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eine Geschichte
Eine Geschichte
Ich werde über ihn schreiben.
Obwohl sie sagen, das sei gefährlich und ich solle mir besser vorstellen, es hätte ihn nie gegeben. Ich fragte, warum es denn gefährlich sei, über jemanden zu schreiben, der ohnehin weg war. Da antworteten sie, es seien seine Gedanken, die noch immer hier seien. Vor denen sollte ich mich in Acht nehmen. Ich weiss nicht recht, was sie damit meinten. Gedanken sind nicht greifbar, also meiner Meinung nach harmlos.
Jedenfalls kann ich mich erinnern an den Tag, an dem er gegangen war.
Irgendwann am Morgen weckten sie ihn. Eigentlich war es schon gar nicht mehr Morgen, sondern halb zwölf Uhr. (Wann endet der Morgen denn eigentlich?)
Sie brachten ihm Essen ans Bett und schütteten seine Kissen auf, was eigentlich sinnlos war, da sie dazu leise murmelten: „Na los, steh jetzt auf...“ Dann rissen sie die Fenster auf und jodelten ein Morgenlied in die Luft hinaus. Das machten sie eigentlich weniger für ihn als für sich selber. Sie liebten es, sich vorzustellen, wie die Töne die Hausmauern langsam umschlangen und einwickelten, so dass jedes Steinchen und jedes Staubteilchen zuhören musste.
Und er?
Er war irgendwo zwischen Matratze und Daunendecke verborgen, irgendwo in unbekanntem Raum und stillstehender Zeit, deren Prinzip nur er verstand.
Dort verweilte er, bis sie wieder raus aus dem Zimmer waren. Dann packte ihn die Energie; zwei Bisse Brötchen, einen Schluck Orangensaft, zwei Hosenbeine, vier Ärmel – fertig.
Er sprang aus dem Fenster (ihr Pech, dass sie es aus lauter Singeslust vergessen hatten zu schliessen). Der Boden schien unter dem Aufprall seiner Füsse zu vibrieren, sogar die Blumenköpfe zitterten. Vielleicht nickten sie ihm aber auch bloss freundlich zu.
Kaum Gleichgewicht gefangen, fing er an zu laufen. Schnell und schneller, wie ein Leopard. Natürlich ohne Fell, aber seine Bewegungen hatten tatsächlich etwas sehr Geschmeidiges.
Wobei ich das nicht mit Sicherheit sagen kann. Meine Erinnerung an ihn verblasst, und je mehr ich mich anstrenge, etwas Weiteres über ihn zu erwähnen, desto schwieriger wird es. Ich versuche, mich an das Wenige zu klammern, das ich noch weiss. Dabei hoffe ich stets, dass nicht irgendwann der Moment kommt, in dem alles vergesse, da mir plötzlich nichts mehr in den Sinn kommt über –
Über wen?
Seltsam, irgendetwas in meinem Kopf ist unmittelbar zu einem Nichts geworden, zu einem leeren Raum und einer Zeit, die ich nicht verstehe.