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Eine Handvoll Mensch
Das grelle Licht unterstützte die Hektik im Raum noch. Ständig nestelte jemand an einem Kabel, oder der Blutdruckmannschette herum. Besorgte Blicke fielen auf den Monitor und die Ausdrucke des Wehenschreibers. Gerade wand sich die Patientin wieder unter den Schmerzen und stöhnte.
Hanna trat näher und hielt ihr die Hand hin. Schnell griff die Frau danach und klammerte sich daran, als ob sie 1000 Meter in die Tiefe zu stürzen drohte. Als der Druck nachließ blickte Hanna in ein müdes, abgespanntes Gesicht. Die Augen der Frau schauten verzweifelt nach oben. Schwach umfasste sie den Arm der jungen Hebamme und zog sie zu sich hinunter. Ein flehender Blick traf Hanna.
„Bitte“, die Stimme der Frau zitterte, „ich möchte es nicht sehen.“
Hanna zwang sich zu einem Lächeln und strich der Frau eine nasse Haarsträhne aus der Stirn.
„Nein, das müssen sie nicht“, flüsterte sie leise. Dann richtete sich wieder auf, blickte zum Arzt hinüber und schüttelte den Kopf.
Wie würde sie selbst in so einer Situation reagieren? Im fünften Monat war man noch nicht bereit für eine Geburt. Man hatte noch nicht mal den Willen die Geburtswehen durchzuhalten.
Hanna rang nach Luft und versuchte schnell diese Gedanken zu verscheuchen. Im Raum war es stickig und unter der sterilen Kleidung kam sie sich vor wie in einem Backofen.
'Konzentrier dich!', ermahnte sie sich.
Vor ihr lag eine Patientin mit einer Fehlgeburt. Die Wehen waren wichtig, denn so konnte ein operativer Eingriff vielleicht vermieden werden. Merkwürdig, dass gerade vor einem Monat eine Frau in derselben Schwangerschaftswoche abgetrieben hatte…
Schon wieder wollten Hannas Gedanken mit ihr durchbrennen. Sie holte tief Luft. Ihre Aufgabe war es, den 16 Wochen alten 'Fötus', wie der Arzt es nannte, in Empfang zu nehmen. Meistens starben sie schon während der Geburt. Dank der modernen Medizin gab es ab der 24. Woche eine Überlebenschance, die gerade mal bei neunzehn Prozent lag.
Hanna postierte sich neben dem Mann in weiß und hielt sich bereit, ein warmes Tuch in der Hand. Es würde nicht mehr lange dauern.
Kurze Zeit später wurde ihr ein winziges, glitschiges Lebewesen in die Hände gelegt. Hanna blickte zur Uhr: Geburtszeit 16:23 Uhr. Sie wartete einen Moment bis der Arzt die Nabelschnur durchtrennt hatte und eilte dann ins Nebenzimmer. Hier war es ruhig, die Luft angenehmer. Nur leise klang das Weinen der Mutter herüber.
Benommen schaute Hanna nach unten. Das kleine Ding strampelte und sie konnte zehn winzige Zehen und zehn kleine Fingerchen erkennen. Ohren, Nase, alles war da. Vor ihr lag ein Menschlein, so klein, dass es in einer einzigen Hand Platz hatte.
Die dürren Arme und Beine ließen Hanna erschauern. Die Augen des Jungen waren noch zu. Der Atem ging schnell und flach. So kurz war er im warmen Bauch der Mutter gewesen und schon empfing ihn eine kalte, grelle, unbarmherzige Welt. Hanna griff nach einem warmen Tuch um den Kleinen erneut zu zudecken. Er sollte sich wenigstens einigermaßen wohl fühlen. Dann setzte sie sich.
Der Kleine schien eine Kämpfernatur zu sein. Er wollte leben. Die Minuten dehnten sich in die Länge. Hanna beobachtete, wie die Haut des Kindes langsam grauer wurde. Seine Atmung kam nur noch stoßweise. Irgendwann blieb sie ganz aus.
In Hannas Kopf hämmerte es. Sie fühlte nach dem Puls, schluckte und sah auf die Uhr. Exitus 16:38 Uhr. Genau fünfzehn Minuten. So lange hatte dieses Menschlein gelebt.
Langsam stand Hanna auf. Sie lief zum Waschbecken, liess Wasser einlaufen, wickelte das Kind aus den Tüchern und begann mechanisch, es zu waschen. Es war nicht das erste Mal, dass sie ein totes Kind wusch. Später würde sie es schön zurecht machen, in das Weidenkörbchen legen, für den Fall, dass die Eltern es doch noch anschauen wollten, und vermutlich würde es dann Ende Monat, zusammen mit anderen Fehlgeburten in einem Massengrab bestattet werden.
Erst, als eine Träne ins Waschbecken tropfte merkte Hanna, dass sie weinte. So kurz hatte dieses Menschlein in ihrer Hand gelebt. Und die ganze Zeit war sie bei ihm gewesen. Ja, sie hatte es sein ganzes Leben lang begleitet. Und plötzlich merkte Hanna, dass diese fünfzehn Minuten die kostbarsten ihres Lebens gewesen waren.