Eine Geschichte über das Leben
Ich wohne in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung, wobei das zweite „Zimmer“ bereits das Bad mit integriertem WC ist. Eine kleine Küche befindet sich direkt in meinem Wohn-Schlaf-Aufenthaltsraum. Nur ein einen Meter breiter Streifen Linoleum am Boden erzeugt die Illusion einer räumlichen Trennung zwischen Kochstatt und Wohnraum, der mit einem Teppich ausgelegt ist. Die einzigen Möbelstücke sind ein Bett im Eck des Raumes mit einem Schemel als Nachtkästchen und zwei notdürftig zusammengeleimte Stühle mitsamt Tisch. Die beige Raufasertapete an der Wand scheint so alt zu sein wie das Wohnhaus selbst. Der grauen Fassade und der unverwechselbaren, eintönigen Bauweise nach zu urteilen, dürfte es in den späten 60ern, frühen 70ern errichtet worden sein. Der Schimmel an der Wand, der bereits einen Teil der Tapete herunter gelöst hat, stört mich nicht besonders. Ich will mich nicht beschweren, sondern soll vielmehr froh sein, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben, was für viele keine Selbstverständlichkeit ist – und für mich schon gar nicht.
Die Wohnung ist klein, nicht besonders fein, aber sie ist mein. Eigentlich ist sie nicht mein, sondern gehört meiner großen Liebe Ela. Das Domizil wird jedoch von ihr nicht mehr genützt. Sie ist tot – vor zwei Jahren an einer Überdosis Heroin gestorben. Ich habe ihren leblosen Körper, der zwischen Klomuschel und Badezimmerwand eingeklemmt war, gefunden. Ihr Gesicht war zu geschwollen und aus ihrer Vagina floss Blut. Der Körper war übersät mit Blutergüssen und Striemen, die von einem Gürtel zu sein schienen.
An jenem Tag, als sie sich den goldenen Schuss gab, ist bei ihr eingebrochen worden. Die Tür war unversehrt, aber das Innere der Wohnung glich einem Schauplatz, an dem vor kurzem ein Orkan gewütet hatte. Überall lagen Kleider und Scherben herum, der Tisch lag zur Seite gedreht am Boden und die beiden einzigen Sessel waren entzwei gebrochen. Die Matratze des Bettes war von Blut getränkt. Als ich hereinkam und das Chaos sah, war ich wieder einmal sturzbetrunken. Panisch suchte ich den ganzen Raum nach Ela ab, konnte sie aber nirgends erblicken. Also stürzte ich ins Bad und fand dort ihren geschundenen und geschändeten Körper. Das Fixmaterial lag vor ihr ausgebreitet, der Stauschlauch war locker um ihren Oberarm gebunden. Sie wollte nur ihre Schmerzen betäuben und hat dabei die Dosis übersehen. Nie und nimmer würde sie Selbstmord begehen – sie hatte doch mich! Ich musste mich auf der Stelle in die WC-Schüssel neben ihr übergeben. Mein Magen krampfte sich förmlich zusammen, um seinen gesamten Inhalt hinauszupressen, aber es kam nur grünlich-graugelbe Galle heraus. Ich hatte schon seit Tagen nichts mehr gegessen.
Seit diesem Ereignis lasse ich keine Stunde verstreichen, ohne an den Tag zu denken, an dem ich Ela kennen lernte. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich schlenderte die Straße entlang, die ich an meinen Abendausflügen immer nahm, und wo mir noch nie jemand besonders aufgefallen war. Aber diesmal kam es anders. Ich erkannte im Schatten neben einer Laterne zuerst nur eine Silhouette, deren Anblick mich aber sofort betäubte. Ich erstarrte und betrachtete vorerst nur die Rundungen ihrer Brüste, die über eine perfekt geschwungene Taille übergingen und letztendlich in wunderschön geformten Beinen endeten. Ich ging langsam auf sie zu. Nun bemerkte sie auch mich und trat in das Licht des Beleuchtungskörpers. Erst jetzt erkannte ich das ganze Ausmaß ihrer betörenden Schönheit. Ihre schwarzen Haare flossen wie die Lava über die Hügel eines Vulkans ihre Schultern hinab. Ihre Silhouette hatte nicht über die wahre Eleganz ihres Körpers hinweggetäuscht. Sie sah aus, als wäre sie einem Comic für Erwachsene entsprungen. In ihren Augen blitzte etwas Trauriges, was mich sofort in ihren Bann zog und mich zum Sklaven machte, der nie wieder von ihrer Seite weichen sollte. Unsicheren Schrittes, eine Flasche Jack Daniels fest in der Hand - als ob er mir Kraft geben könnte, sie anzusprechen - torkelte ich weiter auf sie zu und blieb direkt vor ihr stehen. Mein Puls raste und meine Atmung war schnell und tief. Sie lächelte mich nur an, nahm meine Hand und zog mich hinter sich her. Ich wusste, sie liebte auch mich, denn sie verlangte in jener Nacht nur die Hälfte des ortsüblichen Tarifs.
Ich erinnere mich daran, als ob es gestern gewesen wäre. Jetzt ist sie tot. Alles, was mir von ihr geblieben ist, ist diese kleine, verschimmelte Wohnung – und die Erinnerung. Ich habe vergebens versucht, sie von der Nadel weg zu bringen. Ich habe sie beschworen, Argumente gebracht, ich habe auf Knien gebettelt. Aber wer hört schon auf eine von Medikamenten und Alkohol abhängige, verkrachte Existenz? Ich habe sie nicht beschützen können. Wo war ich an jenem Abend? Ich war so zu gedröhnt, dass ich selbst das nicht mehr weiß. Ich habe versagt.
So liege ich nun auf dem Bett und grübele vor mich hin. Ein leeres Glas steht auf dem Schemel neben mir. Nur noch ein kleiner Sud am Boden des Gefäßes erinnert daran, dass es jemals voll war. Überall liegen leere Flaschen herum. Der Müll türmt sich hüfthoch in den Winkeln und Ecken des Zimmers und fault vor sich hin. Ich rieche den derben Gestank nach verdorbenen Lebensmitteln und Kot und den stechend-säuerlichen Geruch von Urin und Kotze schon lange nicht mehr. Am Boden neben dem Bett liegt ein kleiner Berg von leeren Medikamentenschachteln. Alles, angefangen von Beta-Blockern über tri- und tetrazyklische Antidepressiva bis hin zu Barbituraten, die mir mein „spezieller“ Arzt besorgt hat, habe ich in dem Glas aufgelöst und getrunken. Ich habe sogar ein Paspertin gegen Übelkeit und Erbrechen eingenommen, falls sich mein Körper gegen so viel Gift zur Wehr setzen will und mich wieder alles auskotzen lässt. Ja, es ist mir ernst.
Jetzt brauche ich nur noch ruhig da zu liegen und zu warten. Ob es stimmt, dass man in ein Licht eintaucht und nur noch von Liebe und Freude umgeben ist? Ich sehe mich schon über eine saftige Wiese fliegen, der von fast allen Seiten von einem grünen Wald umgeben ist. Am anderen Ende der Wiese erstreckt sich ein See, der so groß ist, dass dessen gegenüber liegendes Ufer nicht zu sehen ist. Kaninchen, Rehe und Hirsche tollen über das Grün. Ich kann verstehen, was sie sagen. Ich könnte ihnen stundenlang zu hören. Die Sonne scheint intensiv herab, doch sie blendet mich nicht, sondern streichelt sanft meine Haut. Dort, am Waldesrand, erkenne ich eine Gestalt, die aussieht wie – nein, es ist Ela!! Ich eile zu ihr hin und nehme sie zärtlich in meinem Arm. Wir küssen und lieben uns und führen stundenlange Gespräche – bis in alle Ewigkeit. Nichts kann uns jetzt mehr trennen.
Ich mache meine Augen wieder auf. Ich bin noch am Leben und atme. Das war nur die euphorisierende Wirkung der Antidepressiva, die mir einen Streich gespielt hat. Bald ist es soweit. Ich spüre schon, wie mein Herz langsamer wird und sich bei jedem Schlag plagt, genügend Blut in den Kreislauf hinauszupumpen. Meine Finger sind schon ganz kalt und blass. Mir wird übel, ich kann mich jedoch nicht übergeben. Mir wird schwindlig und ich werde langsam müde. Ich merke, dass mein Körper nach mehr Sauerstoff ringt, ich kann aber nicht meine Brust heben, um rettende Luft einströmen zu lassen. Es ist, als würde eine schwere Last auf ihr liegen und nur eine Hebung von wenigen Millimetern erlauben. Meine Atmung ist schon ganz flach und schnell, um den immer bedrohlicher werdenden Sauerstoffmangel zu kompensieren. Mir ist kalt, ich habe Schmerzen und hechele nur noch, um das unvermeidbare vielleicht doch noch ein paar Sekunden hinaus zu zögern. War die Entscheidung richtig? Ich kann nicht mehr denken – es ist besser so. Ich höre mich kaum noch atmen…
Ich bin an dem anderen Ort angelangt. Der Ort, an den ich mich seit zwei Jahren hinsehne. Ich verzehre mich nach der Nähe von Ela. Aber ich kann nichts fühlen. Wo ist die Wiese, wo der Wald? Ich kann den See nicht sehen. Es gibt hier keine Tiere, denen ich zuhören kann und die mir Gesellschaft leisten. Ich spüre keine Freundschaft und keine Liebe. Es ist alles grau und trist – und ich bin allein, für immer. Es ist alles Lüge, alles woran ich je geglaubt habe. Ich will wieder zurück in mein Leben und von vorne beginnen. Ich will alles besser machen. Ich habe meine Lektion gelernt. Ich will zurück, bitte – zu spät…