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Eine gute Tat
Langsam schlurfte er den Gehweg entlang, den Kopf gesenkt, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Den ganzen Tag hatte er mit Kleinkram vergeudet. Hatte sich um Sonderwünsche der Kunden kümmern müssen, bei denen der Aufwand so gross gewesen war, dass die Firma unter dem Strich nichts daran verdienen konnte. Und dann noch diese Ansprüche!
Frau Baumberger hatte behauptet, sie habe eine dunkelgraue ergonomisch geformte Tastatur bestellt, wie auf dem Bild, dabei gab es besagte Tastatur nur in schwarz. Auf dem Foto hatte sie eben etwas heller gewirkt.
Herr Fink hatte sich beklagt, weil sein deutsch-englisches Handbuch zusätzlich kein Holländisch enthielt, schliesslich hatte er das Programm später einmal seinem Neffen vermachen wollen und dessen Muttersprache war Holländisch.
So war es den ganzen Tag gelaufen. Zuletzt hatte sich sein Chef noch beklagt, weil ihm die Abstände der Tabellen immer noch zu groß gewesen waren.
Nun starrte Thomas also vor sich auf den Boden und versuchte sich zu freuen, dass dieser Arbeitstag vorbei war. Aber es wollte ihm keineswegs gelingen. Er wusste, dass ihn Zuhause eine stille, chaotische Wohnung empfangen würde. Bisher hatte er sich noch nicht aufraffen können, die Spuren der Party vom Samstag zu beiseitigen, obwohl inzwischen schon Donnerstag war.
Thomas seufzte, blickte müde auf, und da sah er sie: Alt und zittrig stand sie da, auf ihren Gehstock gestützt und blickte über die befahrene Straße. Nur der Kopf war zur Straße hin gewandt. Bestimmt würde kein Autofahrer bemerken, dass sie auf die andere Seite wollte. "Endlich ein richtiges Problem!", dachte Thomas. Den Vorurteilen über die schreckliche Jugend von Heute zum Trotz, ging er zielstrebig auf die Frau zu.
„Guten Tag, meine Dame, darf ich Ihnen behilflich sein?“
Zwei milchige Augen hinter dicken Brillengläsern schauten Thomas verwirrt an.
„Ich habe gesehen, dass Sie über die Straße wollen. Der nächste Zebrastreifen kommt erst nach fünfhundert Metern, deshalb möchte ich Ihnen gerne helfen.“
Die alte Dame verzog das Gesicht und antwortete tadelnd:
„Also junger Mann, natürlich meinen Sie es gut, aber ich brauche Ihre Hilfe nicht!“
Misstraute Sie ihm?
„Bitte entschuldigen Sie“, antwortete Thomas, „vielleicht hätte ich mich vorstellen sollen. Man kann in der heutigen Zeit nicht vorsichtig genug sein. Mein Name ist Thomas Pfister und ich habe nicht vor, Sie zu berauben. Ich möchte Ihnen lediglich über diese gefährliche Straße helfen.“
Mit dem vertrauenswürdigsten Lächeln, das er aufbringen konnte, sah er sie an.
„Das ist ja nett von Ihnen, Herr Pfister“, ihr Blick wurde weicher, „ich habe keine Angst vor Ihnen. Mein Name ist übrigens Erna Meier. Aber helfen müssen Sie mir trotzdem nicht!"
„Ich kann mir schon denken, dass es nicht leicht ist, Hilfe anzunehmen“, antwortete Thomas schnell.
Was war das nur für ein Tag! Natürlich musste es schwer sein zu merken, wie der Körper langsam nicht mehr so konnte, wie man wollte, aber weshalb war er ausgerechnet heute auf eine alte Frau gestoßen, die Angst hatte ihre Würde zu verlieren, wenn sie Hilfe annahm? Diese alte Gestalt vor ihm, mit dem Buckel, den weissen Fäden auf dem Kopf und dem Gehstock in der Hand tat ihm Leid. Thomas musste es ihr leichter machen.
„Liebe Frau Meier“, setzte er würdevoll an, „tun Sie mir doch den Gefallen und lassen Sie sich über die Straße führen. Bei diesem Feierabendverkehr ist das Überqueren wirklich keine ungefährliche Sache und es würde mich sehr freuen, Ihnen helfen zu dürfen.“
„Naja“, erwiderte die Frau zögernd.
„Sie würden mir sogar helfen, heute eine gute Tat zu tun!“
Aufmunternd lächelte er sie an und bemerkte, wie der Blick seines Gegenübers freundlich wurde.
„Gut, junger Mann, darf ich mich auf Sie stützen?“
Thomas wurde warm ums Herz. Erleichtert fasste er die Frau am Arm und bedeutete den Autofahrern mit Handzeichen, sie sollten anhalten. Langsam geleitete er seine gebrechliche Partnerin auf die andere Straßenseite. Dort angekommen traf ihn ein dankbarer Blick.
„Schön gemacht, junger Mann!“ Frau Meier lächelte, und die Falten um ihre Augenwinkel wurden noch tiefer.
„Gerne geschehen!“, erwiderte Thomas. Sein Herz sprudelte vor Freude in der Gewissheit, etwas Gutes und Nützliches vollbracht zu haben. Er nahm die weiche Hand der Frau zwischen die seinen.
„Auf Wiedersehen, Frau Meier, und einen schönen Tag noch!“
Erna sah dem jungen Mann nach, wie er sich beschwingten Schrittes entfernte. Sie lächelte noch, als er bereits um die Ecke gebogen war. Dann drehte sie sich um, hob ihren Gehstock in die Luft, wartete bis die Autos anhielten und überquerte langsam die Straße. Nun konnte sie ihren Weg fortsetzen.