Eine letzte Reise
Eine Ratte huschte über die steinernen Fliesen. Die Dunkelheit, in der sie sich bewegte war vollkommen, doch das hinderte die Ratte nicht im Geringsten. Sie konnte alles um sich herum wahrnehmen. Ihre Schnurrhaare gaben ihr ein sehr genaues Bild ihrer Umgebung.
Sie befand sich in einem langen, aus Stein gebauten Gang. Die dreckigen Abwässer der Kanalisation zogen träge an ihr vorbei. Das Wasser war so verschmutzt, dass es sich bewegte wie Gelatine. Stalaktiten aus undefinierbaren Materialien hingen von den Rohren über ihrem Kopf herab. Ein lautes Rauschen erzeugte einen unheimlichen, dumpfen Klang in den Kanälen unter der Stadt. Die Quelle dieses Geräusches war viele hundert Meter entfernt, doch die Tunnel verstärkten den Klang und verwandelten ihn in etwas Schreckliches, dass an die Schreie von Gespenstern erinnerte. Hinzu kam ein stetiges Tropfen, dass aus allen Richtungen auf die Ratte hernieder zuschallen schien. Wieder und wieder machte es leise Pling, Pling, Pling, so dass ein Mensch das Gefühl gehabt hätte, in irgend einer dunklen Ecke würde jemand mit einem Xylophon spielen, ohne mehr als eine Tonart zu beherrschen.
Die Ratte dachte dagegen nicht viel über diesen Ort nach. Er war ihr Zuhause, der Ort an dem sie gezeugt, geboren und aufgewachsen war. Hier hatte sie alles über das Leben und seine Hindernisse gelernt und hier lebte auch ihre Familie; eine sehr große Familie.
In diesem Augenblick hatte sie ein ganz bestimmtes Ziel. Ein neuer Gang war ihr zu Ohren gekommen, der zu einer Quelle unvorstellbarer Kostbarkeiten führen sollte. Nicht, dass die Ratte in der Kanalisation schlecht gelebt hätte. Es gab im Grunde alles im Überfluss. Natürliche Neugier trieb sie dennoch zu jenem sagenumwobenen Ort.
Sie bog um eine Ecke und auf dem Radar ihrer Schnurrhaare konnte sie schon das Rohr erkenne, dass sie nach oben bringen sollte. Zwischen ihr und dieser Abzweigung lagen zahlreiche Kieselsteine, die in ihre dünnen Beine stachen und ihre rosafarbene Haut verletzten. Sie versuchte ein leises Quieken zu unterdrücken und passierte das Hindernis mehr oder weniger elegant.
Das Rohr führte in einem 45 Gradwinkel nach oben. Seine Wände waren glatt und von einer schleimigen Schicht bedeckt, so dass das graue Fell der Ratte schnell vollkommen durchnässt und mit zahlreichen dicken Klumpen verschmiert war, doch sie rannte weiter. Ihr Instinkt sagte ihr, dass es nicht mehr weit sein konnte, ihr Magen sagte ihr, sie solle sich schneller bewegen und ihr Verstand... Nun, der hatte sich für diesen Moment abgeschaltet.
Es folgten noch einige weitere Abzweigungen, bis sie ihr Ziel endlich erreicht hatte. Vor ihr lag nun die schwierigste Barriere: die senkrecht Leitung einer Toilettenspülung. Vorsichtig, und mit Hilfe ihrer Krallen arbeitete sie sich Zentimeter für Zentimeter nach oben, immer penibel darauf bedacht, nicht abzurutschen. Ihre kleinen Klauen hinterließen dabei schmale Risse in der Plastikwand der Röhre.
Plötzlich sah sie etwas. Nicht mit den Schnurrhaaren, sondern mit den Augen. Es war nur sehr dunkel und wage, doch sie war sich sicher, dass es sich um Licht handelte, das da auf ihre Netzhaut fiel. Sie hatte es also bald geschafft. Und der Klodeckel stand offen, was bedeutete, dass sie sich nicht mit ihrer ganzen Kraft gegen ihn stemmen musste. Vor Freude über diese Erkenntnis hätte das Tier fast seinen Halt verloren. Ein kurzer Moment des Schwindels durchzog erst ihren Kopf und dann ihre Gliedmaßen. Sie kniff die Augen zusammen und atmete tief durch, bevor sie ihren Weg etwas vorsichtiger als zuvor fortsetzte.
Das Bad wurde durch ein kleines Fenster erhellt, das dem Mond freien Blick ins Innere des Hauses gönnte. Trotzdem war es recht dunkel in diesem Raum. Es gab nicht viel zu entdecken, abgesehen von weißen Fliesen und dem sonstigen Krimskrams den die Kreaturen benötigten, die diesen Ort bewohnten.
Die Ratte sprang vom Rand der Kloschüssel, schlüpfte durch den engen Schlitz unter der Tür und fand sich um Flur wieder. Hier war es schon heller, da aus einem der Zimmer (wohl aus dem größten von allen) ein gelbes Licht fiel, so das die Möbel riesige Schatten warfen.
Erneut spürte die Ratte wie ihr schwindlig wurde. Sie sank auf ihre vier Pfoten und versuchte krampfhaft gegen die zunehmende Benommenheit anzukämpfen.
Das wäre ihr fast zum Verhängnis geworden. Etwas großes, schweres kam aus dem erhellten Zimmer angeflogen und hielt genau auf die Ratte zu. Im letzten Moment verging das Schwindelgefühl und sie bemerkte das nahende Unheil. Wären ihre Reaktionen nicht schneller gewesen als ihre Denkprozesse, hätte die Ratte sicher eine Sekunde später nur noch als roter Fleck auf dem bunten Teppich existiert. So gelang ihr im letzten Moment der Sprung nach links.
Der Teller schlug laut scheppernd auf dem Boden auf und zersprang in tausend Teile. Einige davon flogen der Ratte wie spitze Geschosse um die Ohren, so dass sie sich erneut ducken musste.
Vorsichtig lugte sie hinter der Kommode hervor und versuchte die Quelle des fliegenden Tellers zu erkennen. Aus dem Raum, in dem das Licht brannte, konnte sie laute Schreie hören. Zwei der Kreaturen dieses Hauses wanderten immer wieder an der Tür vorbei. Die Ratte hatte von ihnen gehört und von ihrer Boshaftigkeit, doch sie hatte noch nie welche gesehen. Die Gesichter der beiden Wesen waren knallrot, ihre Münder waren weit geöffnet und sie schienen beide eine ganze Menge Speichel bei der Aktivität zu verlieren, mit der sie sich beschäftigten.
Die Ratte verschwendete einen Augenblick daran, über das nachzudenken, was die beiden da wohl taten. Ihr war zu Ohren gekommen, dass einige Tiere ein höchst eigenwilliges Brunftverhalten hatten, doch das kam hier wohl kaum in Frage. So merkwürdig es auch sein sollte, die Ratte konnte sich einfach nicht vorstellen, dass irgend ein Tier der Erde bei der Paarung Teller zum Fliegen brachte. Woher kam diese Aggression dann? In ihrem ganzen Leben hatte sie noch keine Tiere gesehen, die sich ohne tieferen Grund anbrüllten und die Zähne fletschten.
Vielleicht konnte sie den Grund aber auch einfach nicht erkennen. Sie hatte keine Lust noch mehr Zeit auf diese Kreaturen zu verschwenden. Das Schwindelgefühl hatte zugenommen und ein tiefer Schmerz in der Bauchgegend hatte sich zu ihm gesellt.
Sie schnupperte und witterte den Duft von Nahrung. Ausgesprochen wohlduftender Nahrung obendrein. Es roch nach Früchten und nach Süßem. Noch nie hatte sie derartige Sachen zwischen die Zähne bekommen. Blitzschnell huschte sie über den Teppich und kam in den Raum, den wir Küche nennen. Vor ihren Füßen erhob sich ein riesiger, hölzerner Tisch. Sie sah eine runde Schale, gefüllt mit den wunderlichsten Dingen. Dort gab es Weintrauben, Bananen, Äpfel, Mandarinen, Pfirsiche, ...
Sie zuckte zusammen, als ein brennender Stich hinter ihrer Stirn sie ablenkte. Ihre Beine zitterten und sie versuchte sie unter Kontrolle zu bringen, doch es gelang ihr nicht. Und noch etwas: Der Speichel, von dem sie gedacht hatte, dass er sich in ihrem Mund gesammelt hatte, um all die süßen Leckereien zu begrüßen, wahr in Wahrheit weißer Schaum, den sie nicht mehr kontrollieren konnte und der immer weiter aus ihrem Rachen tropfte. Sie fiel auf die Seite. Ein neues Aufrichten war unmöglich, obwohl sie es immer wieder versuchte. Ihre Beine begannen noch mehr zu zucken, der Schmerz in ihrem Bauch schwoll an und der Schaum begann ihrer Nase zu verstopfen.
Ihr Blick schweifte zu den leckeren Früchten, die in unerreichbarer Höhe über ihr standen, während die Welt um sie herum mehr und mehr verschwamm und zunehmend an Farbe verlor. Das Letzte, das sie in diesem Moment erkannte war, dass sie vergiftet worden war. Die Kieselsteine, in der Kanalisation. Man hatte sie umgebracht. Doch warum?
Ein letztes Mal zuckten ihre Glieder. Dann blieb sie reglos liegen. Der Schaum vermischte sich mit Blut und nahm eine rosa Farbe an.
Als sie ein paar Stunde später von einer der Kreaturen gefunden wurde, die diesen Ort bewohnten, begann diese laut zu schreien.