Eine Kirche für Huren
Ich ging in die Hocke und sah mir den Mann an, der vor mir auf dem Asphalt lag. Vorsichtig nahm ich seinen Kopf in beide Hände und drehte sein Gesicht zu mir. Seine Wangen fühlten sich noch warm an, doch seine Augen waren leer, dunkel, als hätte man ihnen den Strom abgestellt. Ich kannte ihn nicht; so sehr ich mich auch bemühte, einfach nichts an ihm kam mir bekannt vor.
Ich betrachtete meine Hände. Sie zitterten und meine Knöchel pochten und liefen rot an. Der Mann war tot. Zweifellos.
Die Straßen waren kahl, nass und dunkel und ich verlief mich in mehr als einer Gasse. Kein Ort passte mir, um mich in Ruhe so zu fühlen, wie ich mich fühlen wollte. Ich sah durch das Fenster einer Bar. Der Laden war hell beleuchtet. An der Decke hingen seltsame silberne Kugeln, die wohl zur Deko gehörten und die Stühle und Tische waren allesamt in schnöseligem Weiß oder Beige gehalten. Die Leute trugen Smokings oder Abendkleider und lachten und scherzten über ihren lächerlichen Martinigläsern, in denen vereinzelt Oliven schwammen.
Ich ging weiter. Grelle Lichter und Reklametafeln spiegelten sich auf dem nassen Pflasterstein und erhellten die Straße. Vor einem besonders heruntergekommenen Gebäude lag ein kleiner Fetzen roten Teppichs. Über der Tür erzählten neongelbe Buchstaben, dass in diesem Lokal nicht nur der Durst befriedigt werden würde. Nach kurzem Zögern ging ich hinein und sah mich um. Es war beinahe dunkler als auf der Straße. An der Theke saßen vereinzelt Männer gehobenen Alters; immer mindestens ein Barhocker zwischen ihnen war frei. Aus einer Jukebox träufelte leise Jazzmusik und auf der Tanzfläche, die als einzige Stelle gut genug beleuchtet war, um den zum schneiden dicken Rauch sehen zu können, pressten sich Männer viel zu fest an viel zu leicht bekleidete Frauen, die viel zu jung für sie waren.
So weit war ich noch nicht, doch ich versuchte mir den Namen dieser Bar zu merken.
Irgendwann landete ich im hintersten Eck eines Schuppens, der sich Noir schimpfte. Ich hatte vor der Tür einen Mann, der an der Hauswand lehnte und rauchte, gefragt, woher dieser Name kam und er sagte mir, dass dort drin Negermusik gespielt werden würde.
Der Platz war gut. Ich hatte einen Überblick über das gesamte Etablissement und die Wand im Rücken. Auf der Bühne räkelte sich eine Frau mittleren Alters wie eine Schlange am Ständer ihres Mikrofons, in das sie immer wieder ein paar Worte hauchte. Sie trug ein weißes Kleid, weiße Schuhe und hatte lange, braune Locken. Sie war nicht im Geringsten schwarz, doch beherrschte das Handwerk derer, die der Mann vor der Tür als Neger betitelt hatte, tadellos. Ich bestellte Whisky auf Eis, den mir ein Mädchen mit unschuldigem Lächeln und müden Augen servierte.
„Cheers“, flüsterte sie und ging teilnahmslos weiter. Ich lehnte mich zurück und lauschte der Frau auf der Bühne, die mit Sicherheit nicht einmal in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen war.
Ein allgemeines Aufsehen ging durch den Raum, als eine Frau an der Theke eine leere Flasche auf das Holz des Tresens schlug und aufstand. Sie verabschiedete sich mit einem Knicks von der Barkeeperin und tippte sich an die Krempe ihres schwarzen Zylinderhuts. Anmutend stolzierte sie in Richtung Tür und mit jedem Schritt unterbrach das Geräusch ihre Absätze die Vorstellung der Dame in Weiß. Die Frau mit dem Zylinder hatte bereits beide Hände gegen die Eingangstür gestemmt, als sie innehielt und zu mir herübersah. Sie zögerte, zuckte mit den Schultern und kam an meinen Tisch. Sie setzte sich, ohne ein Wort zu sagen und ohne mich anzusehen. Die Leute an den anderen Tischen sahen wieder zur Bühne, von wo aus die Musik wieder ihre volle Aufmerksamkeit auf sich zog.
„Musste das gerade sein?“, fragte ich. Sie sagte nichts, sondern zuckte nur mit den Schultern, ohne ihren Blick von der Bühne zu wenden.
„Ich stehe eben auf starke Abgänge“, sagte sie nach einiger Zeit.
„Er war nicht stark. Nur laut. Außerdem war es kein wirklicher Abgang.“
Sie lächelte und sah mich zum ersten Mal an. Unter ihrem Zylinder, der ihr schräg auf dem Kopf saß, hatte sie schwarze mittellange Haare. Ihre üppigen Lippen waren feuerrot und ihren nahezu kurvenlosen Körper bedeckte ein schwarzes Minikleid.
„Niemand mag Klugscheißer“, sagte sie. Sie tauchte ihren kleinen Finger in mein Glas und leckte ihn ab.
„Ich darf doch bitten.“
„Bitte.“ Sie lehnte sich zurück und starrte mich weiter an. Ich konnte nicht sagten, ob ich Interesse oder Belustigung in ihrem Blick sah.
„Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte ich.
„Ich weiß nicht. Kannst du?“
„Ich fürchte nicht.“
„Du weißt doch gar nicht, was ich von dir will.“
„Okay“, sagte ich und versuchte Entspanntheit vorzutäuschen. „Was willst du von mir?“
Sie sagte nichts, zuckte mit den Schultern und riss mir mein Glas aus der Hand.
„Was machst du da?“
„Wo? Hier?“ Sie leerte mein Glas in einem Zug.
„Nein, da. Das ist mein Glas.“
„Mein Gott, wie durch du drehst wegen einem Glas billigem Whisky.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und diesmal war ich mir sicher, dass sie sich über mich lustig machte.
„Billiger Whisky hin oder her.“
Sie rollte mit den Augen und hob den Arm. Sie saß mit dem Rücken zur Theke, doch es dauerte keine Minute, bis ihr das unschuldige müde Mädchen eine Flasche Whisky brachte. Teuren Whisky. Sie füllte mein Glas bis zum Rand.
„Glücklich jetzt?“, fragte sie herablassend. Ich nickte und nahm einen Schluck.
„Also …“, begann ich und leckte mir mit der Zunge über die Oberlippe, „was wird das hier? Kennen wir uns irgendwo her? Haben wir mal miteinander geschlafen oder so?“
„Nicht dass ich wüsste“, sagte sie und nahm einen Schluck aus der Flasche.
„Was willst du dann hier?“
„Hier an diesem Tisch oder hier in dieser … nennen wir es Bar.“
„An diesem Tisch.“
„Trinken. Mit dir. Siehst du doch.“
Ich beschloss meinen Geduldsfaden nicht reißen zu lassen und mitzuspielen.
„Das sehe ich, ja. Und wieso hast du dich zu mir an den Tisch gesetzt?“
„Ich war gerade zufällig hier und habe dich gesehen.“ Die Flasche in ihrer Hand war schon beinahe halbleer. Ich nickte.
„Und wieso warst du gerade zufällig hier?“
„Ich rekrutiere.“ Mein Blick war gefesselt von der Frau auf der Bühne, die sich immer noch wie eine Schlange an ihrem Mikrofonständer räkelte, aber ich dachte kurz einen Anflug von Stolz in der Stimme der Unbekannten mit dem Zylinder wahrgenommen zu haben.
„Wen rekrutierst du?“
„Leute.“
„Aha. Und wofür?“
„Für meinen Laden.“ Aus ihrem Ausschnitt zog sie eine Karte und reichte sie mir. Darauf stand in Großbuchstaben Bottomless Pit und etwas kleiner darunter Trau dich doch. Die Karte fühlte sich komisch an. Sie war überraschend schwer für eine Visitenkarte und kaum biegbar.
„Das ist dein Laden?“
„Naja“, sie stockte, „Nicht unbedingt meiner, aber ich kümmere mich um fast alles.“
„Was ist das? Eine Bar?“
„Trau dich doch, mal vorbeizuschauen.“
„Du scheinst noch ziemlich jung zu sein, um irgendwas zu managen.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Jahrelange Arbeit zahlt sich aus. Egal wie alt man ist.“
Sie hatte keinerlei Fältchen unter ihren bestimmenden, blauen Augen, eine erschreckend gerade Haltung und die Haut an ihren übereinandergeschlagenen Oberschenkeln wirkte glatt und straff. Sie konnte unmöglich älter als dreißig sein und sie sah auch nicht aus, als hätte sie schon jahrelang gearbeitet.
„Wie lange machst du das schon?“, fragte ich, als sie mich dabei ertappte, wie ich sie von oben bis unten musterte.
„Jahrelang. Sagte ich doch“, antwortete sie und steckte sich eine Zigarette in den Mund, die hinter ihrem Ohr geklemmt hatte.
Ich nickte, gab ihr Feuer. „Wusstest du, dass du wirklich anstrengend bist?“
Aus ihrem Lächeln wurde ein Freudestrahlen. „Das will ich schwer hoffen.“ Sie sah mich fragend an, als ich den letzten Schluck aus meinem Glas nahm. Ich nickte und sie füllte es erneut bis zur Hälfte auf.
„Hat dein Chef auch so viel Spaß mit dir?“
Wieder zuckte sie mit den Schultern und blies blauen Rauch zur Decke. „Er ist nicht wirklich mein Chef. Eher mein Vorgänger, der noch nicht im Ruhestand ist; der mir noch die nötigsten Handgriffe beibringt, bevor er das Zeitliche entweiht.“
„Armer Kerl. Wie lange noch, bis du vorhast, dir die Bar, oder worum auch immer es sich handelt, unter den Nagel zu reißen?“
„Wenn es nach mir ginge, sofort. Kann aber noch dauern. Wenn der Teufel singt, dann tanzt du, bis die Musik vorbei ist.“
Ich fühlte mich unbehaglich. Diese Frau verkörperte eine Macht, wie sie sie nur Frauen haben konnten. Sie trug sie mit sich. Sie war sichtbar wie eine Aura. Ich fühlte mich klein und schwach. Diese unbekannte Frau mit dem schwarzen Zylinder und den roten Lippen war mir überlegen. In jeder erdenklicher Hinsicht. Sie drückte ihre Zigarette auf der Tischplatte aus.
„Wo ist das?“, fragte ich und ließ die Karte durch meine Finger gleiten.
Sie sagte nichts, machte lediglich eine kreiselnde Bewegung mit dem Zeigefinger. Ich drehte die Karte um; auf der Rückseite stand eine Adresse, die ich nicht genau kannte. Ich kannte lediglich den Stadtteil.
„Ist das nicht die Gegend vor der uns unsere Eltern immer gewarnt haben?“
„Vielleicht.“
„Was treibt eine Frau wie dich in eine Gegend wie diese?“
Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte hell auf. Einige Gäste drehten sich zu uns um. Mit einer Geste versuchte ich mich für ihr Benehmen zu entschuldigen.
„Eine Frau wie mich?!“, rief sie. „Was weißt du schon?!“
„Nichts anscheinend.“
„So sieht es aus. Du weißt nichts. Und ich …“ Sie stand auf und leerte die Flasche. „Mach mich jetzt auf den Weg. Die Nacht ruft nach mir.“
Sie drehte sich um und ging zur Tür, stemmte sich gegen sie, und verschwand in der Dunkelheit.
„Hey!“, rief ich und lief ihr nach. „Wie heißt du eigentlich?“ Als ich die Straße erreichte, war die Unbekannte weg. Ich sah mich um, aber es gab keine Spur von ihr.
Zuhause angekommen, nahm ich eine halbleere Flasche Wein aus dem Kühlschrank und stellte mich ans Fenster. Ich zündete mir eine Zigarette an und beobachtete die Lichter der Nacht, wie sie eins nach dem anderen erloschen und sich Dunkelheit über der sonst so lebhaften Fläche ausbreitete. Im gegenüberliegenden Haus schloss eine bleiche Frau die Gitter vor den Fenstern. Sie starrte mich an, ich nickte ihr zu und winkte. Sie erwiderte nichts dergleichen und schaltete das Licht aus.
Ich zog mich aus und legte mich ins Bett. Mayas tiefes, gleichmäßiges Atmen unterbrach, als sie meine Gegenwart spürte. Sie öffnete die Augen und blinzelte einige Male.
„Wie war deine Nacht?“, fragte sie in flüsterndem Ton.
„Durchwachsen“, antwortete ich.
Sie zog mich an sich. Ich spürte die Wärme ihres nackten Körpers.
„Gestern Abend“, sagte Maya, „kurz nachdem du gegangen warst, standen hier zwei Leute vor der Tür.“
„Was für Leute?“, fragte ich und betrachtete meine Hände. Meine Knöchel waren blau und leicht geschwollen.
„Ein Kerl, ein ziemlich großer Kerl, mit Glatze. Und eine Frau, die ich nicht erkannt habe, weil sie in seinem Schatten beinahe vollständig untergegangen ist.“
„Was wollten die beiden?“, fragte ich, setzte mich auf die Bettkante und zog mein Hemd an.
„Irgendwie nichts bestimmtes. Die haben mir nur ein Paar belanglose Fragen gestellt und sind dann wieder gegangen“, sagte Maya, drückte ihre Zigarette aus und stand auf, um sich ebenfalls anzuziehen.
„Was für Fragen?“
„Fragen über dich. Und über uns.“
„Über mich?!“ Ich drehte mich zu ihr und starrte sie an.
„Ja.“ Mit einer Handbewegung winkte sie ab. „Aber es ging um nichts Bestimmtes. Darum, ob du in letzter Zeit in Schwierigkeiten gesteckt hast und ob du häufig um diese Uhrzeit draußen bist und solche Sachen eben. Er kam mir vor wie ein schlechter Cop.“
„Solche Sachen eben?! Was meinst du mit solche Sachen eben? Wer waren die beiden?“
„Ich weiß nicht, wer sie waren. Der Riese hatte eine Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern auf und die Frau war, wie gesagt, beinahe unsichtbar.“
„Was hat der Typ noch gefragt? Hat er sich nicht vorgestellt? Hast du ihn nicht nach seinem Namen gefragt?“
„Nein, habe ich nicht. Ich war betrunken. Tut mir leid.“
„Was hat er noch gefragt?!“, fragte ich etwas lauter.
„Ich weiß es nicht, ich …“, mit verschränkten Armen starrte sie an die Decke. „Ob wir Geldprobleme hätten, oder es in letzter Zeit einen Todesfall bei uns in der Familie oder im Bekanntenkreis gab.“
„Diese Fragen sind doch nicht belanglos!“
„Doch. Das waren sie. Du hättest den Typen sehen sollen. Der hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und stand ganz gerade da und obwohl er eine Sonnenbrille getragen hat, hätte ich schwören können, dass er einfach nur gerade aus starrte. Das war, als hätte ich mit einer Granitstatue gesprochen.“ Mayas Stimmte zitterte leicht.
„Okay. Wollten sie noch irgendwas anderes?“
„Nein. Sonst nichts. Ich hatte mich noch gar nicht fertig mit dem Riesen unterhalten, da hat die Frau, die die ganze Zeit still im Schatten stand, auf einmal angefangen zu Grinsen. Ihren Mund konnte ich nicht sehen, aber ihre Zähne haben in der Dunkelheit geschienen und dann hat sie sich einfach umgedreht und ist gegangen. Der Riese hat sich dann, als wir fertig waren, höflich bedankt und ist auch gegangen. Ohne seine gerade Haltung zu verlieren. Ich habe den beiden dann noch nachgeschaut, wie sie den Gang entlanglaufen und in den Fahrstuhl einsteigen. Die Frau hat mir noch zugewinkt, bevor sie verschwunden sind und als ich gerade wieder in die Wohnung wollte, habe ich gesehen, dass da ein Zettel an der Außenseite der Wohnungstür hing.“
„Was für ein Zettel?“
„Ein Umschlag“, sagte Maya. Sie ging zum Tisch und suchte zwischen alten Zeitungen und Stapeln von vergilbten Büchern, bis sie einen weißen, zerknitterten Umschlag fand.
„Ich habe ihn nicht geöffnet. Dachte er wäre eventuell für dich.“
Ich nahm den Umschlag, fühlte den Inhalt und bevor ich ihn öffnete, wusste ich bereits, was darin war.
An manchen Orten genoss ich absolute Stille. An Orten an denen kein Mensch redete, kein Auto über den Asphalt schrammte und es sich beim einzigen Geräusch weit und breit um das Rauschen in den eigenen Ohren handelte. Diese Orte, ob es sich um eine Großstadt oder ein verlassenes Waldstück handelte, genoss ich jedoch nur, wenn ich wusste, dass dort auch Lärm herrschen konnte, und Leben. Genauso liebte ich die Dunkelheit – wenn ich wusste, dass dort auch das Licht Einzug fand.
In diesem Teil der Stadt fand das Licht keinen Einzug. Die Dunkelheit herrschte. Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Die gewaltigen, grauen Gebäude ragten so hoch, dass man ihre Spitzen nur erahnen konnte; als handelte es sich um die verschimmelten Säulen, die den Himmel über uns trugen. Sie standen größtenteils leer – kein Licht schien aus den Fenstern – und man hatte sie so eng aneinander gepfercht, dass man zwischen zwei Gebäuden nur die Arme ausstrecken musste, um die gegenüberliegenden Hauswände berühren zu können.
Mit hochgeklapptem Kragen und den Händen tief in den Manteltaschen, bahnte ich mir den Weg durch die Dunkelheit. Ich wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war - die Straßenlaternen leuchteten hier durchgehend. Jedenfalls das, was von ihnen übrig geblieben war. Bei den meisten Laternen handelte es sich nur noch um Stahlsäulen, in denen die Fassung einer zersplitterten Glühbirne feststeckte. Andere waren so verstaubt und verdreckt, dass ihre Lichtkegel in der undurchsichtigen Luft nur ein Schatten ihrer selbst waren.
Immer wieder sah ich mich um. Außer einigen Zeitungen, die der Wind dazu einlud, stumme Pirouetten in der Dunkelheit zu drehen, erkannte ich nicht viel. Es herrschte eine beunruhigende Monotonie, die nur vom Geräusch meiner Schritte unterbrochen wurde. In der Dunkelheit sah ich kaum etwas, doch ich bildete mir ein, dass mein inneres Auge jedes Detail erkannte: Es erkannte Penner, die auf den Bänken am Straßenrand schliefen, Männer, die nichts unter ihren Mänteln trugen und Taschendiebe, die hinter jeder Ecke lauerten. Hier genoss ich die Dunkelheit nicht, dennoch war ich ihr dankbar. Dankbar dafür, dass sie mich nicht das volle Ausmaß des Elends erkennen ließ, das hier herrschte. Und dafür, dass sie mich daran hinderte, zu finden, wonach ich suchte, von dem ich selbst nicht genau wusste, was es eigentlich war. Ich blieb stehen und zündete mir eine Zigarette an. Das Kratzen der Zündsteine durchschnitt die Stille. Dann hörte ich nur noch das leise Rauschen des Gases, das die Flamme am Leben hielt.
Ein Geräusch zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Es klang, als ob jemand leise und langsam tanzen und den Boden nur ganz behutsam streifen würde. Das Geräusch wurde lauter, je weiter ich lief, bis ich nach einigen Metern die Silhouette eines Mannes sah. In der Dunkelheit erkannte ich keine Details; lediglich die Umrisse einer Person, die an einer Straßenlaterne lehnte und in regelmäßigen Abständen mit der Ferse gegen das Metall trat. Als er mich sah, fror seine Bewegung ein. Er stieß sich von der kaputten Laterne ab, stand nun mit dem Oberkörper zu mir geneigt da und hob die Hand zum Gruß. Ich ging auf ihn zu und als ich nah genug war, um Details erkennen zu können, sah ich, dass es sich um einen Mann mittleren Alters handelte. Er sah gepflegt aus. Er trug einen grauen oder braunen Dreiteiler, die genaue Farbe erkannte ich nicht, und einen Hut, den er abnahm, als ich näher kam. Seine Haare glänzten und waren straff nach hinten gekämmt. Er verbeugte sich leicht und reichte mir die Hand. Ich erwiderte seinen Gruß nicht.
„Ich suche einen Laden. Eine Bar oder so was“, sagte ich. „Bottomless Pit. Schon mal davon gehört?“
Der Mann musterte mich. Erst meine Schuhe, dann wanderte sein Blick meine Beine hinauf, über meinen Oberkörper und blieb an meinen Augen hängen. Er machte ein fragendes Gesicht und dünne Fältchen bildeten sich unter seinen Augen. Ich versuchte seinem Blick standzuhalten, was mir nicht leicht fiel. Es fühlte sich an als würden mich seine blassgrünen Augen durchbohren und mir direkt in den Kopf starren. Ich packte einen Zwanziger aus und hielt ihn ihm vors Gesicht. Nach einigen Sekunden lächelte er und nahm ihn mit einem Kopfnicken entgegen. Er griff in seine Jackettasche. Ich ging einen Schritt zurück und als er meinen Schrecken bemerkte, hob er sofort die Hände und schüttelte den Kopf.
Er hielt einen Stapel Polaroid Fotos in der Hand und sah sich eines nach dem anderen an. Ich versuchte einen Blick darauf zu werfen, ohne aufdringlich oder neugierig zu wirken. Auf den Bildern waren Frauen verschiedenen Alters. Einige waren nicht älter als zehn, andere gehörten schon längst unter die Erde. Irgendwann hielt er inne, betrachtete ein Foto und reichte es mir. Die Frau mit dem schwarzen Zylinderhut erkannte ich sofort. Sie grinste breit in die Kamera und ihre Hand lag auf der Schulter eines Mannes ihres Alters, der lange dunkle Haare hatte und einen Bart. Er schien die Situation nicht so sehr zu genießen wie sie, doch gab sich sichtlich Mühe, ein unglaubwürdiges Lächeln zu erzwingen.
Ich gab dem Mann das Foto zurück und nickte. Er arrangierte die Fotos wieder zu einem feinsäuberlichen Stapel und steckte sie zurück in seine Tasche. Dann, ohne mich anzusehen, zeigte er in die Richtung, in die ich schon die ganze Zeit gegangen war und bewegte den Arm dann leicht nach links.
„Danke“, sagte ich leise. Er grinste mich an und nickte. Nachdem ich einige Schritte gegangen war, begann er wieder, mit der Ferse gegen die Laterne zu treten.
Als das Geräusch kaum mehr hörbar war, kam ich an eine Kreuzung. Die Straße ging nicht weiter geradeaus. Nur nach rechts und nach links. Ich schaute mich kurz in beide Richtungen um und bog ab.
Die Reklametafel flackerte schwach, doch das Rot der Neonröhren durchschnitt die Dunkelheit wie ein Rasiermesser ein Blatt Papier. Einige Buchstaben funktionierten nicht mehr. Bless it war alles, was noch über der schäbigen Metalltüre aufleuchtete. An ihr war keine Klinke angebracht und kein Knauf. Ich schlug einige Male mit der Faust dagegen und ging einen Schritt zurück. Ich erschrak, als ich das Summen der Kamera hörte, die schräg über der Tür angebracht war, und mich anzoomte.
„Aufmachen“, sagte ich und starrte in die Linse. Nichts passierte. „Bitte.“
Die Tür öffnete sich. Sie schwang mit erstaunlicher Leichtigkeit auf und fiel sofort wieder zurück ins Schloss, als ich die Schwelle übertreten hatte.
Ich stand in einem langen Gang, den vereinzelte Glühbirnen beleuchteten, die nackt von der Decke hingen. An den Wänden klebten die restlichen Fetzen einer ausgeblichenen Blümchentapete, die früher einmal rosa oder orange gewesen sein musste. Langsam bahnte ich mir den Weg nach vorne. Meine Schritte gaben keinen Laut von sich. Jedes Geräusch wurde von dem purpurfarbenen Teppich verschluckt, der sich den Gang entlang zog. An manchen Stellen an der Wand war die Tapete vollkommen abgerissen und es sah aus, als wären die grauen Backsteine dort neuer als die anderen; als hätte jemand Fenster oder Türen nachträglich zugemauert.
Wieder näherte ich mich einer Tür. Zwei Männer bewachten sie. Beide sahen wie der Mann aus, den Maya beschrieben hatte. Sie waren groß, trugen einen Anzug und eine Sonnenbrille, und kein Haar auf dem Kopf. Einer der beiden war lediglich etwas kleiner, als der andere. Die Tür, vor der sie standen, sah sehr viel einladender aus als die letzte. Sie bestand aus dunklem Holz, das mit filigranen Schnitzereien verziert war. An beiden Seiten hingen Lampen, die auf den ersten Blick wie Fackeln wirkten.
„Sie werden erwartet“, brummte einer der beiden und schlug dreimal mit der Faust gegen die Tür.
„Wieso wundert mich das nicht?“, sagte ich und zwängte mich zwischen den Kolossen durch.
Dicke Rauchschwaden stießen mir entgegen und wegen dem dimmen orangenen Licht, sah ich kaum etwas. Ich blieb stehen, meine Augen hatten schlagartig zu Tränen begonnen. Ich blinzelte und kniff sie zusammen, bis ich Details erkennen konnte. Der altertümliche Saal war größer, als ich ihn von außen eingeschätzt hatte. So weit mein Auge reichte, sah ich Männer in schwarzen Anzügen, die von Frauen umgeben waren. Sie trugen Netzstrümpfe und purpurfarbene Corsagen. Sie mussten zum Personal gehören - einige von ihnen trugen Tabletts, die sie auf drei Fingern balancierten, und die Barkeeperinnen waren ähnlich gekleidet. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass es sich nicht bei allen um Frauen handelte.
Ein Saxophonist und ein Pianist spielten auf einer Bühne, die sich in der Mitte des Saals befand. Knapp darüber hingen sechs Käfige von der Decke, in denen jeweils eine Frau tanzte. Die Männer auf der Bühne unterschieden sich als einzige von allen anderen. Der am Klavier trug ein gelbes Hawaiihemd, der am Saxophon eine Lederjacke. Darunter war er oberkörperfrei und sein Schädel sah aus, als wurde er von einem Blinden mit einer stumpfen Klinge rasiert worden.
„Ihren Mantel, Sir“, sprach mich eine der Bediensteten von der Seite an. Sie hatte dunkle Haut und einen Ring in der Nase. Daran hing eine Kette, deren anderes Ende an einem ihrer Ohrringe befestigt war. Ich winkte ab.
„Wie Sie wünschen.“ Sie zwinkerte mir zu und verschwand. Ich bahnte mir den Weg durch die Menge, quetschte mich durch Gruppen von lachenden und trinkenden alten Männern, die ihre leeren Champagnerflöten einfach auf dem Marmorboden zerspringen ließen und Zigarre rauchten, vorbei an einer Sitzecke, wo sich gleich mehrere Bedienstete an einem fetten, kahlköpfigen Anzugträger rieben, bis ich an der Bar angekommen war, die sich über die volle Länge des Saals zog und aussah wie das Labor eines Alchimisten.
Neben mir stand eine Frau in einem weißen Kleid. Sie trug einen Verband am Unterarm und warf eine gefüllte Geldklammer hinter die Theke, woraufhin die Barkeeperin ihr eine volle Flasche in die Hand drückte. Die Frau entkorkte sie, nahm einen großen Schluck und wischte sich mit ihrem Verband den Mund ab. Ich wollte mich gerade über die Theke lehnen, als ein Raunen durch die Menge ging. Um mich herum starrten alle zur Decke und erst da bemerkte ich die Trapezkünstler, die sich dort oben von Seil zu Seil schwangen. Einer von ihnen hatte den Halt verloren und hing nun zappelnd in der Luft. Er fasste sich mit beiden Händen an das Seil, das ihm um den Hals gelegt wurde und an der Decke befestigt war. Die Menge jubelte.
„Ich suche eine Frau“, schrie ich.
„Davon gibt es hier viele, Darling“, sagte einer der männlichen Bediensteten und lächelte mich an, während er eine Flasche nach der anderen über die Theke reichte. „Such dir eine aus und sie soll dir gehören.“
„Nein. Nicht eine von denen. Eine mit einem Zylinder. Sie soll den Laden hier angeblich managen.“
Er hielt inne und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Was willst du von der?“, fragte er und zupfte sich seine Netzstrümpfe zurecht.
„Sie erwartet mich.“
Er verdrehte die Augen. „Und mit welchem Namen darf ich die Person vorstellen, die von ihr erwartet wird?“
„Sie kennt meinen Namen nicht. Sagen Sie ihr einfach, dass …“ Eine Hand packte mich an der Schulter. Ich drehte mich um und sah einen der Riesen, die die Eingangstüre bewachten.
„Sie werden erwartet“, sagte er mit tiefer Stimme. Ich drehte mich nochmals um und zwinkerte dem Barkeeper zu, bevor ich dem Riesen durch die Menge folgte, die sofort einen Durchgang für uns bildete. Ich sah mich erneut um und ein Schauer lief mir den Rücken hinunter, als ich feststellte, dass mir die Umgebung auf groteske Weise gefiel. Als wäre ich in einem Albtraum gefangen, der mir keine Angst machte.
Wir gingen in den hinteren Teil des Saals, zu einer Wendeltreppe, die zu einer Empore hinaufführte. Das Licht war noch dunkler und anstelle der Bediensteten, wie ich sie im Saal gesehen hatte, liefen hier Kleinwüchsige Männer und Frauen in Lack-Leder-Kluft herum, die Tabletts auf ihren Köpfen balancierten, auf denen sich verschiedene Getränke, Zigaretten und vereinzelte Häufchen weißes und braunes Pulver befanden. Obwohl ich die Frau mit dem schwarzen Zylinderhut noch nicht gesehen hatte, spürte ich sofort ihren Blick auf mir - wie er versuchte mir die Klamotten vom Leib zu reißen, mit samt meiner Haut, und ich fühlte mich so nackt und hilflos in ihrer Gegenwart wie in der Nacht im Noir.
Ich sah sie an einem runden Tisch in der Ecke sitzen. Sie trug dasselbe Kleid, denselben Lippenstift und den Zylinder so tief im Gesicht, dass seine Krempe einen Schatten warf, der ihr bis zum Kinn reichte.
„Na sieh mal einer an. Wen haben wir denn da. Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr. Wobei … nein … eigentlich habe ich das nicht gedacht.“
Sie hatte die Ellenbogen auf die Rücklehne gestützt und war tief in die Bank gesunken. In ihrem Mundwinkel hing eine Zigarette und vor ihr auf dem Tisch standen schon einige leere Gläser. „Gefällt dir was du siehst?“
„Ist das hier so eine Art VIP-Bereich?“, fragte ich.
„Wenn du’s so nennen willst.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Nicht da hin!“, sagte sie, als ich mich setzen wollte. „Da hin!“ Sie zeigte auf den Stuhl, der ihr gegenüber stand. Ich setzte mich.
„Nervös?“, fragte sie und zog an ihrer Zigarette.
„Nicht wirklich, nein. Ich sitze nur nicht gerne mit dem Rücken zum Raum.“
„Alles klar. Mir egal. Willst du was trinken? Ach, sag’s erst gar nicht, hier kommt eh gleich einer der Zwerge vorbei. Greif einfach zu, die beißen nicht. Jedenfalls nicht fest.“ Sie lächelte, rollte ihre Zigarette zwischen den Zähnen hin und her und wieder wusste ich nicht, ob sie sich über mich lustig machte, oder neugierig war.
„Was willst du von mir?“, fragte ich und nahm einem vorbeilaufenden Zwerg ein Glas Whisky und eine Zigarette vom Tablett.
„Oh. Da kommt aber jemand direkt zum–“
„Woher weißt du wo ich wohne?“, unterbrach ich sie. „Und was zur Hölle willst du von meiner Frau?“
„Langsam, langsam erst mal.“ Sie drückte die Zigarette auf der Tischplatte aus. „Immer mit der Ruhe.“
„Kein Ruhe!“, schrie ich und schlug mit der Faust auf den Tisch. Sie zuckte zusammen und erschrak, doch sie erschrak eher so, als hätte ein Welpe ihr gegenüber das erste Mal die Zähne gefletscht.
„Bevor wir dazu kommen“, sagte sie, „lass mich dir eine kurze Geschichte erzählen, ein Märchen, wenn du es so willst. Okay?“
„Okay“, hörte ich mich zu meiner Überraschung sagen. Ich zündete die Zigarette an. Sie schmeckte eigenartig.
„Das Märchen handelt von einer Prinzessin; von einer wunderschönen, großzügigen und unendlich lieben Prinzessin, die von ihrem Vater missbraucht und misshandelt und in einem Kerker der Einsamkeit gehalten wurde …“
Ich nahm einen Schluck Whisky und lehnte mich zurück. Der Stuhl war bequem und mein Blickfeld begann, sich auf angenehme Weise zu drehen.
„… Jahrelang hatte die Prinzessin nur einen Wunsch: Endlich die Zelle verlassen zu können. Endlich frei zu sein und nicht mehr unter der grausamen Herrschaft ihres Vaters zu leiden. Doch das konnte sie nicht alleine. Sie brauchte einen Verbündeten, eine Person, der sie vertrauen konnte.“ Sie hielt inne und zündete sich eine neue Zigarette an. „Geht es dir gut? Du siehst etwas blass aus.“
Ich nickte.
„Alles klar. Ich will ja nicht, dass du mir hier vom Stuhl kippst. Wobei, witzig wäre es schon. Egal. Also. Die Prinzessin vertraute sich ihrer Kammerzofe an, weil sie die einzige Person war, der sie vertrauen konnte. Die Kammerzofe verspürte der Prinzessin gegenüber tiefes Mitleid. Sie war für sie immer die Tochter, die sie nie hatte. Sie hat ihr die Windeln gewechselt, sie hat sie in den Schlaf gesungen und sie war dabei, als ihr Möpse wuchsen. Darum versprach die Kammerzofe, der Prinzessin zu helfen. Sie hatte von einem jungen Mann gehört, der in der Küche des Schlosses schuftete – tagein, tagaus – um seine Familie zu ernähren, die im Dorf außerhalb des Schlosses lebte. Er schrubbte den Boden, schnippelte Gemüse, wusch Teller und Töpfe ab und wehe etwas stimmte mit dem Essen nicht, dann war er der erste, der Prügel einsteckte. Traurige Geschichte bisher, oder?“
„Durchaus, durchaus“, antwortete ich. „Möchtest du zum Punkt kommen? Wenn ich Märchen hören will, dann lese ich mir die Bücher meiner Tochter durch.“
„Du hast keine Tochter“, sagte sie und lächelte mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Natürlich nicht …“
Sie zwinkerte mir zu und nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas.
„Also, wo war ich?“
„Der Prügelknabe in der Küche.“
„Ja genau. Der Junge kam irgendwann zu dem Schluss, dass es seine Familie nicht wert war. Die tägliche Tracht Prügel, kaum Schlaf und das alles für so wenig Geld, dass es kaum für ihn selbst reichte. Einfach gehen konnte er jedoch nicht. Einfach kündigen war nicht Teil des Vertrags, den er mit der Königsfamilie abgeschlossen hatte. Wenn er gehen wollte, musste er fliehen, doch das konnte er nicht alleine. Er brauchte einen Verbündeten. Die Kammerzofe, die sich als einzige Bedienstete frei im Schloss bewegen durfte, spielte von nun an den Mittelsmann. Nicht, um dem Küchenjungen zu helfen, sondern wegen der Prinzessin, die sie über alles liebte und ihr ein schöneres Leben wünschte. Im Laufe der Wochen schmiedeten die Prinzessin und der Küchenjunge einen Plan. Er würde in der Küche ein Messer stehlen. Die Kammerzofe hat sich dazu bereiterklärt, es in den Kerker zu schmuggeln und es der Prinzessin zu geben. Zusammen mit einem Zellenschlüssel. Dann würde er für Ablenkung während des Mahls sorgen, währenddessen sich die Prinzessin aus der Kammer schleichen und einen der Werter töten könnte. Die Zofe würde zufällig den toten Wärter finden und Alarm schlagen, in dem Wissen, dass eine geflohene Prinzessin für mehr Furore sorgen würde, als eine versalzene Suppe. Die Prinzessin würde sich im Schloss verstecken. In einer Vorratskammer, zu der nur die Zofe Zutritt hatte. Der Küchenjunge würde sich während der Suchaktion aus dem Schloss schleichen. Würde er erwischt werden, könnte er sagen, er suche nach der Prinzessin. Bombensichere Ausrede, oder?“
„Ja ja. Komm zum Punkt.“
„Moment noch. Bin gleich Fertig. Dann würde der Junge zum Haus seiner Familie rennen, ein Pferd und ein Seil holen und die Gitterstäbe vor dem Fenster der Vorratskammer herausreißen. Sie wären beide frei und könnten dann, glücklich für alle Ewigkeit, gen Sonnenuntergang reiten. Der Junge war ein guter Junge und erklärte sich sogar dazu bereit, den Kopf hinzuhalten, würden sie gefasst werden, da er keinem Menschen die Höllenqualen in diesem Schloss des ewigen Schmerzes zumuten wollte. Außerdem fand er die Prinzessin heiß, aber das nur am Rande. Nobler kleiner Bengel, oder? Als der Tag dann gekommen war, hielt es die Prinzessin kaum aus vor Aufregung und schmiedete Pläne, wie ihr künftiges Leben aussehen würde. Sie schwor Rache an ihrem Vater und dass sie eines Tages zurückkehren und ihm persönlich die Kehle durchschneiden und neue Herrscherin über das Schloss werden würde, um in ewiger Harmonie mit ihrem Volk zusammen zu leben. Es verlief alles nach Plan. Die Zofe stand zur exakten Minute in der Kammer der Prinzessin, die sich kaum mehr halten konnte, doch sie merkte, dass etwas nicht stimmte. ‚Was ist los?‘, fragte sie die Zofe, die ihr kaum in die Augen schauen konnte. ‚Rück raus mit der Sprache!‘ und die Zofe sah sie traurig an und sagte nur: ‚Ich habe die Suppe gekostet. Sie ist nicht versalzen.‘“
Die Frau mit dem schwarzen Zylinderhut leerte ihr Glas und nahm ein neues von einem Tablett.
„Und?“, fragte ich. „Wie ging es weiter?“
„Nun. Was würdest du sagen? Wenn du es dir aussuchen könntest, wie würdest du das Märchen weitererzählen?“
„Ich, äh, würde sagen, dass ein Ritter in glänzender Rüstung kam, dem Küchenjungen den Hals umdrehte und die Prinzessin befreite, um mit ihr das Leben zu führen, das ihr der Junge verwehrt hat.“
Sie grinste breit. „Das wäre ein schönes Ende der Geschichte.“
Kurze Zeit sagte niemand etwas. Wir saßen uns gegenüber, rauchten und tranken.
„Wie dem auch sei“, unterbrach ich die Stille. „Können wir bitte wieder zu mir und meiner Frau kommen?“
„Erst will ich dir noch etwas zeigen“, sagte die Frau mit dem Zylinder und stand auf. Ich zögerte. „Na komm.“ Sie reichte mir die Hand und führte mich ans Geländer der Empore, von wo aus wir einen direkten Blick auf die Theke im Saal hatten. Unten hatte sich nichts verändert. Die Leute tranken und rauchten, sie ließen sich von Bediensteten – ob Frau oder Mann – verwöhnen und jubelten der Musik und den Trapezkünstlern zu. Ich sah die Frau neben mir fragend an, doch sie schaute nur irgendwo in die Leere. Sie sah traurig aus.
„Und jetzt?“, fragte ich. Sie zeigte an die Wand über der Theke. Dort hingen große Bilder in massiven, goldenen Prunkrahmen, die mir von unten aus nicht aufgefallen waren. Mitarbeiter des Monats stand in großen Buchstaben über den eingerahmten Ölgemälden. Ich sah mir die Bilder an und als ich das Gesicht des letzten Mitarbeiter des Monats erkannte, setzte mein Herz für einen Schlag aus, vielleicht auch für zwei, und ich krallte mich am Geländer fest, da ich fürchtete, dass meine Beine nachgeben würden.
„Soll ich dir einen Stuhl holen?“, fragte sie, doch ich antwortete nicht. Ich starrte sie an, ihr Mund lächelte, doch ihre Augen nicht. „Tut mir leid“, hauchte sie kaum hörbar.
„Wer ist die Zofe in deinem Märchen?“, fragte ich.
„Die gibt es nicht“, antwortete sie. „Die war nur da, um die Geschichte unterhaltsamer zu gestalten. Hat funktioniert, oder? Du hättest nichts verstanden, wenn ich dir erzählt hätte, wie es wirklich ist.“ Sie ging zurück zum Tisch, ich folgte ihr.
„Wieso ich?“, fragte ich und nahm einem der herumlaufenden Zwerge ein ganzes Tablett vom Kopf. Er meckerte irgendetwas, das ich nicht verstand, bis ihn die Frau mit dem Zylinderhut mit einer Handbewegung zum Schweigen brachte.
„Das könnte nun etwas unfreundlich klingen, aber naja … Du warst eben gerade da. Verfügbar, wenn du es so willst. Nichts Persönliches.“
Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
„Wieso warst du bei meiner Frau?“
„Um zu sehen, ob es ihr gut gehen würde.“
Ich krallte beide Hände in die Tischplatte, bis meine Knöchel blass wurden.
„Wieso warst du bei meiner Frau?!“, schrie ich und warf eines der leeren Gläser gegen die Wand hinter der Frau mit dem Zylinder. Es verfehlte sie nur knapp. Sie hatte keinerlei Anstalten gemacht, ihm auszuweichen. Die Gespräche der anderen Gäste verstummten, alle sahen uns an, der Riese am Nachbartisch stand auf. Erneut hob sie nur die Hand, er setzte sich wieder und der Geräuschpegel stieg ebenfalls wieder an.
„Um zu sehen, ob es ihr gut gehen würde, wenn du weg wärst. Ob ihr Probleme hättet. Geldprobleme, oder Probleme mit irgendwelchen Leuten. Ich hätte dich da nicht mit reingezogen, wenn ich gewusst hätte, dass deine Frau ohne dich krepieren würde, oder ob ihr irgendwelche Probleme an den Hals gehetzt werden würden, wenn du einfach verschwindest. Ich bin nett. Ob du’s glaubst oder nicht.“
Ich sah sie an und ich glaubte ihr. Die ganze Geschichte schien absurd, doch als ich ihr in die Augen sah, fand ich kein Anzeichen von Unehrlichkeit.
„Okay“, sagte ich und atmete tief durch. „Jetzt von Anfang an bitte. Wieso habe ich einen Typen umgebracht, den ich nicht kannte?“
Die Augen der Frau mit dem Zylinder weiteten sich plötzlich und sie begann hektisch mit der Hand die Zigarettenasche vom Tisch zu wischen.
„Sei still!“, befahl sie mir und pustete noch einmal über die Stellen, die sie gerade saubergemacht hatte.
„Was ist los?“, fragte ich.
„Ruhe! Red einfach nicht, okay?“
Sie setzte sich gerade hin, ihre Haltung hatte etwas von einem eifrigen Schulmädchen, sie schob das Tablett, das ich dem Zwerg vom Kopf genommen hatte, auf meine Seite des Tisches und starrte an mir vorbei. Ich drehte mich um und sah, dass der glatzköpfige Saxophonist hinter mir stand.
„Keine Not aufzustehen“, sagte er und ließ sich neben der Frau mit dem schwarzen Zylinderhut auf die Bank fallen. „Na Kleine, habe ich dir gefallen?“
Sie antwortete nicht, sie nickte nur und starrte vor sich auf den Tisch.
„Was ist los, Dina? Hat’s dir die Sprache verschlagen?“ Er lachte und schlug ihr auf die Schulter.
„Dein Name ist Dina?“, fragte ich. Sie warf mir einen Blick zu, von dem ich fürchtete, er könnte meinen Schädel explodieren lassen. Der Saxophonist sah erst mich an, dann sie.
„Wer ist dieser Wurm?“, fragte er.
„Nur ein Freund“, antwortete sie. Sie rieb sich die Stelle an der Schulter, wo sie der Saxophonist geschlagen hatte.
„Nur ein Freund?! Dass ich nicht lache. Der Letzte war auch nur ein Freund. Wie hieß er noch gleich? Egal. Als ob du Freunde hättest.“ Er lachte wieder laut. „Aber bitte, wenn du es so haben möchtest …“, er stand auf, beugte sich über den Tisch, um mir die Hand zu reichen, „… Hallo Freund, mein Name tut nichts zur Sache. Ich bin Dinas alter Herr. Ihre Freunde sind meine Freunde.“
Ich sah erst ihn an, dann Dina, die mich flehend anstarrte, dann wieder ihn. Er grinste. Ich reichte ihm die Hand, er packte sie und quetschte meine Knöchel zusammen.
„Ich bin-“
„Wen interessiert’s schon?!“, fragte er lachend und setzte sich wieder.
„Also, meine Kleine“, begann er und nahm einem vorbeilaufenden Zwerg eine braune Flasche ohne Etikett vom Tablett. „Ist das hier dein neuer Stecher? Wo ist der alte? Schau ihn dir an, wie er dort hängt, an der Wand, majestätisch würde ich beinahe sagen. Ein Jammer, dass er diesen Bilderrahmen nicht auch in Wirklichkeit um seinen Oberkörper tragen kann. Er sieht so viel lächerlicher aus ohne ihn. Ich wollte sowieso ein paar Takte mit ihm reden. Mir sind hier einige schlechte Dinge zu Ohren gekommen und wir mögen keine schlechten Dinge, nicht wahr?“ Er kniff sie in die Wange.
„Er ist nicht hier“, sagte Dina kleinlaut.
„Und wo ist er?“ Er beugte sich nah vor ihr Gesicht. „Sag schon. Oder vielleicht hast du’s ja schon gesagt und ich konnte dich nur nicht hören. Lauter bitte. Oder willst du’s mir etwa nicht sagen?“
„Ich weiß es wirklich nicht.“
„Mach dich nicht lächerlich. Ihr hockt ständig aufeinander und jetzt willst du mir erzählen, dass du nicht weißt wo er ist?! Du weißt immer wo er ist.“
Er zündete sich eine Zigarre an und ließ die Flamme des Feuerzeugs brennen. Dann sah er abwechselnd Dina in die Augen und auf die Flamme. Dinas Hände zitterten, als sie einen Schluck aus ihrem Glas nahm.
„Ich habe ihn umgebracht“, mischte ich mich ein.
„Stimmt das, was dieser Witzbold sagt?“, fragte er sie, ohne mich anzusehen. Sie nickte. „Nun gut. Du weißt, was du zutun hast.“ Er lachte und nahm einen Schluck aus der Flasche. Dina nickte wieder. „Dann lass ich euch beide mal wieder alleine. Und trinkt nichts von diesem Zeug hier“, er zeigte auf die braune Flasche, „es schmeckt scheiße. Außerdem gehört’s mir.“ Dann stand er auf und ging.
„Nett“, sagte ich und entspannte mich allmählich wieder. „Wirklich nett. Mir gefällt dein Name. Dina. Klingt schön.“
„Danke“, sagte sie und atmete tief durch.
„Also. Erzähl mir etwas von eurem Mitarbeiter des Monats. Deinem Stecher.“
„Er war nicht mein Stecher. Er war nur ein Mitarbeiter, der mich etwas mehr mochte, als es mir lieb war.“
„Und wieso hast du mich ihn umbringen lassen?“
„Naja. Ob du’s glaubst oder nicht, aber hier gibt es auch Regeln und …“
„Als dein alter Herr gesagt hat, dass du jetzt weißt, was du zutun hättest, was hat er da gemeint?“, unterbrach ich sie.
„Dazu wollte ich gerade kommen. Der König wurde getötet, lang lebe der Mörder. Das ist eine unserer Regeln. Und hier werden mehr Leute getötet, als du glaubst. Die meisten haben es auch verdient, aber ich schweife ab ... Was mein Vater meinte, war, dass du jetzt den Platz des Ermordeten einnehmen musst. Das ist aber nicht der Grund, wieso ich dich ihn töten lassen hab. Ich brauch keinen neuen Barkeeper, der mir am Arsch hängt. Wobei, wenn ich mir dich so anschaue ...“ Sie grinste kurz.
„Was habe ich noch geerbt?“, fragte ich und leerte eines meiner Gläser.
Sie zögerte.
„Ein Versprechen.“
„Den König loszuwerden …“
„Ganz genau.“
Ich stand auf und ging zum Geländer. Ich sah mir die Leute an, wie sie tranken und lachten. Ich sah Dinas Vater durch die Menge laufen, die sofort ein paar Schritte zurückgingen, als er sich näherte. Die Frau, die mich empfangen hatte, kam auf ihn zu. Er griff nach der Kette, die ihr im Gesicht hing, zog sie ganz nah an sein Gesicht und sagte irgendetwas, woraufhin sie panisch wegrannte.
„Wieso tust du es nicht selbst?“, fragte ich Dina, die mittlerweile neben mir stand.
„Hm?“
„Der König wurde getötet, lang lebe der Mörder. Wieso bringst du ihn nicht selbst um?“
„Bei ihm funktioniert das nicht so einfach. Bevor ich jetzt voreilig ins Detail gehe, sagen wir es so: Wir brauchen noch jemanden. Einen Freiwilligen. Jemanden, der sich für das größere Gut hergibt.“
„Ein Opfer?“
„Wenn du es so nennen magst.“
„Und der ehemalige Mitarbeiter des Monats wollte die Suppe nicht mehr versalzen …“
Sie nickte.
„Was, wenn ich nein sage? Du sagtest, ihr bräuchtet einen Freiwilligen.“
„Dann …“, sie zündete sich eine Zigarette an, „… holen wir uns deine Frau. Entweder sie oder du. Such es dir aus. Und wenn du dich gegen sie entscheidest, und wir kein Druckmittel gegen dich haben, dann finden wir jemand anderes.“
„Wieso dann nicht gleich jemand anderes?“
Dina zuckte mit den Schultern. „Ich habe es eilig. Was glaubst du, wie lange es dauert, jemanden davon zu überzeugen, freiwillig sterben zu wollen.“
„Wie freundlich.“
Sie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Darin bin ich eine der besten. An zweiter Stelle sogar. Du hast drei Tage.“
Ich legte mich zu Maya ins Bett. Sie schlief bereits und ich beobachtete, wie sich ihre Brüste in regelmäßigen Abständen wölbten und wieder senkten. Ich strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und streichelte ihre Wange. Ich überlegte mir, wie mein Leben ohne sie wäre. Ich würde wahrscheinlich in diese Bar gehen, deren Name ich vergessen hatte, und mich an einem dieser jungen Dinger reiben. Was sonst gäbe es ohne sie zu tun? Ich dachte an Dina und ihre großen blauen Augen.
Ich konnte nicht schlafen, also stand ich auf, nahm eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank und setzte mich ans Fenster. Die blasse Person, die im Haus gegenüber wohnte, bemerkte mich. Ich grüßte sie, indem ich die Flasche hob, sie blieb stehen, ging ans Fenster und warf lachend den Kopf in den Nacken.
Gegen vier Uhr morgens klopfte es an der Tür. Mit der Weinflasche in der Hand öffnete ich und vor mir stand einer der Riesen.
„Ja?“, fragte ich.
„Eine Nachricht für Sie“, brummte er und drückte mir einen Brief in die Hand.
„Danke“, sagte ich, nahm den Umschlag entgegen und wollte die Tür schließen, doch der Riese stellte seinen Stiefel in den Türrahmen.
„Lesen Sie sie gleich.“
Ich nickte, der Riese stand einfach nur da, mit verschränkten Händen hinter dem Rücken.
Hallo Darling
Na, schon eine Entscheidung getroffen? Schon aufgeregt? Schwierig, oder? Was ich dir noch eben sagen wollte – ich habe vergessen, ob ich vergessen habe, es dir zu sagen, oder ob ich es für unnötig hielt – unsere Bürokratie hier ist in gewisser Weise einfach zu manipulieren und ich könnte dir vielleicht bei deiner Entscheidung helfen, also hör zu. Oder schau hin. Wie auch immer.
Ich muss gestehen, dass ich dich während unserer Gespräche fast etwas lieb gewonnen habe. Ich mochte die Art, in der du mit dieser eher weniger schönen und außergewöhnlichen Situation umgegangen bist und ich glaube, dass du Potential hast und ich mit dir eine Menge Spaß haben könnte. Deswegen will ich dir einen Vorschlag machen. Ich nenne ihn Option 3: Im Gegensatz zu dem Küchenjungen in meinem Märchen, war der Mann, den du getötet hast, alleine. Ganz alleine. Vielleicht hing er mir deswegen ständig am Arsch, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Du bist wiederum nicht alleine; ein paar Meter weiter schlummert eine dunkelhaarige Schönheit und du trägst da so eine goldene Fessel an deinem Ringfinger. Maya ist ein Teil von dir. Deine schlechtere Hälfte, wenn du es so haben willst. Wenn du also magst, dann melde dich freiwillig und als Opfer – wie du es so schön genannt hast – könnten wir einfach sie nehmen. Ihr beide fällt sicher ständig gemeinsam Entscheidungen und ihr habt sicher ein gemeinsames Konto oder so was. Es wird niemand erfahren, dass ihr beide diese Entscheidung nicht gemeinsam getroffen habt.
Was für dich dabei rausspringt, willst du wissen? Gute Frage! Du darfst der Ritter aus deinem Ende des Märchens sein. Dem Jungen hast du schon den Hals umgedreht und bald könnten wir zusammen über unser Königreich herrschen und wir würden es zu einem wunderbaren Ort machen; zu einem Ort, an dem die Beichtväter zu Halsabschneidern werden; wo man, um das richtige Symbol anzubeten, an der Decke knien muss, und sich das Kind bei der Taufe seinen eigenen Namen gibt. Es wird unsere ganz eigene Kirche für Huren.
Gute Idee, was? Du solltest dir natürlich Zeit für deine Entscheidung nehmen, aber ich möchte dich trotzdem daran erinnern, dass du, wenn du diese Nachricht liest, nur noch ungefähr zwei Tage hast. Solltest du dem zustimmen, und mein Ritter in glänzender Rüstung werden wollen, dann gib Rondo Bescheid – das ist der Schwachkopf, der dir diese Nachricht überbracht hat und gerade wahrscheinlich dumm Löcher in die Luft glotzt – er wird dich auf direktem Weg zurück in mein Reich bringen.
In Liebe
Dina (die Frau mit dem schwarzen Zylinderhut)