Eine Nacht am Meer
Das Meer war in der Dunkelheit nur schwer zu erkennen. Leise hörte man in der Ferne die Wellen an die steinige Küste rollen. Roman Saltora stand auf der Terrasse der kleinen Penthouse Wohnung in dem abgelegenen schwedischen Fischerdörfchens und starrte auf das, was sich vor seinen Augen an dem dünnen Küstenstreifen abspielte. Er war erst seit ein paar Tagen in dem Ort, um sich auszuruhen und wieder zu sich zu kommen, wie ihm sein Manager empfohlen hatte. Nach der Entziehungskur in einer Klinik voller ähnlich solventer, versoffener und halbwegs berühmter Klienten hatte sein Arzt ihm zu einer Auszeit geraten.
Roman Saltoras Schwester Gulia hatte vor drei Jahren einen Schweden geheiratet und lebte seitdem als Innenarchitektin in dem Dorf am Meer, das sich genug von dem Charme und Authentizität vergangener Tage bewahrt hatte, um als beliebter Anziehungspunkt für schwedische Prominenz und einige versprengte Intellektuelle zu gelten. Im Gegensatz zu Los Angeles, London oder New York erschien es Roman Saltoras Manager als die ideale Bastion für Roman, die letzten Tage vor dem kommenden Dreh zu verbringen. Ruhig, jedoch nicht langweilig, verträumt, aber nicht weltfremd, so präsentierte sich das Fischerdorf seinen Gästen. Als Roman Saltora auf der Terrasse der Wohnung eines von Guilas Musiker-Freunden stand, dachte er ernsthaft darüber nach, wie er von seinem striktem Vorhaben, dem Alkohol zu entsagen und sich voll und ganz auf die bevorstehenden Dreharbeiten zu konzentrieren, so schnell und von ihm fast gänzlich unbemerkt abgekommen war.
Geradezu gleitend und schwerelos geschah der Rückfall in alte Muster, die er doch so unbedingt hinter sich lassen wollte. Mit dem Blick auf das friedlich rauschende Meer forschte er nach den Gründen, die zu seinem neuerlichen Kontrollverlust geführt hatten. Er betrachtete die Flasche schwedisches Bier in seiner Hand und rekapitulierte den bisherigen Verlauf des Abends: Abendessen mit Gulia und ihrem Mann Sören, Diskussion über Sinn und Unsinn von Roman Saltoras Teilnahme an der Release-Feier des Musiker-Freundes, die in angeblich kleinem Rahmen stattfinden sollte, Einverständniserklärung von Gulia zur Teilnahme unter der Bedingung, stets in ihrer Nähe zu bleiben und den Verlockungen des Alkohols mit eisernem Willen zu widerstehen und schließlich Ankunft in der kleinen, aber stilvollen Mietwohnung des Musikers. An irgendeinem entscheidendem Punkt musste sein eiserner Wille gebrochen und seine guten Vorsätze ihre Bedeutung verloren haben. Vermutlich in dem Moment, als Gulia verkündete, für einen kurzen Moment ein dringendes Telefongespräch vor der Tür führen zu wollen. Kurz darauf hielt Roman Saltora seinen ersten Wodka seit mehreren Monaten in der Hand, dem in schneller Reihe weitere folgen sollten.
Draußen auf der geräumigen Terrasse hörte er Placebos "Every You Every Me" aus dem Inneren der Wohnung schallen. Um ihn herum schlängelten sich Körper an- und umeinander, machten verschwommene Augen Blickkontakt und tauschten seltsam verzogene Münder scheinbar in Zeitlupe Nichtigkeiten aus. Roman Saltora dachte daran, wie ähnlich sich die schwedische Provinz und Hollywood doch waren. Er drehte der wogenden Meute seinen Rücken zu und starrte wieder Richtung Meer.
Obwohl sein Alkoholpegel wie in alten Zeiten messbar in die Höhe schnellte und seine sinnliche Wahrnehmung nur noch langsam und durch einen dichter werdenden Schleier funktionierte, war er sich sicher, dass er auf dem schmalen Bootssteg unten an der Küste Bewegungen gesehen hatte. Der Steg verlief in L-Form und machte nach einem längeren geraden Stück einen Knick nach links, so dass dieses letzte Stück über dem dunklen Wasser ragte. Der Steg war gesäumt von drei schwach leuchtenden Lampen, die nur wenig Licht spendeten. Zwei kleinere Boote lagen dort vor Anker, soviel er konnte er problemlos erkennen. Die zwei Besitzer schienen gerade eine heftige Diskussion zu führen. Roman Saltora machte zwei Männer aus, die sich mit ausladender Gestik stritten. Wie ein Torrero seinen Stier umkreiste der eine den anderen, bis dieser fast bis an die Kante des Stegs zurückweichen musste, um den gehobenen Fäusten des anderen zu entkommen. Ihr Gebaren glich einem aggressiven Tanz, den keiner vorzeitig verloren geben wollte. Mit ihrer ganz in schwarz gehaltenen Kleidung und den tief ins Gesicht gezogenen Baseball-Caps sahen sie zwar nicht nach typischen schwedischen Bootsurlaubern aus, aber was wusste Roman Saltora schon davon? Seine Welt war die alkohol- und drogeninduzierte, geile, geldgierige Welt Hollywoods, in die er in wenigen Tagen für seinen nächsten Film zurückkehren sollte.
Bevor er sich von dem Spektakel vor seinen Augen abwandte, um sich ein weiteres Glas Wodka zu genehmigen - wer weiß, wann Gulia wieder auftaucht?, dachte Roman Saltora bei sich - sah er, wie sich die erhitzten Gemüter scheinbar beruhigt hatten und die zwei Männer nacheinander auf das Boot stiegen und unter Deck gingen. Mit der Verabschiedung der beiden Protagonisten gab auch Roman Saltora seinen Beobachtungsposten auf der Terrasse auf und drängte sich durch die Menge zurück in die warme Umarmung eines kühlen Wodkas.
Am nächsten Morgen klingelte Roman Saltora an Gulias Haustür. Ihren Zweitschlüssel, den sie ihm für seinen Aufenthalt gegeben hatte, musste er auf der Party verloren haben. Vielleicht aber auch auf dem Weg zu der Wohnung der jungen Kunststudentin, die es ihm in den letzten Stunden der Nacht leicht machte, die Sünden des Abends zu vergessen und Absolution in ihren Armen zu finden. Gulias Mann Sören öffnete nach kurzem Klingeln stürmisch die Tür: "Wo warst du die ganze Nacht? Und wo ist Gulia?". Roman Saltora kniff die Augen zusammen und versuchte durch die einsetzenden Kopfschmerzen hindurch adäquate Antworten auf diese Fragen zu finden: "Auf der Party. Im Bett?". "Genau da war und ist sie eben nicht. Ich dachte, sie wäre mit dir unterwegs oder hätte bei Hakan übernachtet. Ich rufe jetzt die Polizei", gab Sören zurück. Roman Saltora folgte ihm auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer, wo Sören schon dabei war, einem Polizeibeamten am Telefon das Verschwinden seiner Frau zu schildern.
Die Polizei fand später heraus, dass Gulia für ihr Telefongespräch bis vor die Haustür gegangen sein musste. Vermutlich war der Empfang ihres Handys schlecht oder der Lärm aus der Wohnung machte es ihr unmöglich, zu telefonieren. Auf der Straße sprach sie ein Mann aus einem Wagen heraus an und bat sie um Hilfe bei der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Sein Komplize überrumpelte sie und gemeinsam schafften sie es, Gulia in den Kofferraum zu sperren. Sie fuhren dann mit ihr an den Bootssteg, versiegelte ihr den Mund mit Klebeband und führten sie auf ihr Boot, wo sie sie mehrfach vergewaltigten. Nach einem kurzen Disput, was mit ihr nun zu tun sei, fuhren sie mit ihr aufs offene Meer und versenkten sie geknebelt im Wasser. Drei Wochen, nachdem man die Täter mit Hilfe eines DNA Vergleichs gefasst hatte, fand man Gulias Leiche, aufgeschwemmt und verstümmelt.
Roman Saltora befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits wieder in Behandlung, diesmal nicht nur wegen seiner wiederkehrenden Alkoholsucht, sondern auch wegen schweren Depressionen. Taumelnd vor Selbstvorwürfen und Verachtung für seine eigene Schwäche betäubte er seinen Selbsthass in immer mehr Alkohol. Die Traumfabrik gab ihn dank seiner immer heftiger werdenen Exzesse vorerst frei. Losgelöst von allen Verpflichtungen kannte er keine Grenzen mehr, bis er sich eines Tages in einer Gruppe psychisch kranker Patienten wiederfand, die wie er die Traumata ihres Lebens zu begreifen versuchten.