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Eine Geschichte über kleine und große Unfälle
Mühsam schiebt sich der Lastwagen der Mittagssonne entgegen. Hier, kurz vor der Hügelkuppe, schafft er nicht mehr als fünfzig Stundenkilometer. Der Motor ist alt und die offene Ladefläche voller Getränkekisten. In den Linkskurven schaukeln sich die gelben Türme gefährlich auf, glücklicherweise beruhigen sie sich in den Rechtskurven wieder etwas. Anscheinend ist die Federung auf dieser Seite nicht so abgenutzt wie auf der anderen.
Die Schlange hinter dem Lastwagen wird von Minute zu Minute länger. Im ersten Wagen – einem beigefarbenen Opel – sitzt Anton Kutscher. Schweiß läuft über sein rundes Gesicht, denn es ist ein ausgesprochen warmer Tag. Anfangs versucht Anton noch, den Lastwagen zu überholen, doch die Landstraße ist zu kurvig, zu schlecht einsehbar durch die dichten Baumgruppen am Wegesrand und der Gegenverkehr zu häufig. Eine Zeit lang verflucht Anton die Wagen, die links an ihm vorbeiziehen, immer wenn er selbst die Möglichkeit verpasst hat. Irgendwann lockert er seine Krawatte und findet sich mit seinem Schicksal ab.
Die Verhandlungen am Vormittag sind nicht gut gelaufen. Ich habe es einfach nicht geschafft, die Initiative zu ergreifen, denkt Anton und seine fleischige Hand klatscht auf das Lenkrad. Immer einen Schritt voraus sein, ermahnt er sich mit erhobenem Zeigefinger.
Die Verträge in dem Aktenkoffer sind unterschrieben, jedoch zu schlechteren Bedingungen. Es waren die ersten großen Verhandlungen, die Anton übertragen wurden und wahrscheinlich auch die letzten, denkt er und stiert auf den alten, klapprigen Lastwagen vor sich, der unüberwindbar scheint und so gut zu diesem Tag – zu diesem Leben, ergänzt sich Anton – passt.
Das Tempo ist gemächlich, die Hitze brütend und so verliert sich Anton mehr und mehr in seinen Gedanken, überlegt, was er später zu seiner Verteidigung vorbringen könnte. Deshalb sieht er nicht, warum der Lastwagen in der langgezogenen Linkskurve plötzlich bremst – vielleicht ist ein Tier auf die Straße gelaufen, wird Anton kurz darauf denken – doch in diesem Augenblick drückt er nur das rechte Knie durch und sieht die Bremslichter auf sich zufliegen. Schweiß läuft in seine Augen, er blinzelt, die Welt verschwimmt, nur das Kreischen der Bremsen bleibt. Dann steht Anton, vor ihm der Lastwagen halb auf der Gegenspur, auf der Straße liegen die gelben Getränkekisten und dazwischen grüne Glasscherben. Als das Kreischen verstummt, weil das letzte Auto in der Schlange zum Stehen gekommen ist, steigt Anton aus. Das Meer aus Scherben funkelt in der flirrenden Hitze.
„Verdammte Scheiße“, sagt der Lastwagenfahrer, ein kleiner Mann mit dunklem Haar und Schnauzbart. „So eine verdammte Scheiße.“ Er schüttelt den Kopf.
„Was ist denn passiert?“, fragt Anton, um irgendetwas zu sagen.
Der Lastwagenfahrer schaut auf.
„Eine Katze“, sagt er. Und nach einer Weile: „Ich hätte einfach weiterfahren sollen.“
Einige aus der Schlange steigen jetzt ebenfalls aus. Ratlos stehen sie bei ihren Wagen und schauen zu Anton und dem Lastwagenfahrer hinüber.
„Alles in Ordnung da vorne?“, ruft einer.
Anton wartet darauf, dass der Lastwagenfahrer etwas sagt, doch der kleine Mann mit dem Schnauzbart macht keine Anstalten zu antworten und starrt nur kopfschüttelnd auf den Boden. Schließlich ruft Anton: „Ja, danke, ist nichts passiert. Nur die Kisten sind runter gefallen.“
Mehr gibt es leider nicht zu sagen und so steht auch Anton ratlos in der Mittagssonne.
„Haben Sie ein Warndreieck?“, fragt der Lastwagenfahrer irgendwann.
Anton nickt. „Natürlich.“
„Stellen Sie es am Ende der Kurve auf? Dann kann ich die Scherben zusammen fegen.“
„Natürlich“, sagt Anton wieder und er ist glücklich eine Aufgabe bekommen zu haben.
Das Warndreieck ist schnell gefunden und Anton beeilt sich, es am Ende der besagten Linkskurve aufzustellen. Die ersten Meter läuft er sogar, angetrieben von der Angst, ein entgegenkommendes Fahrzeug könnte ungebremst in die Unfallstelle rasen, doch bald reicht die Luft nicht mehr und er verlangsamt das Tempo. Zum Glück ist seine Sorge unbegründet.
Während Anton zurück trottet, überholen ihn die ersten Autos und als der Lastwagen in Sichtweite kommt, hat sich auf der Gegenspur eine zweite Schlange gebildet.
„Was ist denn da los?“, fragt ein Mann, dessen Wagen etwas weiter hinten in der Kurve steht, als Anton an ihm vorbei kommt.
„Es gab einen Unfall, aber es ist niemand verletzt.“
Weiter vorne fegt der Fahrer die Scherben zu kleinen Haufen zusammen und befördert sie anschließend mit einem kräftigen Stoß an den Straßenrand. Er wirkt dabei sehr konzentriert, findet Anton und bewundert die trockene Stirn des kleinen Mannes, während er sich über die eigene klitschnasse fährt.
Die blonde Frau in dem Sommerkleid bemerkt er erst, als sie neben ihm steht.
„Entschuldigen Sie ...“, sagt sie und schaut zwischen Anton und dem Lastwagenfahrer hin und her.
„Ja?“, sagt Anton schnell, denn er findet es unhöflich, eine hübsche Frau warten zu lassen, und der Fahrer reagiert auch dieses Mal nicht.
„Ich habe einen wirklich wichtigen Termin in der Stadt“, die blonde Frau nimmt ihre Sonnenbrille ab und Anton findet, dass sie unglaublich schöne blaue Augen hat, “meinen Sie, dass die Straße bald wieder frei ist?“
„Ja, bestimmt ...“, sagt Anton und verliert sich in den blauen Augen. „Ist schon fast alles weggefegt und dann geht es bestimmt auch gleich ...“
„Dauert noch“, unterbricht ihn der Lastwagenfahrer. „Der linke Hinterreifen verliert Luft, bin wohl durch die Scherben gefahren.“
„Aber ...“, setzt die blonde Frau an.
„Tut mir leid, gute Frau, das muss ich mir vorher angucken. Aber sie können gleich vorbei fahren, wenn die Scherben weg sind.“
Die Frau nickt und geht zurück zu ihrem Auto. Anton schaut ihr nach, bewundert ihren Gang und denkt an die Worte, die er hätte sagen wollen, wenn der Lastwagenfahrer ihn nicht unterbrochen hätte. Die Initiative ergreifen, mahnt Anton und als der letzte Haufen Scherben an den Straßenrand befördert wurde, steht er immer noch da, den Mund leicht geöffnet, und die ersten Autofahrer hupen, damit er den Weg frei gibt. Etwas verwirrt noch seinem Tagtraum nachhängend stellt er sich neben den Lastwagen und winkt die Wagen durch.
Es ist nicht viel Platz zum Vorbeifahren, doch es reicht gerade, und schon nach wenigen Minuten ist der Autostrom versiegt.
Anton schaut nach links und entdeckt die blonde Frau. Schnell vergewissert er sich, dass die Gegenspur wirklich frei ist und winkt der Frau zu. Sie reagiert sofort, anscheinend hat sie bereits auf ein Zeichen gewartet, und startet den Motor ihres schwarzen Cabrios. Als sie an Anton vorbei rauscht, meint er, ein Lächeln in ihrem Gesicht zu erkennen. Dann sind ihre wehenden blonden Haare hinter den Bäumen verschwunden.
Auch die anderen Fahrer steigen jetzt in ihre Fahrzeuge, beflügelt von der Hoffnung, doch noch rechtzeitig zum Kaffeetrinken in der Stadt zu sein.
Anton geht an den Straßenrand, um weiter in die Kurve hinein sehen zu können. Dann ruft er: „Ist frei.“ Einzel winkt er die Wagen durch, manche Fahrer bedanken sich durch ein Handzeichen, andere Hupen, bis wieder Gegenverkehr kommt und Anton dem nächsten Wagen in der Schlange bedeutet zu warten.
Nach zwanzig weiteren Autos läuft Anton der Schweiß in Strömen, das Hemd klebt an seinem Körper wie eine zweite Haut. Immer wieder muss er hin und her laufen, um sicher zu sein, dass die Kurve frei ist und danach den Wartenden Bescheid zu geben. In einem kurzen Moment der Ruhe schaut Anton sich nach dem Lastwagenfahrer um – vielleicht kann er mich kurz ablösen, denkt er – aber kann den kleinen Mann mit dem Schnauzbart nirgends entdecken.
Auch mit diesem Schicksal findet sich Anton schnell ab. Nach und nach gewinnt er eine gewisse Routine, seine Bewegungen werden zackiger – er ahmt die Handzeichen eines Verkehrspolizisten nach – und langsam findet er auch Gefallen an seiner Aufgabe, an seiner Verantwortung. Wie ein Dirigent, denkt Anton, wie ein Dirigent.
Die Schlange ist fast zu Ende, als das Unglück geschieht. Anton wird später sagen, dass ihm Schweiß in die Augen gelaufen sei, ihm die Sicht genommen hätte. Der Staatsanwalt wird ihn beschuldigen, den roten Sportwagen mit Absicht zum Vorbeifahren aufgefordert zu haben, als der Reisbus aus der Kurve kam. Der Richter wird entscheiden, dass es eine fahrlässige Unachtsamkeit war. Und die Wahrheit wird irgendwo dazwischen liegen.
Doch davon ahnt Anton noch nichts, als er in seinen Opel springt und Gas gibt, und der dumpfe Knall immer noch in seinen Ohren dröhnt. Später wird er sich nicht an die Fahrt erinnern können, nur an das komische Geräusch, so ein Flappen, wird Anton zu Protokoll geben, und man wird ihm sagen, dass zwei Reifen geplatzt seien, wahrscheinlich durch die Scherben am Wegesrand.
Jetzt in diesem Augenblick weiß Anton noch nichts von den Verhören und Verhandlungen. Jetzt liegt er auf einer Wiese und schaut in den strahlend blauen Himmel. Der kühle Wind trocknet sein Gesicht, in der Ferne sind Polizeisirenen zu hören.