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Eine Handvoll Dinge, die ich über die Wahrheit weiß
Schmerz, in Ermangelung eines besseren Wortes, ist gut. Schmerz ist ehrlich. Im Schmerz gibt es kein „Ich glaube“, im Schmerz erinnert man sich nicht, im Schmerz wird nicht vermutet, nicht geahnt, nicht kombiniert, nicht gelogen. Im Schmerz ruht die Wahrheit.
Ich helfe den Leuten nur. Das Gute ist wahr und das Wahre gut. Ich ziehe die dreckigen Gardinen des Verstandes zur Seite und lasse die Sonne herein. Sie leuchtet schön, manchmal denke ich, die Leute grinsen. Die Sonne ist toll. Einmal hab ich wen mit Panzerband an ein Wellblechdach geklebt. Südseite. Hundstage. Man hätte die Haut von ihm abziehen können wie von einem Brathuhn. Er hat gelächelt, als ich wieder zu ihm kam. Aber vielleicht sind ihm auch nur die Lippen weggeschmolzen.
„Spring doch“, sage ich zu ihr. „Ich krieg dich so oder so. Es sind drei Stockwerke, acht, vielleicht neun Meter, du denkst, es reicht, aber es ist ein Glücksspiel, hast du den Mumm, wirklich mit dem Kopf zuerst da runter zu springen? Sonst überlebst du und wenn ich dich dann besuche ... Sagen wir, ich mag Krankenhäuser nicht. Die bringen das Schlimmste in mir zum Vorschein.“
Sie schaut über die Schulter, ihre Lippen beben, sie ist im Nachthemd, man sieht die Konturen ihrer Brüste. Sie ist dürr wie eine Schwindsüchtige, die Angst hat ihr das Fleisch von den Knochen genagt.
Ich lehne mich gegen die Tür, die runterführt, hinab in ihre alte Welt, in der keine Wahrheit war, weil ich nicht war. Ich schaue in den Sternenhimmel. Sie steht am Sims.
„Ich hör dich ja gar nicht springen“, sage ich.
„Wer hat mich verraten?“
„Ist es das wert? Du warst mal eine schöne Frau. Ich meine, wirklich schön. Nicht hübsch. Du hattest Feuer. So eine Glut. Niemand für mich, aber für einige bestimmt.“
„Alberto? War es Alberto? Woher wusste er, wie ich jetzt heiße?“
„Und wenn du jetzt springst, die Medizin ist gut. Ich denke mal, der Notarztwagen ist sofort da, ich werde ihn anrufen. Ach ja, und deine Tochter? Ich werde warten, bis du wieder aufwachst, bis du die Augen aufmachst, in deinem kuscheligen Krankenhausbettchen. Und als Erstes wirst du in die Augen deiner Tochter sehen. Und nur in die Augen. Das wird ein schönes Wiedersehen.“
„Was ist mit dir los, du Schwein?“, schreit sie. "Was ist dein verdammtes Problem?“
„Spring doch“, sage ich. Da ist die Glut wieder. So als würde sie sich jetzt wieder daran erinnern, wer sie mal war. Jetzt, da sie acht, neun Meter nach unten starrt auf eine leere Asphaltstraße. Als würden sich die Zellen in ihrem Körper erinnern, wie es einmal war, frei zu sein, ohne Last.
Die Glut brennt, die Kerze flackert wieder. Kerzen sind etwas Tolles, man befeuchtet zwei Finger und drückt sie aus. Sssssssh.
Manche sprechen von einer Ohnmacht als gnädig. So als wäre das etwas Zufälliges, etwas Gottgeschicktes. So etwas wie der Sandmann, ein Kobold, die gute Fee. Die gnädige Ohnmacht schwappt über sie. Bitte … Ohnmacht ist keine Gnade, Ohnmacht ist Schlamperei.
Sie hält ihr Nachthemd vor dem Bauch zusammen, als sie auf mich zukommt. Ganz wie eine Lady. Sie stellt sich vor mich und hebt ihr trotziges Kinn zu mir hoch, der ich doch nur in den Nachthimmel starre. Sie stemmt ihre nackten Füßchen gegen den Kies auf dem Dach und brüllt: „Fangen wir an, ich habe es eilig.“
Du bist den Leuten nahe, wenn du ihnen die Wahrheit bringst. Deshalb wollen Frauen mit Priestern schlafen. Nicht, weil sie es nicht dürfen, sondern weil sie ihnen die Wahrheit bringen. Aber Wahrheit ist nichts von außen, nichts von oben, Wahrheit ist ganz tief in dir drin. Irgendwo zwischen der Leber und den Nieren, da wo das Gewebe feucht ist, von Blut durchtränkt, nass trieft wie ein Schwamm und wenn der Schwamm dann das erste Mal an der frischen Luft ist. Das ist Wahrheit.
„Du bist geflohen“, sage ich zu ihr. „Vor deinem vor Gott gegebenen Versprechen. Bis dass der Tod euch scheidet.“
„Er war ein Schwein“, schreit sie.
„Psst“, mache ich. „Psst.“
Die Leute sollten sich einen dunklen Raum bauen, irgendwo in ihren Kellern, sollten hineingehen in ihren dunkelsten Stunden und ihre Wahrheit hinausflüstern. In die Wände würde die Wahrheit sickern wie ein köstlicher Schimmelpilz. Oh, man könnte den besten Käse der Welt in diesen Räumen züchten.
„Du hast ihn einmal geliebt. Warum heiratet man einen Mann, wenn man ihn nicht liebt?“
„Er hat mich geschlagen.“
„Nein, hat er nicht.“
„Er war schlecht zu mir.“
„Nein“, sage ich. „War er nicht.“
Der Kies knirscht unter ihren Zehen. Sie geht Möglichkeiten durch. Ein Tritt in meinen Schritt, ihre Finger in meine Augen, ich muss ein Messer haben irgendwo, wahrscheinlich eine Machete, irgendein Buschmesser, so ein riesiges Ding, bestimmt am Bein versteckt, das könnte sie mir in die Bauchhöhle treiben. Lieber morden als sterben, lieber lügen und leugnen als der Wahrheit in die grün-blauen Augen zu sehen.
Die Wahrheit ist nicht blind, die Wahrheit ist nicht von allem befreit, schwebt nicht losgelöst von allem irgendwo da oben, zwischen den Wolken. Die Wahrheit interessiert sich sehr wohl für dich. Die Wahrheit sieht dich. Ob du das willst oder nicht, ist ihr egal. Du kannst dir nicht die Hände vor die Augen halten und schreien: „Ich seh dich nicht, du siehst mich nicht.“
„Es ist nicht über Nacht gekommen“, sage ich. „Du warst nicht nur schwanger mit deiner Tochter, sondern auch mit dieser Idee.“
„Wer bist du, dass du dir anmaßt, so über mich zu urteilen?“
„Du hattest alles, deinen Mann, bald eine Tochter, du warst glücklich.“
„Nein, ich war nicht -, ich war depressiv.“
Es ist noch zu wenig Schmerz. Viel zu wenig. Die Wahrheit ist tief in ihr verschüttet. Die holt man nicht mit einem Meißel heraus, sondern mit einem Presslufthammer.
Die Wahrheit ist in Stein gemeißelt und unumstößlich, sie ist nicht interpretierbar, sie ist absolut. Die Ziffer Eins. Wenn die Wahrheit eine Zahl wäre, dann die Eins, wäre sie eine Farbe, dann vielleicht ozeanblau, das weiß ich nicht genau, aber bei der Zahl bin ich mir sicher: Eine Eins. Die Wahrheit braucht kein „weil“, kein „und“, kein „aber“ und kein „damit“.
Die Wahrheit ist die Wahrheit ist die Wahrheit.
„Du warst die hübsche Frau eines reichen Mannes und bist mit dem Pooljungen durchgebrannt.“
Jetzt kommt der Angriff. Die Variante mit den Augen, sie bohrt mir ihre Daumen in die Augenhöhlen, ich kann ihre Fingerabdrücke spüren, sie kratzt, als könnte sie mir tatsächlich die Augen rausquetschen. Ich lächle und spreche weiter: „Das ist natürlich bitter und das jemandem von deinem Kaliber. Wie in einer Vorabendserie bist du irgendeinem Gigolo hinterhergerannt. Das war viel zu banal, als dass es jemandem wie dir hätte passieren dürfen. Wann hat er dich verlassen? Als die Brieftasche schmaler oder dein Bauch dicker geworden ist?“
Sie weicht von mir zurück. Ich blinzle zweimal.
„Du hättest nur umdrehen müssen, einfach zu deinem Mann gehen und sagen, es war ein Fehler. Dabei hast du ihn doch viel mehr geliebt als diesen Alberto. Was war es denn? Die Freiheit? Später war es der Stolz, aber was davor? Die Freiheit?“
„Was bist du?“, flüstert sie.
„Hast du gewusst, wie er gestorben ist? Er hat sich erhängt. Zwei Jahre, nachdem du weg bist. Er hat sich nicht aus Scham erhängt, wie du es dir jetzt einredest. Nicht, weil er getrunken hat oder Schulden hatte, wie du heimlich hoffst. Er hat sich erhängt, weil du ihn verlassen hast. Nur deshalb. Das ist die Wahrheit.“
„Nein“, schreit sie. „Ich habe ihn nicht geliebt, ich habe ihn nicht geliebt.“ Und ein drittes Mal: „Ich habe ihn nicht geliebt.“
Sie dreht sich von mir weg, ich soll ihre Tränen nicht sehen, ich packe sie an ihrem Nacken, laufe mit ihr vor, ihre Füße schleifen über den Kies, sie wiegt fast nichts, ich stoße sie über den Sims und springe ihr hinterher.
Wir segeln durch die Nachtluft, es sind nur acht, neun Meter. Wir fallen langsam.
Ich hatte so gehofft, dass sie es sieht, jetzt. Dass sie, während die Straße auf uns zurast, die Augen aufmacht und sieht. Dass sie keinen Schmerz braucht, hatte ich gehofft. Dass es einmal, ein einziges Mal ohne geht. Dass der Asphalt zu einem Spiegel wird, einfach mit einem Fingerschnippen. Dass er zu einem Spiegel wird, in den sie tief hineinsehen kann.
Aber sie sieht nichts. Sie schreit und fällt und stürzt. Sie streckt ihre Arme aus, sie brechen wie Streichhölzer, aber es reicht. Sie erkauft sich ein bisschen Leben.
Ich stehe auf und klopfe mir Asphaltsplitter vom Bauch, ich ziehe mein Telefon aus der Manteltasche und rufe den Notarzt.
Ich schaue noch einmal zu ihr herunter und sage: „Auf Wiedersehen.“
Das ist alles, was ich über die Wahrheit weiß. Und ich fürchte mich vor ihr.