- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Eine gute Nachricht
Die Gute Nachricht
Eigentlich heißt es doch: „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht!“ Im Falle von David Longman gab es jedoch keine Gute. Aber auch nicht direkt eine Schlechte, im eigentlichen Sinne. Denn jede Nachricht, die Dave mitbekam, unterrichtete ihn von einem anderen Schicksal. Nichts davon hatte wirklich mit ihm zutun. Er brauchte sie nur anzusehen und sofort sah er schreckliche Bilder einer bislang unbekannten Zukunft. Kein genauer Ort, kein genaues Alter, nichts bestimmtes, keine Details waren zu erkennen. Aber die Botschaft kam dennoch rüber. So grausam und fürchterlich sie auch war. Die Bilder waren allgegenwärtig. Sobald er mit der Gesellschaft in Kontakt kam, überfluteten sie seinen Verstand. Er konnte sich nicht dagegen wehren. Das war aussichtslos.
David hatte es sich nicht ausgesucht. Gottbewahre! Nein, diese Bürde wurde ihm aufgezwungen. Er hatte keine Wahl. Das Recht zur freien Entscheidung hatte ihm sein Schöpfer genommen. Dave sah sich als Versuchsobjekt. Ein Prototyp. Für ein waghalsiges Experiment, welches die gesamte menschliche Rasse umkrempeln sollte. Es sollte den Menschen um eine weitere Eigenschaft erweitern, verbessern. Es ist misslungen. Er fühlte sich überhaupt nicht besser. Im Gegenteil. David erging es seit dem Tag, an dem er seine Fähigkeit das erste Mal nutzte, nur noch schlecht. Sie hatte ihm nichts gebracht. Sie war nur ein lästiges Anhängsel. Überflüssig und unberechenbar. Nicht selten war David einem Nervenzusammenbruch nah. Er hatte schon zwei.
Manchmal dachte er daran seine Macht sinnvoll einzusetzen. Ja, dieser glorreiche Gedanke war ihm gekommen. Es half nur nicht. Seine Versuche scheiterten kläglich. Genau genommen war es gerade mal Einer. Nach diesem war ihm die Lust vergangen. Nicht nur die Lust nach helfen, sondern auch die Lust nach leben. Er würde gern damit aufhören. David hatte sogar schon einmal den Versuch unternommen, den Prozess des Sterbens zu beschleunigen. Auf das Altwerden zu warten wollte er nicht. Den Gedanken daran, diese unmenschliche Fähigkeit noch länger zu besitzen, ertrug er nicht. Dann sollte es lieber vorbei sein. So schnell wie möglich und endgültig.
Es sollte nicht sein. Gott beschützte sein neues Wunderwerk. Er hatte wohl noch Hoffnung in einen erfolgreichen Ausgang. Dave erging es nicht so. Er hatte sich von einer Brücke in einen Fluss gestürzt. Dort wollte er ertrinken. Unglücklicherweise ist in der Nähe ein Mensch verschwunden und Taucher haben den Fluss fieberhaft nach jemandem abgesucht. Sie fanden David und “retteten“ ihn. Der Herr brachte Opfer für den Erhalt seines Meisterwerks.
Seinen ersten Nervenzusammenbruch hatte Dave in Verbindung mit dem ersten und letztem Mal bei dem er mit seiner Kraft jemandem helfen wollte. Es war seine Schwester, an er es ausprobierte. Sie wusste nicht weswegen er sich mit ihr treffen wollte. Doch sie konnte deutlich die Dringlichkeit spüren, die seiner Stimme lag. Etwas bedrückte ihn. Er sah sie an. Sein Gesicht verzerrte sich schmerzhaft. In seinen Augen lag die pure Angst. „Nein...“, stieß er heraus und fiel vom Stuhl. Sie beorderte einen Krankenwagen. Die Sanitäter sagten sich später, er habe ausgesehen als hätte er dem Tod persönlich gegenüber gestanden. Als er nach drei Wochen wieder erwachte, erinnerte er sich an nichts und lebte weiter. Die schwere Last mühsam ertragend. Bis heute...
Hauchfeine Flocken segelten in eleganten Bahnen zur bereits schneebedeckten Erde herab. Sie legten sich graziös auf Wege und Bänke und hüllten die Blumen in ein zartes Gewand. Mit all ihrer Anmut landeten sie auf den kahlen Ästen der Bäume und beschwerten diese mit ihrem bedenklichen Gewicht. Die Welt, sie betteten sie ganz in weiß. Alles wurde durch ihren hellen Schleier schöner, friedlicher.
Am Rand eines Waldes, auf einem zugeschneiten Feld, spielte ein kleines Mädchen mit ihrer Mutter und dem neuen Schlitten. Sie war ganz in rot gekleidet. Dicke Wollhandschuhe, eine warme Mütze über beide Ohren, ein gemütlicher Mantel mit Kordel sowie Stiefel mit Pelz. Ihre Wangen waren gerötet vor Freude. Ihr Lächeln verziert das niedliche Gesicht. Blonde Haare lugten unter der Mütze hervor. Sie saß auf dem Schlitten während ihre Mutter sie zog. Beide lachten vergnügt. Das Mädchen warf beide Arme nach oben. Sie trieb ihre Mutter an. Die ließ sich das nicht zweimal sagen und zog schneller. Mit einem Ruck fiel die Kleine vom Schlitten. Sie landete weich auf dem Schnee. Als sie sich aufrappelte war sie ganz weiß. Ihr Grinsen war noch breiter. Jetzt lachten sie noch lauter.
An diesem Bild schien alles perfekt. Aber wie heißt es so schön? „Nichts ist so wie es scheint!“ So auch diesmal. Denn nicht ins Bild passte der verstört aussehende Mann, der gerade über das Feld schwankte. Er sah sich andauernd um. Er schien nicht zu wissen, wo er war. Völlig verängstigt lief er weiter. Kein Zweifel, es war David. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ebenso wie Verwirrung. Er erreichte das Mädchen. Die Mutter weitete vor Schreck die Augen. Auch das Kind war erschrocken und verängstigt. Dave schrie die Kleine an. Er blieb jedoch nicht stehen. Seine Füße brachten ihn wohin. Für ihn gab es ein Ziel von dem er selbst noch nichts wusste. Die Mutter nahm ihr Kind schnell in die Arme. Es weinte. Sie verließen rasch das Feld. Den Schlitten vergaßen sie.
Auch David hatte das Feld verlassen und betrat nun den angrenzenden Nadelwald. Schon nach wenigen Schritten stolperte er über eine kleine, verschneite Müllhalde. Er fiel über blaue Plastiktüten und rutschte über Unrat. Mit dem Gesicht nach unten lag er da. David hob den schmerzenden Kopf und sah in einen zerbrochenen Spiegel. Seine eigenen Augen betrachteten ihn. Sie sahen an der grotesken Fratze vorbei auf das dahinter. Oder besser, auf das was noch kommt. Die nahen Geschehnisse wurden sichtbar. Er lächelte. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit. Er hatte etwas gesehen, dass ihn glücklich stimmte. Eine Botschaft aus der Zukunft. Eine Gute Nachricht.
Wieder auf beiden Beinen, taumelte er weiter. Als er einen hohen Zaun erreichte, kletterte Dave ungeschickt hinüber. Auf der anderen Seite fiel er in einen Busch. Er krabbelte auf allen vieren heraus. An einem Baum zog er sich hoch und blickte sich verdutzt um. Etwas bewegte sich neben ihm. Die braunen Hinterbeine eines Rehs oder Hirsches tauchten hinter einer großen Fichte auf. David beobachtete eine Weile gedankenverloren, als er gleichzeitig den Schmerz in der Schulter spürte und den Knall hörte. Er fiel nach hinten. Weich landete er im Neuschnee. Blut tränkte die weiße Pracht und breitete sich schnell aus. Der Jäger, dessen fehlgegangener Schuss Dave getroffen hatte, schulterte sein Gewehr nichtsahnend und suchte nach einer neuen Beute.
David verblutete. Er starb in einem abgesperrten Jagdgebiet, erschossen von einem nicht sehr zielsicherem Schützen. Gott hatte ihn aufgegeben und mit ihm seine Gabe. Sie verstarb mit Dave als hätte sie nie existiert. Er war dafür sehr dankbar. Für ihn war das eine wirklich gute Nachricht...