
Sucht Kinderlein für Festtagsschmaus.

oder

Wenn ich seh’ die alte Tante
Will ich umbring’n sie mit der Kante.

Der Tag verging so langsam und zäh wie Schleim.

Ein gar niederschlagender Abend

Gegen Abend dann, es war schon dunkel, kam Tante Agatha in das Zimmer.
“Kinder”, krächzte sie, “helft mir, dieses Kleid einer Puppe anzuziehen. Ich bin schon alt, und meine Finger sind so starr wie Äste.”
Lily erhob sich sofort und schritt aus dem Zimmer, ihrer Tante hinterher. Brocus brauchte erst seine Zeit, um aufzustehen, die Tränen wegzuwischen, die Haare zu richten und sich zu räuspern.
Als er dann das Zimmer verließ und durch den halbdunklen Korridor Lilys Schemen vor ihm folgte (die wiederum Tante Agathas Schemen folgte) und hinter ihr das Schneiderzimmer betrat, wollte er erst Lily fragen, was das denn solle, doch dann ließ er es: Lily sah das Kleid über dem Stuhl hängen, in ihren Augen funkelte der reinste Hass.
“Hier!”, krähte die alte Tante, “halt das Kleid, ich hole die Puppe!”
Lily nahm das Kleid in die Hände und besah es so interessiert von allen Seiten, das Tante Agatha innehielt und schon die ganze Zeit Sachen wie “Gefällt es dir, mein Kind? Nun, es ist eine meiner besten Arbeiten” sagte. Da nahm Lily das Kleid an jeweils einem Ärmel und riss es in der Mitte auseinander.
Für einen kurzen Moment war die alte Frau fassungslos, dann stürmte sie auf das Mädchen zu. Aber Lily war natürlich flinker: Sie flitzte aus dem Zimmer und lief in das Dunkel der Korridore hinein. Ziellos rannte sie durch die Gänge des Hauses, riesige Treppen hinauf und riesige Treppen hinunter, bis sie schließlich vor einer alten, modrigen Tür stand. Der Geruch des Holzes versprach eine unangenehme Überraschung, aber Lily hörte das Schimpfen der alten Frau hinter sich, also öffnete sie die Tür und ging hindurch.
Erdrückende Dunkelheit umgab sie, fauliger Modergeruch, eiskalte Stille. Sie tat einen Schritt nach vorne, um zu testen, ob ihr etwas im Weg stünde. Nichts. Noch ein Schritt, wieder nichts. Dann, beim dritten Schritt, stieß sie an die erste Puppe an.
Lily sah nicht, wie die Puppe den Kopf drehte und sie anblickte. Das Mädchen schauerte, ihre Unsicherheit war zu groß, sie ging immer weiter zurück zur Tür. Im selben Moment schoben sich Dutzende Puppen, teils ohne Arme oder Beine, auf Lily zu. Das Mädchen schlüpfte durch die Tür und schloss sie wieder zu. Sie war sich für den Rest ihres Lebens der Gefahr, in der sie in dem Zimmer schwebte, nicht bewusst.
Tante Agatha stand hinter ihr auf dem Flur.
“So, du Göre! Nun komm mit!”
Lily, die sich in die Enge getrieben fühlte, gab nach. Sie wehrte sich nicht, als die alte Frau sie am Handgelenk packte und mit sich zog.

Ein gar abstoßender Keller

Brocus lief mir einer Kerze in der Hand, die er von der Wand genommen hatte, durch die Gänge des Hauses. Erst jetzt konnte er den morschen, mit schwarzen Läufern ausgelegten, Boden erkennen. Bei jedem Schritt wirbelten Staubwolken auf. Es dauerte eine Weile, bis er die Schreie von Lily und die Flüche von Tante Agatha hörte, aber sobald er sie hörte, folgte er ihnen und lugte einige Zeit später durch das Schlüsselloch der gusseisernen Kellertür.
Tante Agatha hatte Lily in einen Käfig gesperrt und versucht, sie mit ihrem langen, dünnen Zeigefinger zu pieksen, aber Lily zog sich bis in die hinterste Ecke zurück. Dann wandte sich die alte Frau einem großen Ofen zu, der in der Wand eingearbeitet war. Über dem Ofen hingen Messer, in denen “Junge” und “Mädchen” eingraviert waren. Ansonsten stand ein mit getrocknetem Blut überströmter Tisch mit Lederriemen, deren Größe auf Kinder zugeschnitten war, und eine Kiste mit Holzscheiten, im Raum.
Tante Agathe legte vier Holzscheite in den Ofen und zündete ihn an, was ein schreckliches Getöse verursachte und ein infernalisches Licht durch den Raum schleuderte.
“Wieso tun Sie mir das an?”, kreischte Lily und versuchte gegen den Lärm anzukämpfen.
“Weil ich Hunger habe, mein Kindchen. Auf dein zartes, weißes Fleisch.”
“Aber Sie können mich doch nicht einfach so essen, nur wegen diesem blöden Kleid!”
“Du hast es zerrissen, also musst du bestraft werden! Du musst gebraten und zerhackt werden, dann kann ich dich essen!”
Lily sagte nichts mehr, sondern warf angsterfüllte Blicke auf ihre Tante Agatha. Diese war weiter mit dem Ofen beschäftigt.
“Sie Monster!”, kreischte Lily, aber Tante Agatha schien sie nicht zu hören.
“Heute die zarte kleine Lily, morgen den knöchrigen Brocus, und übermorgen Abend den Festschmaus: Cherry, das kleine, weiche Ding.”
Lily war kurz davor zu weinen. Brocus ballte die Hände zu Fäusten. Er öffnete langsam und leise die Kellertür und schlich sich an die Hexe heran. Als Lily ihn sah, quiekte sie entzückt auf, aber die Hexe war zu sehr mit dem Ofen beschäftigt, um das mitzubekommen.
Zuerst angelte Brocus sich den Schlüssel für den Käfig vom Gürtel der Hexe. Dann holte er tief Luft, fasste sich ein Herz, holte weit aus, und verpasste der Hexe einen saftigen Schlag gegen den Rücken. Sie fiel nach vorne, direkt in den Ofen. Ein Sturm aus Feuer, Funken und Schreien flog durch den Raum, aber Brocus lief sofort zum Käfig, schloss ihn mit dem Schlüssel auf und zog Lily heraus. So schnell sie konnten, liefen sie aus dem Keller, holten Cherry aus dem Zimmer und legten es in eine pelzverbrämte Tasche, die sich Brocus umschnallte, und liefen für immer aus dem Haus.

Ein gar boshafter Wald

Es nieselte noch immer. Lily und Brocus genossen die Kälte, nachdem sie aus dem infernalisch heißen Keller entkommen waren, und holten tief Luft. Sie umarmten und küssten sich, bis sie sich schließlich sagten, sie müssten jetzt endlich von diesem verfluchten Stück Land fliehen. Allerdings konnten sie sich Zeit lassen, die Hexe war ja tot.
Also schlenderten sie in die Nebelbänke und erblickten bald darauf den finsteren Wald: Die Bäume waren kahl und schief, die Äste wie dürre Knochenfinger, der Himmel ganz mit Wolken überzogen, und sogar zwischen den Bäumen waberten Nebelfetzen umher. Ab und zu zog ein kalter, mal stärkerer, mal schwächerer, Windhauch durch das Geäst.
Brocus und Lily gingen Hand in Hand durch das Laub, und zum ersten Mal seit Wochen fühlten sie sich glücklich.
Da hörten sie plötzlich ein Jaulen hinter sich. Brocus drehte sich um, und schon sprang ihnen der Wolf entgegen. Er war groß und grau, mit glühenden grauen Augen wie Tante Agatha und langen Zähnen und Krallen.
Er sprang, wie gesagt, aus dem Nebel direkt hinter sie, dann bäumte er sich auf versuchte, Brocus in den Nacken zu beißen. Der konnte gerade noch nach vorne springen und Cherry von sich weg schleudern.
“Lily! Nimm Cherry und lauf!”, schrie Brocus seine Schwester an. Dann landete er auch schon hinter einem umgefallenen Baumstamm. Augenblicklich sprang der Wolf hinterher. Lily hörte ein wütendes Knurren und einen langgezogenen Schrei, sie sah, wie Brocus seinen Arm in die Höhe riss und versuchte, den Wolf am Kopf zu packen. Brocus schrie noch einmal auf und jaulte “Lauf, Lily!”, dann rannte das Mädchen auf Cherry zu, ohne sich noch einmal nach ihrem Bruder umzudrehen.
Eine Ewigkeit später hielt sie an. Ihre Knie zitterten, ihr Herz pochte, und sie hatte während ihrer Flucht die ganze Zeit geschluchzt und geweint. Sie drückte Cherry, das noch immer in der Tasche lag und schlief, fest an sich und murmelte:
“Du kannst stolz auf deinen Bruder sein, Cherry. Er hat sich für uns geopfert!”
Da begann es plötzlich zu regnen. Lily sah nach oben, aber der Nebel über den Bäumen versperrte die Sicht auf den Himmel. Als sie wieder auf den Boden blicken wollte, sah sie plötzlich die Welle aus Schlamm auf sich zukommen. Die Welle riss alle Bäume auf ihrem Weg um, und Lily sah sich kurz hilflos um, nur um zu erkennen, dass eine Flucht vollkommen sinnlos wäre. Sie drückte Cherry noch fester an sich, dann riss die Welle die beiden fort.
Lily hatte die Augen geschlossen. Sie hörte die Wellen um sie herum wüten, und als sie Luft holen wollte, merkte sie dass sie unter Wasser war. Wie kam so eine Welle in einen Wald? Wo kam der Wolf her? Was ging hier vor? Sie hatten weder irgendwelche Tiere noch irgendein Wasser, nicht mal einen Bach gesehen, als sie hierher kamen. Lily versuchte, sich irgendwie zu orientieren, sich ihre Lage bewusst zu machen. Wie war sie wohl unter Wasser?
Aber außer dem Druck auf ihrem zarten, kleinen Körper, war das einzige, was sie merkte, dass das Wasser ihr Cherry aus den Armen riss. Sie versuchte zu schreien, aber unter Wasser gelang ihr das inmitten der tosenden Wellen nicht. Sie schaffte es, sich nach oben zu kämpfen, und sah, dass sie inmitten eines Flusses von wütenden Wassermassen durch den Wald geschleudert wurde. Sie schrie und kreischte, aber alles war zwecklos: Sie wurde wieder unter Wasser gedrückt. Mit letzter Kraft versuchte sie noch einmal, sich an die Oberfläche zu kämpfen. Diesmal hatte sie das Glück, sehr nahe am Ufer zu sein, und schaffte es tatsächlich, sich an einer dicken, knorrigen Wurzel festzuhalten und sich an das Ufer zu ziehen. Sie hustete das Wasser aus ihren Lungen und stand auf. Ihr schwarzes Kleid war tropfnass, ihre Haare waren aufgegangen und hingen wirr in ihr Gesicht.
“Wir haben es geschafft...”, murmelte sie.
Erst da realisiert sie, dass sie Cherry verloren hatte. Sie schloss kurz die Augen, atmete tief durch, und klappte vor ihrem geistigen Auge ein dickes, schwarzes Buch zu.
“Also gut. Bringen wir es zu Ende.”
Als sie die Augen wieder öffnete, stand das, was einmal Tante Agatha war, vor ihr inmitten des Nebels zwischen den Bäumen. Es war verbrannt und Teile ihres Kleides waren mit ihrem Körper verschmolzen. Die Gestalt war dünn und knochig, und aus den Fingern und Zehen standen lange, dreckige Krallen hervor. Der Kopf war kahl und verkohlt und aufgerissen. Auch das Gesicht war zerstört, nur die nebelgrauen Augen waren immer noch die gleichen.
“Komm, mein Kindchen...”, krächzte die Kreatur.
“Nein. Diesmal kommst du zu mir.”
Lily griff in eine Tasche ihres Kleides und zog das Messer mit der Gravur “Mädchen” hervor, als die Kreatur auf sie zuwankte. Dann ging sie auf das Ungeheuer zu, holte aus und schlug mit dem Messer zu.
Die Klinge bohrte sich durch das linke Auge des Monsters, gelber Saft spritzte daraus hervor und über Lilys Kopf hinweg. Dann schlug Lily noch einmal zu, diesmal in die Brust, dann in den Bauch und dann noch mal in den Bauch. Jedes mal ergoss sich der zähflüssige, gelbe Saft aus der Wunde. Lily sah dem Ungeheuer ins Gesicht. Es versuchte, zu lächeln, wobei einige Stücke verbrannten Fleisches auseinander rissen. Dann packte die Kreatur Lily an den Oberarmen und hob sie hoch. Wieder versuchte sie zu lächeln. Dann versuchte sie, Lilys Arme auszureißen.
“Wenn ich die Kindlein schon nicht essen kann, dann sollen sie zumindest zerfleischt werden und ersaufen! Und dich nehme ich auseinander wie du mein hübsches Kleid, mein Kindchen!”
Lily schnitt die rechte Hand des Ungeheuers ab.
Die Kreatur heulte auf, der gelbe Saft sprudelte aus dem Armstumpf. Lily fiel zu Boden, aber sie rappelte sich sofort wieder auf und holte noch einmal aus. Dann hackte sie dem Monster den Kopf ab. Er flog durch die Luft und in den Nebel hinein, dorthin, wo Lily ihn nicht mehr sehen konnte. Der Körper fiel einfach um. Lily betrachtete ihn eine Weile, ja, sie setzte sich sogar neben ihn ins Laub und sah zu, wie er zu verwesen begann. Nach einiger Zeit hatte er sich dann auch schon aufgelöst. Dann stand Lily auf und suchte nach dem Kopf - vergeblich. Schließlich setzte sie sich stattdessen ans Ufer und starrte in den Fluss. Nachdem sie auch diese Beschäftigung aufgegeben hatte, stand sie auf und marschierte weiter durch den Wald, wobei sie ständig nach etwas Ausschau hielt - ebenfalls vergebens. So wenig, wie sie Cherry im Fluss gesehen hatte, so wenig sah sie Brocus im Wald liegen.
Dann wurde es Dunkel. Bald konnte Lily kaum noch ihre Hand vor Augen sehen, es wurde noch kälter. Das grau um sie herum verwandelte sich in schwarz, aber sie ging trotzdem weiter, auch, als sie ein Heulen und Schritte hinter sich hörte. Sie drehte sich nicht einmal um.
Dann ging die Sonne wieder auf. Lily fror fürchterlich, ihr ganzer kleiner Körper war noch nass. Während sie so dahin marschierte, fasste sie plötzlich etwas am Knöchel. Sie versuchte, weiterzugehen, aber der Griff war zu stark, also drehte sie sich langsam um. Mr. Dumptys abgetrennter Oberkörper lag im Laub hinter ihr. Seine Gesichtshaut war zerkratzt und der linke Arm fehlte, durch den dicken Hals waren die Speichen von Kutschrädern getrieben.
“Lily...”, gurgelte er.

Gegen Mittag hatte Lily den Ausgang aus dem Wald gefunden. Das Mädchen kam schließlich in ein kleines Dorf, wo sie sich vor die Haustür eines großen Landhauses auf einem Hügel legte.
Das Messer hatte sie im Kopf von Mr. Dumpty stecken lassen.
Am Abend dann öffnete der Hausherr die Tür und sah das Mädchen dort liegen.
“Ja, was ist das denn?”, rief er aus. “Martha, komm her und sieh dir das an. Ein Mädchen liegt vor unserer Haustüre!”
Diese Worte weckten die schlafende Lily auf.
“Gütiger Himmel, James! Komm, bring sie herein. Wir müssen uns um sie kümmern.”
Lily lächelte. Es lag Hoffnung in ihren Augen.

 

Hallo!

Vom Montag, 24. Januar 2005, 17:00:57, bis zum, 8. Februar 2005, 23:27:58 habe ich diese Geschichte geschrieben, und heute Vormittag bin ich noch mal kurz drübergegangen und hab hier und da Verbesserungen vorgenommen. Das ist sie: Meine erste Geschichte für dieses Jahr und meine erste seit einiger Zeit. Während ich quasi das ganze letzte Jahr über Ideen ausgebrütet habe, ohne davon irgend etwas wirklich auf Papier bzw. in den Computer gebracht zu haben, hatte ich während einer Deutschstunde letzten Monat die Idee zu dieser Geschichte. Und da habe ich mich einfach mal hingesetzt und sie geschrieben. Es hat mir Mühe bereitet. Es war anstrengend. Aber spaßig. Wenn auch anstrengend. Hat aber Spaß gemacht. Wenn’s auch anstrengend war. Zumindest hatte ich Spaß. Aber anstrengenden Spaß.
Was gibt’s zu der Geschichte zu sagen? Sie ist eine Art “Erst-Gothic-dann-Splatter-dann-wieder-Gothic-” Horror im Stile von Lemony Snicket, geschrieben in einem naiven, kindlichen Knuddel-Gothic-Stil (hab ich jetzt ein neues Genre erfunden?). Hoffe, das ist mir gelungen.
Weiterhin ist die Atmosphäre größtenteils von Tim Burtons “Sleepy Hollow” beeinflusst.
Die Protagonisten sind natürlich inspiriert von den Baudelaire- Waisen bzw. Onkel Olaf und Mr. Poe. Lily ist mein Liebling. Ich hab es nicht übers Herz gebracht, sie am Schluss sterben zu lassen. Die Kleine ist einfach zu knuddelig. Sie ist allerdings nicht wirklich von Violet Baudelaire inspiriert, sondern mehr eine Mischung aus Wednesday Adams und American McGees’s Alice.
Ach ja, bevor ich’s vergesse: Die Geschichte ist mir etwas zu lang geraten. Tschuldigung.
Dann: Als nächstes versuche ich, meine ebenfalls gerade erst begonnene Film-Noir-Story zu Ende zu schreiben, dann widme ich mich meinen Ideen der letzten Jahre. Diese “gar traurige Geschichte” und die Noir-Story sind also die einzigen aktuellen Projekte, bei denen die Ideen tatsächlich aus dem “Jetzt” kommen, das nächste, was von mir kommt, wird wohl die seit langem auf Eis liegende Kiddie-Splatter-Story sein, dann zwei bis drei Humor-Geschichten, dann vielleicht noch mal was in Richtung Spannung, möglicherweise dann auch noch mal Science Fiction... Alles Sparten, zu denen ich im letzten Jahr haufenweise Ideen hatte. Ich denke, für den Rest des Jahres habe ich ausgesorgt. Aber ich muss mich natürlich auch noch um die Schule kümmern, und im M-Zug ist die Freizeit wertvoller als je zuvor, dann will ich mich auch noch um meine Freunde kümmern... Das Jahr wird für mich also sehr anstrengend. Und ich muss lernen, etwas disziplinierter zu arbeiten und mich auch mal hinzusetzen und was runter zuschreiben. Aber das lerne ich bestimmt noch.
Huch, was ist das schon wieder für ein langer gesonderter Kommentar... oje oje :D .
Dann, noch was: Die Rechte für das Lied “The Path” liegen bei HIM bzw. die Rechte des Textes liegen bei Ville Valo.
Jou, das war’s... schönen Tag noch! ;)

Hochachtungsvoll,

Lestat

 

Hallo Lestat.

Schön, mal wieder von dir zu lesen.
Naiver-kindlicher-Knuddel-Gothic-Stil? Faszinierend, was es alles gibt. Allein beim Lesen deiner Überschrift habe ich mir gedacht: Hm, soll ich die meinen Kindern vorlesen? Gut, dass ich es nicht getan habe ... :D

Die Geschichte lässt mich ein bisschen unzufrieden zurück. Soll nicht heißen, dass sie schlecht ist. Dieser von dir (?) erschaffene Stil ist äußerst interessant, ja weist sogar spannungsgelandene Momente auf, wenn man sich auf ihn einlässt.
Also, am Stil lag es auf keinen Fall, der hat mir sehr gut gefallen. Es ist die Handlung.
Was äußerst vielversprechend beginnt, wird von dir leider nicht fortgesetzt. Deine anfängliche Beschreibung der Lokation, die Darstellung von Tante Agatha, ja selbst die Kinder sind dir sehr gut gelungen. Es kommt eine richtig düstere Stimmung auf; würde schon fast behaupten: atmosphärisch dicht!

Die Szene mit Lily und den Puppen war mir definitiv zu kurz, um etwas zu bewirken. Hier hätte mit Sicherheit noch mehr Potential gesteckt.
Dann der Beginn im Keller: hervorragend und grausam. Dickes Kompliment. Hier hebe ich die kalte und brutale Ankündigung von Tante Agatha hervor, Lily zu schlachten und zu fressen.

Doch ab dem Punkt, in dem der Bruder den Raum betritt und das Ganze ins Hänsel-und-Gretel-Niveau abdriftet, habe ich das Gefühl, du wolltest einfach nur schnell fertig werden.
Für mich beginnt ab da eine Aneinanderreihung von mehr oder weniger grausamen Ungereimtheiten.
Konnte man am Anfang der Geschichte durchaus noch von grausamen Realhorror sprechen, so beginnt ab der Waldsequenz ein mystisches Wirrwarr, welches sich nicht nachvollziehen lässt.
Lass mich zwei Beispiele nennen: Was sollte das mit der Welle? Wie geht sowas? Ich finde, dieser Part macht sehr viel der aufgebauten Stimmung kaputt. Wichtig: Das empfinde lediglich Ich so.
Zweitens: Was war das mit dem Notar zum Schluss? Wer hat ihn so zugerichtet? Und warum steckte das Messer in seinem Kopf?
Bin ich zu blöd??? :confused:

Das du Lily hast überleben lassen, hat mir dann wieder ganz gut gefallen.

Fazit: eine durchaus lesenswerte Alternative zu "gewöhnlichem" Horror, die mich aber durch den Schluss ein wenig verwirrt zurück lässt.

Gruß! Salem

P.S. Deine "Nachworte" finde ich immer zu köstlich. Da ließe sich eine eigene Geschichte raus machen ... ;)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Lestat,


Orthografische Anmerkungen:

Fürs erste waren die Kinder ruhig, doch dann fing Lily an zu schluchzen.
groß

Fürs erste waren die Kinder ruhig, doch dann fing Lily an zu schluchzen.
gleich wie oben

Brocus und Lily gingen Hand in Hand durch das Laub, und zum ersten Mal seit Wochen fühlten sie sich glücklich.
Beim Lesen habe ich gar nicht registriert, dass sie schon so lange im Haus sind (obwohl das in der Einleitung steht).

Die Welle riss alle Bäume auf ihrem Weg um, und Lily sah sich kurz hilflos um, nur um zu erkennen, dass eine Flucht vollkommen sinnlos wäre.
war

Erst da realisiert sie, dass sie Cherry verloren hatte.
Ich kaufe ein "e". Oder gefällt dir Präsens so gut?

Dann wurde es Dunkel.
klein

Seine Gesichtshaut war zerkratzt und der linke Arm fehlte, durch den dicken Hals waren die Speichen von Kutschrädern getrieben.
:lol: Ja, das ist wirklich "Sleepy Hollow"


Hinsichtlich der Gesamtkritik kann ich mich nur Salem anschließen. Dein "neuer Stil" ist ganz unterhaltsam, hat aber Schwächen. Die Kellerszene mag auch ich am meisten. Sie hätte ewig weitergehen können...
Die Sache mit der Welle ist sehr seltsam: Sie ist plötzlich da, deine Prots ersaufen fast, dann ist sie wieder weg...
Ich würde die Welle durch etwas Gruseligeres ersetzten. Wer fürchtet sich schon vor einer Welle? Oh nein, bitte komm mir jetzt nicht mit dem Tsunami :D


Gruß,
131aine

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo ihr beiden und danke für die Kommentare!

Hi Salem! Toll, dass du mal wieder was von mir gelesen hast, und noch toller, dass es dir eigentlich sogar gefallen hat. Ich mag die Geschichte auch, es ist eine sehr wichtige für mich, persönlich und literarisch.

Salem schrieb:
Schön, mal wieder von dir zu lesen.
Naiver-kindlicher-Knuddel-Gothic-Stil? Faszinierend, was es alles gibt. Allein beim Lesen deiner Überschrift habe ich mir gedacht: Hm, soll ich die meinen Kindern vorlesen? Gut, dass ich es nicht getan habe ... :D

Ich weiß nicht, ob dieser Stil wirklich neu ist, vielleicht kann man "Harry Potter" und "Lemony Snickets" auch so bezeichnen.
Ja, gut, dass du sie den Kindern nicht vorgelesen hast!

Die Welle ist eine Art... ja, nennen wir es so: "Zaubertrick" der Alten. Der Notar wurde von ihr in eine Art Zombie verwandelt, dem Lily dann das Messer in den Kopf gerammt hat, um ihn zu erlösen.
Die "Hänsel und Gretel"- Szene war schon bewusst so eingesetzt, ich wollte eine Parrallele zu den klassischen deutschen Märchen einbauen. Überhaupt ist die Geschichte sehr märchenhaft.
Tante Agatha ist meine "böse Hexe", ihr Haus meine Version eines klassischen Spukschlosses. Lily ist eine Art "Anti-Gretel": Ein messerschwingendes kleines Goth-Mädel mit Hang zum Inzest.

Salem schrieb:
Das du Lily hast überleben lassen, hat mir dann wieder ganz gut gefallen.

Gut, ich mag das Mädel ^^.

Salem schrieb:
Fazit: eine durchaus lesenswerte Alternative zu "gewöhnlichem" Horror, die mich aber durch den Schluss ein wenig verwirrt zurück lässt.

Jou, danke sehr!

Salem schrieb:
P.S. Deine "Nachworte" finde ich immer zu köstlich. Da ließe sich eine eigene Geschichte raus machen ... ;)

:)
Das muss immer sein: Ich schreibe auf, wieso, warum, wann und wie ich die Geschichte geschrieben habe, weil ich Angst habe, es zu vergessen ^^. Ich halte nur fest, wo ich zum Zeitpunkt der Geschichte literarisch gestanden habe, um später nochma darauf zurückzublicken und daraus zu lernen. Und das müsst ihr als meine Leser leider auch weiterhin ertragen ;)

Hallo, Blaine!

Auch dir danke für den Kommentar und toll, dass es dir auch eigentlich gefallen hat.

Blaine schrieb:
:lol: Ja, das ist wirklich "Sleepy Hollow"

???
Entschuldigung, aber wie soll ich das bitte auffassen :confused:

Blaine schrieb:
:Hinsichtlich der Gesamtkritik kann ich mich nur Salem anschließen. Dein "neuer Stil" ist ganz unterhaltsam, hat aber Schwächen. Die Kellerszene mag auch ich am meisten. Sie hätte ewig weitergehen können...
Die Sache mit der Welle ist sehr seltsam: Sie ist plötzlich da, deine Prots ersaufen fast, dann ist sie wieder weg...
Ich würde die Welle durch etwas Gruseligeres ersetzten. Wer fürchtet sich schon vor einer Welle? Oh nein, bitte komm mir jetzt nicht mit dem Tsunami :D

Ja, ich denke, ich werde später, nach meinen nächsten zwei neuen Geschichten, die ich schreibe (ich komm einfach nicht dazu, meine alten vom letzten Jahr fertig zu kriegen *grumml*) diese hier überarbeiten. Kann aber etwas dauern.
Die Welle, tja, die habe ich Salem weiter oben schon erklärt, in der neuen Version fliegt sie aber wahrscheinlich raus.

Danke nochmal euch beiden und liebe Grüße,

Lestat

 

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