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Eine lange Zeit
Er schiebt die Haut seiner Wange an der rauen Kante des Mauerwerkes entlang, bis sich kleine Risse bilden. Blut tropft und vermengt sich mit dem Nass, welches die Wand in dünnen Fäden hinab rinnt. Der Schmerz in seinem Kopf will nicht enden. Zwischen seinen Zähnen knirscht Sand, er findet keinen Speichel mehr, um auszuspucken. Sind es Stunden oder Tage, die er hier unten in den Trümmern steckt – jedes Zeitgefühl scheint verloren, die Dunkelheit ist so vollkommen, dass er nicht weiß, ob er sein Augenlicht verloren hat. Sein rechter Arm hängt bewegungslos neben ihm, die Luft dringt nur mühsam mit leisen Pfeifgeräuschen in seine Lungen.
Fern in seinem Kopf hallt noch immer das unbeschreibliche Bersten nach, aber im genauen Vorgang klaffen neblige Lücken. Was hat er getan, dass er jetzt hier eingeklemmt und verschüttet zwischen den Überresten gezwungen ist, über seine Situation nachzudenken. Er spürt seine Hose um die Beine, den mittlerweile getrockneten Kot. Der rechte Fuß ist eingeklemmt und trotz heftiger Bewegung mit dem Bein reagiert er nicht. Von der Wade abwärts muss er taub sein, denn er fühlt nicht einmal mehr, ob ihn noch ein Schuh umschließt.
Als er langsam zu sich kam, schrie er den schmerzenden Wahnsinn in den kleinen Raum. Eine kleine Ewigkeit lang, bis die Stimme versagte und in einem Wimmern endete. Danach folgte eine unzusammenhängende Bestandsaufnahme, die immer wieder von Erschöpfungszuständen und Bewusstseinstrübungen unterbrochen wurde. Erst war es ihm vollkommen egal, was ihn heimgesucht hatte – er wollte nur so schnell als möglich aus dieser beklemmenden Situation. Wenn sie ihn nur bald fänden – ein Krankenhaus könnte das ohne Schwierigkeiten wieder richten.
Aber es kam niemand. Kein Geräusch, nur sein pfeifender Atem. Einmal fühlte er eine leichte Erschütterung und Sand rieselte von oben auf sein Gesicht, kleine Steine kullerten zu seinem Fuß hinab. Der Schmerz pochte dumpf und das Blut wurde langsam kalt. Ihn fror. Irgendwann in diesem Dämmern kroch am Rande seines Ichs ein schwarzer Schatten über seine Wahrnehmung. Panik trieb sein Herz zur unkontrollierten Raserei, Schweiß trat aus, Erbrochenes schmeckte nach Eisen und hemmungslos rann sein feuchter Stuhl an dem Bein hinab, dass offenbar noch funktionstüchtig war.
Ich werde sterben, flüsterte er still in sich hinein, bemitleidete seine Misere und fluchte traurig das Vater-Unser. Lückenhaft und stolpernd. Dann verlor er wieder das Bewusstsein.
Verzweifelt und mit dem schäbigen Rest von Kraft verdreht er seinen Rumpf; ihm ist, als fuhrwerken stumpfe Sensen in seiner ödemschwangeren Lunge. Krampfhaft schiebt er seine verstaubte Zunge durch die aufgeplatzten Lippen, leckt den dünnen Faden Nässe von dem kalten Stein. Die Feuchtigkeit ist salzig, bitter – schmeckt nach Urin. Er hustet, erbricht einen klebrigen Schleim, der ihm zähflüssig über das Kinn läuft. Wieder schiebt er seine wundgescheuerte Wange entlang der Mauer, liebkost den spürbaren Hauch, der ab und zu aus einer kleinen Öffnung neben ihm durch die Steine tritt.
Er schwebt so fern jeglichem Überlebenswillen, sehnt sich nur noch nach dem Ende der Qual, nach dem Ende der langen Zeit. Wenn jetzt mein Geist nur aus mir träte, dieses Wrack zurückließe, denn es ist vorbei, es ist gut, ich lasse los, nur endlich Frieden, Erlösung. Er sucht das Gesicht seiner Frau, seiner Tochter, die er schon lange nicht mehr sah, erinnert sich schwach an dunkel gekleidete Männer mit Schutzhelmen und Gewehren, die durch ein Megaphon schrieen, er solle da weg, er solle sich beeilen. Er war doch nur nach Feierabend unterwegs gewesen, ein bisschen durch diese fremde Stadt geschlendert.
Sacht und weich lässt jeglicher Schmerz nach, ihm ist, als weiche er warm in den Hintergrund, als verblasse sein Körper. Kurz bevor er die Augen schließt, bricht ein gleißender Strahl durch die Steine, bohrt sich ohne Empfindung in den starren Blick. Dass da oben einer steht und ihm zuruft, dass hört er nicht. Jetzt nicht mehr. Das Licht ist ihm genug gewesen.