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Eine lange Zeit

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17.12.2005
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Eine lange Zeit

Er schiebt die Haut seiner Wange an der rauen Kante des Mauerwerkes entlang, bis sich kleine Risse bilden. Blut tropft und vermengt sich mit dem Nass, welches die Wand in dünnen Fäden hinab rinnt. Der Schmerz in seinem Kopf will nicht enden. Zwischen seinen Zähnen knirscht Sand, er findet keinen Speichel mehr, um auszuspucken. Sind es Stunden oder Tage, die er hier unten in den Trümmern steckt – jedes Zeitgefühl scheint verloren, die Dunkelheit ist so vollkommen, dass er nicht weiß, ob er sein Augenlicht verloren hat. Sein rechter Arm hängt bewegungslos neben ihm, die Luft dringt nur mühsam mit leisen Pfeifgeräuschen in seine Lungen.
Fern in seinem Kopf hallt noch immer das unbeschreibliche Bersten nach, aber im genauen Vorgang klaffen neblige Lücken. Was hat er getan, dass er jetzt hier eingeklemmt und verschüttet zwischen den Überresten gezwungen ist, über seine Situation nachzudenken. Er spürt seine Hose um die Beine, den mittlerweile getrockneten Kot. Der rechte Fuß ist eingeklemmt und trotz heftiger Bewegung mit dem Bein reagiert er nicht. Von der Wade abwärts muss er taub sein, denn er fühlt nicht einmal mehr, ob ihn noch ein Schuh umschließt.

Als er langsam zu sich kam, schrie er den schmerzenden Wahnsinn in den kleinen Raum. Eine kleine Ewigkeit lang, bis die Stimme versagte und in einem Wimmern endete. Danach folgte eine unzusammenhängende Bestandsaufnahme, die immer wieder von Erschöpfungszuständen und Bewusstseinstrübungen unterbrochen wurde. Erst war es ihm vollkommen egal, was ihn heimgesucht hatte – er wollte nur so schnell als möglich aus dieser beklemmenden Situation. Wenn sie ihn nur bald fänden – ein Krankenhaus könnte das ohne Schwierigkeiten wieder richten.
Aber es kam niemand. Kein Geräusch, nur sein pfeifender Atem. Einmal fühlte er eine leichte Erschütterung und Sand rieselte von oben auf sein Gesicht, kleine Steine kullerten zu seinem Fuß hinab. Der Schmerz pochte dumpf und das Blut wurde langsam kalt. Ihn fror. Irgendwann in diesem Dämmern kroch am Rande seines Ichs ein schwarzer Schatten über seine Wahrnehmung. Panik trieb sein Herz zur unkontrollierten Raserei, Schweiß trat aus, Erbrochenes schmeckte nach Eisen und hemmungslos rann sein feuchter Stuhl an dem Bein hinab, dass offenbar noch funktionstüchtig war.
Ich werde sterben, flüsterte er still in sich hinein, bemitleidete seine Misere und fluchte traurig das Vater-Unser. Lückenhaft und stolpernd. Dann verlor er wieder das Bewusstsein.

Verzweifelt und mit dem schäbigen Rest von Kraft verdreht er seinen Rumpf; ihm ist, als fuhrwerken stumpfe Sensen in seiner ödemschwangeren Lunge. Krampfhaft schiebt er seine verstaubte Zunge durch die aufgeplatzten Lippen, leckt den dünnen Faden Nässe von dem kalten Stein. Die Feuchtigkeit ist salzig, bitter – schmeckt nach Urin. Er hustet, erbricht einen klebrigen Schleim, der ihm zähflüssig über das Kinn läuft. Wieder schiebt er seine wundgescheuerte Wange entlang der Mauer, liebkost den spürbaren Hauch, der ab und zu aus einer kleinen Öffnung neben ihm durch die Steine tritt.
Er schwebt so fern jeglichem Überlebenswillen, sehnt sich nur noch nach dem Ende der Qual, nach dem Ende der langen Zeit. Wenn jetzt mein Geist nur aus mir träte, dieses Wrack zurückließe, denn es ist vorbei, es ist gut, ich lasse los, nur endlich Frieden, Erlösung. Er sucht das Gesicht seiner Frau, seiner Tochter, die er schon lange nicht mehr sah, erinnert sich schwach an dunkel gekleidete Männer mit Schutzhelmen und Gewehren, die durch ein Megaphon schrieen, er solle da weg, er solle sich beeilen. Er war doch nur nach Feierabend unterwegs gewesen, ein bisschen durch diese fremde Stadt geschlendert.
Sacht und weich lässt jeglicher Schmerz nach, ihm ist, als weiche er warm in den Hintergrund, als verblasse sein Körper. Kurz bevor er die Augen schließt, bricht ein gleißender Strahl durch die Steine, bohrt sich ohne Empfindung in den starren Blick. Dass da oben einer steht und ihm zuruft, dass hört er nicht. Jetzt nicht mehr. Das Licht ist ihm genug gewesen.

 

Hi Detlev,

eine interessantes Setting. Ich hätte mir gewünscht, das in der ersten Person zu lesen, in der Hoffnung, dass die Angst, die Hoffnung(slosigkeit), der Schmerz und der Wahn näher an mich rankommen.
Anfangs rätselte ich noch, ob es sich um ein Erdbeben oder eine Gasexplosion handelt; mit den Informationen fremde Stadt, Männer mit Gewehren und Megaphon wusste ich auch nichts Konkretes anzufangen - aber das empfinde ich in der Geschichte auch nicht als so wichtig.

Leider aber hatte ich kein Mitleid mit ihm, von dem ich nur aktuelle Qualen erfuhr und nur einen spröden Satz über Frau und Tochter. Zu wenig, um richtig mitzuleben oder hier besser: mitzusterben.

Lieber Gruß
bernadette

 

Hi bernadette

Danke für Deinen contribution.
eine interessantes Setting. ... ich schrieb in der Person, in der ich mächtig war. Wer nicht selbst als Monteur in Ländern/Städten unterwegs war/ist, in denen ein Bombenattentat die Erinnerung an Frau und Tochter in den Hintergrund sprengt, der lernt auch kein Mitleid beim mitzusterben. Mitdenken wäre vollkommen ausreichend.
Liebe Grüße
Detlev

 

Detlev, du kannst wirklich schreiben!
das ist die dritte Geschichte, die ich von dir lese und du weißt mit Sprache umzugehen.
Die Qual, die Beklemmung und die bittere Erlösung punktgenau beschrieben.

LG
Katinka

 

Hallo KatinkaH
Danke für Deine Worte, die mir natürlich ungemein den Rücken stärken. Ich gebe zu, dass es mich anspornt zu weiteren Stories.
Liebe Grüße
Detlev

 

Hallo Detlev,

an diesem Text habe nicht einmal ich sprachlich etwas zu meckern. Die Erlösung sehe ich nicht zwangsläufig so bitter wie KatinkaH.
Die Persepktive finde ich übrigens richtig. Eine Erzählung aus der ersten Person heraus birgt bei einem solchen Setting oft die Gefahr, es "zu selbtmitleidig" zu beschreiben. Der Abstand der dritten Person ist dagegen ein guter Schutz.
Auch trägt diese Wahl dem Umstand Rechnung, dass Terror in vielen Ländern zur Normalität des Alltags gehört, ein Umstand, der schon fast automatisch eine andere psychologische Dimension des Abstands schafft. Bedrohung, die immer da ist, reißt trotzdem Löcher, wenn das Attentat passiert. Gleichzeitig würde die Anwesenheit dieser alltäglichen akuten Bedrohung in unserem Land zu einer ganz anderen Hysterie führen.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo sim
danke für Dein Lob, die Anmerkung und das Statement. Vorhin sah ich einen Bericht über die Angst vor einem Attentat während der WM. Interessant, dass alle Sicherheitskräfte ihre Angst auf das Nicht-Einschätzen der Gefahren fokussieren. Ein-Mann-Deckung wird einstudiert wie paramilitärisches Vorgehen - der friedliche Fan als Einzelperson findet darin keinen Stellenwert. Ein Größenverhältnis überfordert uns offensichtlich, aber es muss bewältigt werden. Erstaunen meinerseits.
Was bleibt dem Prot nach erfolgreicher Verdrängung? Die Erkenntnis, dass Leben nicht beliebig dehnbar ist. Er ignorierte die Gefahr, in die er sich begab, indem er in dieses Land reiste. Seine Situation bleibt auch nach dem Attentat reine Nabelschau. Finde ich faszinierend.
Liebe Grüße
Detlev

 

So eine kurze Geschichte und dann alles drin!
Alle Achtung, du kannst mitreißend schreiben.

Bisschen was hab ich...

Detlev schrieb:
Sind es Stunden oder Tage, die er hier unten in den Trümmern liegt – [...] Was hat er getan, dass er jetzt hier eingeklemmt und verschüttet liegt.
Das sind beides Fragen. Ich hätte ein Fragezeichen erwartet.

Detlev schrieb:
und hemmungslos rann sein feuchter Stuhl an dem Bein hinab, dass offenbar noch funktionstüchtig war.
Wie?
Dein Prot liegt. Der Kot rinnt höchstens am Gesäß entlang.

Detlev schrieb:
bemitleidete seine Misere und fluchte traurig das Vater-Unser.
:thumbsup:

 

Hallo Schusterjunge
danke für Deinen Kommentar, für Deine Anregungen.
Muss immer ein Fragezeichen hinter einem Satz stehen, der wie eine Frage aufgebaut ist, aber eigentlich die Antwort schon beinhaltet? Ich sehe es eher als Anklage ... ohne Fragezeichen ist es druckvoller ... aber ich spüre dem mal hinterher und mache mich kundig.
Der Stuhl rinnt schon das Bein hinab - mit keinem Wort erwähne ich, dass er liegt - der arme Kerl ist eingeklemmt - stehend, hängend, verschüttet ... ein Bein leblos, ein Bein stehend ... Balken, Steine vor der Brust, ein Arm verklemmt, der andere taub ... nur der Kopf ist noch beweglich - tagelang ...
Danke. Liebe Grüße
Detlev

 

Hi Detlev,
wäre möglich, er hängt irgendwo.
Aber guck mal das erste Zitat, das ich erwähnt hab. 2x schreibst du, dass er liegt.

Aber egal. Waren für mich nur Kleinigkeiten, die der Geschichte nichts wegnehmen.

 

Au Backe, Schusterjunge
jo, da hast Du mich überführt. Geb ich zu, dass es irreführend oder eben nicht richtig ausgedrückt ist. Hab´s geändert, okay? Danke nochmal.
Grüße
Detlev

 
Zuletzt bearbeitet:

hallo Detlev

ja, es ist eine geile Geschichte. gut, sehr gut geschrieben und der Hintergrund wird klar, ohne das du ins Detail gehen musst.
Teilweise muss ich noch bernadette Recht geben, denn zur Person des Prots könnte mehr erzählt werden. so ist er noch nicht so recht individuel. allerdings ist es ja auch alltag, und du betonst ja auch, nur ein Opfer von vielen beschreiben zu wollen.
Die dritte Person finde ich schon gut gewählt. lässt sich gut lesen und ich konnte mich hineinversetzen.

besten Gruß

 

Bei dieser Geschichte von dir, Detlev, bin ich seltsam distanziert geblieben. Obwohl er sich in schrecklicher, ja auswegloser Lage befindet, bleibt der Prot kühl und analytisch, ja selbst wenn vom erst kürzlich Vergangenen gesprochen wird, klingt dies wie ein Bericht. Keine Spur von Panik, es gibt nur eine Bestandsaufnahme – das Wort verwendest auch du in der Geschichte.

Das heißt: Die Situation ist ganz genau beschrieben, aber es fehlt die Emotion, deswegen kommt keine Nähe auf. Und das hat nichts mit dem speziellen Ereignis zu tun – Verschüttete kann es bei vielen Gelegenheiten geben -, sondern allein mit der Art der Erzählung. Sie ist dank dritter Person neutral, da wird es schwieriger, Nähe zu erzeugen. Und ohne Nähe gibt es kein Mitleiden, ja nicht einmal Sympathie.

Sprachlich ist diese Geschichte – wie immer bei dir – auf hohem Niveau. Aber die Sprache ist nicht alles, im Leben zählen Emotionen. Und in den Geschichten auch.

Dion

 

... Der Schmerz in seinem Kopf will nicht enden ...
...schrie er den schmerzenden Wahnsinn in den kleinen Raum. Eine kleine Ewigkeit lang, bis die Stimme versagte und in einem Wimmern endete ...
Irgendwann in diesem Dämmern kroch am Rande seines Ichs ein schwarzer Schatten über seine Wahrnehmung. Panik trieb sein Herz zur unkontrollierten Raserei, Schweiß trat aus ...
Ich werde sterben, flüsterte er still in sich hinein, bemitleidete seine Misere ...
Er schwebt so fern jeglichem Überlebenswillen, sehnt sich nur noch nach dem Ende der Qual, nach dem Ende der langen Zeit. Wenn jetzt mein Geist nur aus mir träte, dieses Wrack zurückließe, denn es ist vorbei, es ist gut, ich lasse los, nur endlich Frieden, Erlösung. Er sucht das Gesicht seiner Frau, seiner Tochter, die er schon lange nicht mehr sah ...

Hallo Dion
die Story ist kurz - ich will die letzten Minuten beschreiben - nach all der Qual und dem Schmerz bleiben, ja, was bleibt da? Wenn ich schreibe - schrie er den schmerzenden Wahnsinn - dann ist das für mich sehr viel Gefühl. Hätte ich in der ersten Person geschrieben, wäre ich aus dem Jammern nicht mehr herausgekommen und genau das wollte ich nicht - ich denke, dass am Ende einer unvorstellbaren Qual, am Ende aller Hoffnung und Kräfte die Resignation, die nüchterne Erkenntnis übrig bleiben, die Sehnsucht nach Erlösung, nach dem Seelenfrieden. Und - ich denke, dass nicht immer Emotionen beschrieben werden müssen, um Emotionen auszulösen.
Trotzdem danke ich Dir für Deine Worte, Deine Stellungsnahme, Deine Meinung. Vielleicht konnte ich ein wenig Deine Ansicht färben und Dein Urteil fällt nicht ganz so hart aus.
Liebe Grüße
Detlev

 

Ich weiß auch nicht, wie man Emotionen erzeugt, Detlev, aber Wörter und Formulierungen wie „schmerzender Wahnsinn“ oder auch „unkontrollierte Raserei“ sind dazu weniger geeignet, fürchte ich. So erzeugt man keine Gefühle, so beschreibt man sie bloß - im Nachhinein.

Okay, du wolltest nur die letzten Minuten beschreiben, das heißt die Phase der Resignation, in der der Prot die ganzen Qualen schon hinter sich hat, nur noch auf den Tod wartet. Er rekapituliert die Ereignisse, erinnert sich der Schmerzen, aber im Grunde interessiert ihn das nicht mehr, er hat damit abgeschlossen.

Und so geht es auch mir als Leser: Mich interessieren seine gehabten Schmerzen nicht, mir ist es egal, was der Prot alles erleiden mußte – weil es auch ihm egal ist. Insofern ist das zwar schon eine Art der Identifikation mit dem Prot, aber das ist sicher nicht das, was du erreichen wolltest. Oder doch?

Dion

 

Wie langweilig muss sich dieser Kommentar nur für dich lesen :sleep:
Noch einer dieser hingerissenen Leser ohne konstruktive Vorschläge.
Und jetzt kommt auch noch dieser dämliche Smily: :thumbsup:

Nein, im Ernst,:D deine Kg hat mich echt total ergriffen.
Weiß nicht mehr zu sagen, als dass ich deinen Schreibstil für vollkommen ausgereift halte...

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo Weltenläufer
... schreib nicht sowas! Ich freue mich über jede Reaktion, jeden Kommentar.
Wenn Du schreibst, dass es Dich total ergriffen hat, zeigt es mir, dass ich doch den Ton traf, Dich also ansprach. Es gibt Leser, die sind anderer Meinung und daran erkenne ich doch, wie unterschiedlich Stories gefallen können. Im Stil, in der Aussage, in der Wortwahl. Und je mehr Zuspruch ich erhalte, um so klarer wird mir doch, dass ich nicht ganz mit meiner Schreibe neben der Kappe liege. Also danke für Deine Worte. Hab mich gefreut.
Liebe Grüße
Detlev

 

... schreib nicht sowas! Ich freue mich über jede Reaktion, jeden Kommentar

öh, ich hoffe, du hast diesen leicht ironischen Tonfall aus meiner Bemerkung rausgehört? *hoff*
War mir schon klar, dass dich die Meldung nicht langweilen würde. Selbst das hundertste Lob freut einen aufs neue. Kenn das ja. Wir armen Schreiberlinge hungern doch nur so nach Streicheleinheiten :D (achtung: hier wieder leichte humor-würzung)

Tacheless: Fand deine Geschichte super!

grüßlichst
weltenläufer

 

hallo detlev,

ich geselle mich zu denen, die begeistert sind von deiner geschichte.
du beschreibst ein drama ohne dramatisch zu werden, das ist gekonnt!!!
hatte eigentlich ein erdbebenszenario vor augen, lag da wohl falsch. öhöm die männer mit gewehren hätten mich wohl in die richtige richtung lenken müssen.

naja, ich fands jedenfalls richtig gut!

beste grüße
krilliam Bolderson

 

Hi Krillian Bolderson
das freut mich sehr - dankeschön. Ein Drama ohne dramatisch zu werden - öhhöm, na gut - wenn das gekonnt ist!
Ich kann es nur wiederhohlen - ich denke, dass am Ende allen Elends, aller Schmerzen, aller Hoffnung nur noch Ruhe bleibt; Ruhe, um die letzte Hürde hinüber zu nehmen und ich denke, dieser Vorgang ist nicht mehr dramatisch, sondern sehr, sehr intim.
Liebe Grüße
Detlev

 

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