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Eine kleine Vampirgeschichte
Von weitem sah es aus wie ein Schlag; schnell, präzise und tödlich.
In Wahrheit war es das Anritzen der Gesichtshaut oberhalb der Schläfe, vorbei am Ohr, bis hinunter zum Wangenknochen. Das Eindringen der Finger unter die Haut in Höhe des Ohrs und das Freilegen des Schädels durch das ruckartige Wegreißen der Gesichtshaut.
Und all das geschah im Bruchteil einer Sekunde.
Monique schrie nicht. Es ging einfach nicht, und so hörte sie nur ihren Atem, der im Sekundenabstand aus ihrer Kehle drang.
Der Mann mit dem Pferdeschwanz und dem schwarzen Mantel, der bis zu den Knöcheln reichte, stand mit dem Rücken zu ihr gewandt und hielt das tropfende Stück Fleisch, das einmal das Gesicht ihres Freundes gewesen war, in der Hand.
Die keuchenden Atemstöße, die ihre bebenden Lippen verließen, wurden zu einem Wimmern. Mit einem Mal kam ihr das Zittern ihrer Hände so weit weg vor; fremd und deplatziert. Nicht mehr zu ihrem Körper gehörend.
Der Mann mit dem Pferdeschwanz schien ihr Wimmern wahrzunehmen, wandte den Kopf und seine blauen Augen, die im Licht der Straßenlaterne kurz funkelten, sahen sie an.
Jetzt sah Monique auch David, der noch immer vor dem Typen, der sein Gesicht weggerissen hatte, stand. Seine dunklen Haare waren zu blutigen Strähnen geformt und hatten sich wie schwarze Flüsse auf die Fleischreste seines Schädels gelegt. Der Kiefer mit den blutumspülten Zähnen stand offen, und Monique erkannte die Zunge, die darin sanft zuckte. Versuchte er, etwas zu sagen?
Noch immer konnte sie nicht schreien. Ihr Körper war nicht mehr ihr Körper; ein toter Gegenstand, in den ihr Verstand – oder zumindest das, was davon noch übrig geblieben war – gefangen gehalten und von immer enger werdenden Wänden erdrückt wurde.
Davids Hände begannen jetzt ebenfalls zu zittern, das konnte sie erkennen. Sein ganzer Körper verfiel einem Zucken, und bevor seine Knie einknickten, schnellte die andere Hand des Mannes mit dem Pferdeschwanz nach vorn und hielt ihn am Kragen fest. Und das alles, ohne dass er dabei seinen Blick von Monique abwendete.
Er lächelte und zog David mit einer Leichtigkeit, als hielte er einen Sack mit Federn, zu sich heran. Eine dünne Zunge wand sich schlangengleich aus dem Lächeln hervor, setzte an Davids Kiefer an und umspielte kurz darauf zart die bleichen Wangenknochen.
Monique erkannte, dass sich das Zucken auf Davids Beine ausgebreitet hatte, die jetzt wie eine hölzerne Marionette auf dem feuchten Asphalt tanzten. Wie war es möglich, dass er noch lebte?
Noch einmal lächelte der Mann mit dem Pferdeschwanz, dann presste er seine Lippen auf Davids Augäpfel und saugte das Blut, das sich um sie herum gebildet hatte.
Eine Ewigkeit, die verging. Scheinbar nie enden wollend. Und weit und breit keine anderen Menschen. Diese Gegend war genauso tot, wie inzwischen David. Das war das einzige, was Monique denken konnte, während dieser Typ an ihrem Freund saugte.
Das Schmatzen hallte in der engen Gasse von den Wänden wider, und nicht einer, der fragte: Hallo, was geht da vor? Kein Kann ich Ihnen irgendwie helfen?
Warum hatten sie sich denn kein Taxi genommen? So wie David es vorgeschlagen hatte. Die Nacht ist doch so schön, hatte sie zu ihm gesagt und sich seinen Arm um ihre Schultern gelegt. Viel zu schade, um sie in einem muffigen Taxi zu verbringen. Oder was meinst du? Sie hatte ihn verlangend geküsst.
Vielleicht finden wir ja noch eine kleine, ruhige Ecke, wo uns niemand sieht. Noch einmal hatte sie ihn geküsst, und ihre Finger hatten sanft über seinen Schritt gestreichelt. Ja, diese kleine, ruhige Ecke hatten sie gefunden.
Jetzt sah Monique, dass Davids Jeans an der Stelle zwischen seinen Beinen dunkel gefärbt war, und sie glaubte nicht, dass es sich um Blut handelte. Der Mann mit dem Pferdeschwanz verdeckte den Rest des Körpers.
Das Zucken von Davids Beinen hatte unterdessen aufgehört. Tot. Er war endlich tot.
Irgendwann ließ der Mann mit dem Pferdeschwanz von ihm ab. Wieder sah er sie an und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund.
„Willst du mich begleiten?“
Die Worte rissen Moniques Verstand aus seinem Gefängnis. Alles war mit einem Mal so klar. Da stand ihr ein Typ gegenüber, der gerade ihrem Freund das Gesicht weggerissen hatte, der sein Blut getrunken hatte. Und dieser Typ fragte sie tatsächlich, ob sie ihn begleiten wollte. Noch nie zuvor hatte sie den Tod so bewusst wahrgenommen. Sie fühlte sich wie eine Maus. Allein auf einer riesigen betonharten Fläche. Keine Möglichkeit zur Flucht ins sichere Erdreich. Keine Möglichkeit zur Flucht vor der Katze, die da vor ihr stand und sie anstarrte. Bereit war, ihr grausames Spiel zu beginnen. Ein tödliches Spiel.
Ihr wurde heiß.
„Willst du mich begleiten?“, fragte er noch einmal. Seine Stimme klang, als würde er die Frage stellen, während er in einem heißen Schaumbad entspannte.
Monique wusste nicht, was sie tun sollte. Wieder blitzten die blauen Augen – Katzenaugen – für einen kurzen Moment auf, schienen ihr erneut jeden Willen zu rauben.
Er lächelte.
Sah diese Augen, die ihn so voller Angst anstarrten. Ihr Haar war wunderschön, reflektierte das Licht der Straßenlaterne, die er von hier aus nicht sehen konnte.
Sie würde ihn nicht begleiten, das erkannte er. Niemand würde ihn jemals freiwillig begleiten. Freiwillig ohne Angst. Ohne Todesangst.
Er streckte die Hand aus, erschrak selbst, als die Frau zurückwich und er erkannte, woran es lag. Noch immer waren seine Nägel lang. Lang und messerscharf. Das Blut an seinen dünnen Fingern begann bereits zu trocknen. Lange Fleischfasern hingen von den Nägeln herab.
„Komm mit“, flüsterte er. Er legte den Kopf schief. Irgendwo hatte er einmal gesehen, dass man das so machte. „Komm doch mit.“ Er versuchte, sanft zu klingen.
Doch spürte er auch, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie anfing zu schreien. Irgendwann überwanden sie alle ihre Apathie. Angst wird unkontrollierbar. Es war immer so.
Und wenn sie schrie, würden ihr welche zu Hilfe eilen. Und es würde schwer werden, sie hinterher alle zu beseitigen. Keine Spuren. Noch nie hatte er Spuren hinterlassen. Im Laufe der Zeit hatte er viel gelernt. Sehr viel. Hinterlasse niemals irgendwelche Spuren, die auf deine Identität schließen lassen. Eines seiner obersten Leitmotive. Und: Blut von in Todesangst Versetzten schmeckt am besten, je größer der Schock, unter dem sie stehen.
Er ging auf sie zu, ihre Lider flackerten. Todesangst! Sein Magen knurrte. Nein, sie würde nicht mitkommen.
Schnell ließ er seine Nägel noch ein wenig wachsen, dann führte er seinen Schlag aus. Einen Schlag, den er in den vergangenen Jahrhunderten bis zur Perfektion verfeinert hatte.