Eine Lichtung im Wald
Bei Nacht scheint die Sonne so diskret. So schamhaft und versteckt. Sie scheint für die Diskreten, die Schamhaften, die das Werk ihrer Hände verborgen halten. Doch sie ist nicht ihr Freund. Licht bleibt Licht. So offenbart sie jeden Morgen das Schamhafte, das Versteckte und Diskrete im Licht der Nacht.
Ein kühler Abend. Die Tannenbäume stehen ungestört und militärisch. Ihre Disziplin bildet den Naidlingwald, eine Zuflucht für die Bürger der an Wachstumsschmerzen leidenden, Stadt Pfullendorf. Ihre Ungestörtheit verkörpert die Natur, welche heutzutage doch eher unnatürlich wirkt aus unserer zielstrebigen Dorf-Stadt-Perspektive.
Eine weitere Anomalie bildet das heutige Ereignis, welches sich unter den wachsamen Augen unserer grünen Soldaten zuträgt. Denn wo Stille herrscht, ist jede Bewegung eine Rebellion gegen den natürlichen Zustand. Das Flackern des Feuers, die nassen Schritte, die wundersamen Blicke und Kopfbewegungen von Tieren und Menschen, das Brodeln des Kessels. Salzstreuer, Pfeffermühlen, das Eintauchen der Bouillons, gehackter Ingwer, Lauch und zuletzt die Karotten, damit sie nicht zu weich werden. All das rückt jedoch in den Hintergrund, wenn die schrille Stimme dieses kleinen Mädchens ertönt, wie ein Speer, der sich durch die Phalanx bohrt.
Ja, dieses kleine Mädchen scheint auf den ersten Blick doch sehr fehl am Platz hier im dunklen Wald. Das Licht der Nacht und das Licht des Feuers offenbaren sie. Ihr goldenes Haar ist zu einem festen Zopf gebunden. Eine kleine Stupsnase teilt ihr symmetrisches Gesicht. Rote Wangen, weil es ihr fröstelt. Große, hellbraune Augen, die sie zusammenkneift, um dem Rauch zu widerstehen. Sie wäre eine kleine Schönheit, wenn da nicht ihr Mund wäre. Diese dünnen, trockenen, aufgerissenen Lippen passen auf das Gesicht einer sechzigjährigen Schuldirektorin. Befehlend, fordernd, diktierend und mahnend. Ja, ein so junges Mädchen scheint vielleicht überall fehl am Platz. Doch in dieser Stunde und an diesem Ort und in unserer Welt passt ein so paradoxes Geschöpf wie die Faust aufs Auge.
Sie ruft: „Beeilt euch jetzt mit den Karotten! Die Tiere haben Angst vor den Messern, deswegen konnte ich noch kein einziges Kaninchen sehn, auch kein Fuchs, auch kein Reh und das nur dank eurer Faulheit!”
„Aber Herrin Lisa”, antwortet einer der drei Köche errötend, „Sie befahlen uns, leise und langsam zu schneiden, damit wir die Tiere nicht aufwecken.”
„Das war dann, und jetzt ist jetzt, und jetzt macht schnell. Es ist bald soweit.”
Lisa blickt behutsam nach rechts. Zwischen zwei Bäumen steht wie angewurzelt ein Mann von etwa 2,15 Metern. Kaum erkennbar durch seine Entfernung zum Licht, seiner grünen Camouflage-Hose und der völligen Reglosigkeit, mit der er dieses “Ding” bewachte. Die kleine Herrin schreitet sachte, aber entschlossen zu diesem Goliath, beugt sich hinab, hält den Atem und... hört. Ein...und...Aus.
„Nicht mehr lange”, fängt Lisa plötzlich an zu singen,
Nicht mehr lange,
glüht das Feuer,
scheint die Sonne,
brennt der Motor,
springt der Funke,
Nicht mehr lange,
zündet die Fackel,
lodert die Glut,
flackert die Kerze,
glimmt die Kohle,
Nicht mehr lange,
kocht das Wasser,
zieht der Rauch,
dreht das Rad,
zischt der Tropfen,
Denn...
Denn Wut ist unser Antriebsstoff
Köche mitsingend: Denn Wut ist unser Antriebsstoff
Wut ist unser Antriebsstoff
Die Herrin macht ein Rad. Die Köche drehen sich Hand in Hand um den Kessel, und auch der riesige Soldat nickt mit dem Kopf. Die gute Stimmung in der Luft wird plötzlich durch das entfernte Läuten der Kirchenglocken unterbrochen.
Lisa versinkt in Gedanken. Gedanken über ihre Zeit auf dem Weihnachtsmarkt, an den Händen ihrer Eltern fest und sicher. Fest und sicher an Liebe gefesselt. Sie schüttelt die Kälte und die Erinnerungen ab.
„Ihr könnt anfangen", spricht die Herrin.
Die, aus der Ekstase tretenden Köche nehmen dieses "Ding" vor den Füßen des Riesen. Einer nimmt die Beine, der andere die Arme, der dritte beobachtet konzentriert, um beschäftigt auszusehen. Sie bringen es zum Kessel, und lassen es sachte in die Suppe einsinken.
Es zuckt und schreit, dreht und wendet, greift den brennenden Kessel, lässt los, weint und stirbt.
Die Herrin steht mit geraden Schultern, der Blick auf die Suppe gerichtet und die Hände auf den Hüften stützend. Die weißen Schürzen der Köche färben sich durch das Licht des Feuers orange. Der Riese verabschiedet sich bei seinen stummgewordenen Komplizen und verschwindet in den Armen des Waldes. Eine Stunde später verabschiedet sich auch langsam die Flamme. In der Zwischenzeit wurden Utensilien gereinigt und die übrig gebliebenen Zutaten in einer Holzkiste verstaut.
„Herrin, was machen wir mit dem Kessel?"
„Wir lassen ihn hier. Das Weichei ist schon gegangen, und außerdem ist er noch zu heiß. Morgen ist Montag, ich bin müde, fahrt mich jetzt nach Hause."
Die Türen des Transporters schlagen zu, und das Brummen des Motors verschwindet, als würde er langsam von der Dunkelheit gefressen werden. Letztendlich ist es wieder ein kühler Abend. Die Tannenbäume stehen ungestört und militärisch. Ja, vielleicht war es keine Anomalie, die sich heute zugetragen hat. Immerhin frisst die Erde Blut seit dem Tod Abels. Vielleicht war die köstliche Zubereitung dieses Opfers die eigentliche Abweichung vom Normalzustand. Es hat jedoch kaum Sinn, sich darüber auszulassen. Wenn der Mond Augen und Ohren hätte, so hätten unsere Akteure gut daran getan, sich für diese verstörende Szene zu entschuldigen. Das ist aber nur meine Meinung. Sein kaltes, silbernes Licht fällt, wie gewohnt, auf die raschelnden Blätter, auf den Pfad der Füchse und den Kessel, der mittlerweile nicht mehr brannte. Das Echo der Schreie wurde längst von der einkehrenden Stille übertönt. Nach und nach verabschiedet sich auch dieser leuchtende Fels mit einer neuen Geschichte für seinen großen Bruder. Der schattige Vorhang schließt sich über den Naidlingwald.