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Eine Schachfigur für Papa
Es ist Sonntagvormittag. Martin räumt gerade sein Zimmer auf. Es ist ein großes Zimmer – mit viel Spielzeug -, und es gibt viel aufzuräumen: Die Duplo-Steine gehören in eine Kiste, die Plastiktiere in eine andere. Die Cassetten müssen in das Regal an der Wand, die Autos in den Karton unter dem Bett.
Im Moment liegt alles noch wild durcheinander auf dem Fußboden. Dabei hat Martin schon vor mindestens fünf Minuten mit dem Aufräumen angefangen. Wenn man aufräumen muß, sind fünf Minuten eine lange Zeit, findet Martin.
Er räumt überhaupt nur auf, weil Mama es will. Eigentlich hat er gar keine Lust. Seit Papa nicht mehr da ist, hat Martin zu gar nichts mehr Lust. Und er ist immerzu traurig.
Mama ist auch traurig. Martin merkt das. Dabei haben Mama und Papa sich ganz oft gestritten. Wegen der vielen Streiterei ist Papa vor einem Monat ausgezogen und wohnt jetzt woanders. Nur am Wochenende hat er Zeit für Martin. Mama und Papa sagen, das ist besser als das ewige Streiten.
Aber das stimmt nicht.
Martin wirft einen Blick auf die Cassette in seiner Hand. Lesen kann er noch nicht. Aber an dem Bild erkennt er, daß es eine Märchencassette ist, und er legt sie an ihren Platz im Regal.
Dann wühlt er wieder in dem großen Haufen auf dem Fußboden. Und plötzlich hat er eine Schachfigur in der Hand. Sie ist aus hellem Holz und ganz groß, mit einem Kreuz auf der Spitze. Der weiße König von Papas Schachspiel.
Papa hat oft mit Martin Schach gespielt. Martin hat immer gewonnen, obwohl er Mühe hatte, sich die vielen Regeln zu merken.
Jetzt kann Papa nicht mehr spielen, weil er den König bei Martin vergessen hat.
Auf einmal ist es ganz wichtig, daß Martin zu Papa fährt und ihm die Figur bringt.
Leise geht er in den Flur und zieht seine Schuhe an. Die mit dem Klettverschluß, damit Mama nicht helfen muß. Sie macht gerade das Essen und würde jetzt bestimmt nicht erlauben, daß Martin rausgeht. Und hinterher geht es auch nicht; da wollen sie Opa im Krankenhaus besuchen.
Schon zieht Martin leise die Tür hinter sich zu und hüpft die Treppen hinunter. Jetzt ist er fast wieder fröhlich.
Bis zum U-Bahnhof ist es nicht weit. Martin weiß, daß er vier Stationen weit fahren muß. Er wird einfach mitzählen.
An der ersten Station steigt eine Frau mit einem kleinen Hund ein. Der Hund ist schrecklich niedlich. Er schnüffelt an Martins Füßen, und Martin darf ihn streicheln.
Da hält der Zug wieder, und die Türen gehen auf. Martin erschrickt. Der Hund war so süß, daß er glatt vergessen hat, die Stationen zu zählen. Und die Bahnhöfe sehen alle gleich aus. Soll er hier aussteigen?
Ehe er sich entscheiden kann, fährt die Bahn schon weiter.
Am nächsten Bahnhof steigt Martin aus und geht die Treppen hinauf. Es ist der falsche Bahnhof. Hier kennt Martin sich nicht aus.
Er geht die Straße entlang, aber nichts kommt ihm bekannt vor. Auch nicht, als er an der nächsten Kreuzung abbiegt. Er sucht eine Weile nach Papas Straße, dann will er umkehren und eine Station weiter fahren. Doch jetzt findet er auch nicht mehr zum Bahnhof zurück. Er hat sich verlaufen.
Mama wartet bestimmt schon mit dem Essen. Martin merkt, daß er sehr hungrig ist. Und er merkt, daß er angefangen hat zu weinen.
Als ihn eine fremde Frau anspricht, bekommt er noch mehr Angst und läuft weg. Die Schachfigur hält er ganz fest in der Hand.
Martin läuft weiter, bis er an einem kleinen Park vorbeikommt. Verblüfft bleibt er stehen und betrachtet den großen Bären aus Stein, der am Eingang zum Park steht. Darauf ist er schon ein paar Mal herumgeklettert. Auf der anderen Seite des Parks liegt die Straße, in der Papa jetzt wohnt!
Ganz erschöpft kommt Martin endlich bei Papa an. Der telefoniert gleich mit Mama, die sich schon Sorgen gemacht hat. Dann bringt er Martin nach Hause.
Zu Hause erzählt Martin, warum er zu Papa wollte. Er gibt ihm den König, den er bis jetzt in der Hand gehalten hat.
Mama fängt an zu weinen. Papa nimmt sie in den Arm und tröstet sie.
Dann reden die beiden ganz lange miteinander. Zwischendurch gucken sie oft ins Kinderzimmer zu Martin.
Papa bleibt zum Essen. Danach gehen alle drei noch spazieren. Genau wie früher. Einmal, als Martin aufsieht, hat Papa den Arm um Mamas Schultern gelegt.
Den Besuch bei Opa verschieben sie auf den nächsten Tag. Papa fährt erst wieder nach Hause, als Martin schon schläft.
In den nächsten Wochen kommt Papa viel öfter vorbei. Und zwei Monate später zieht er wieder bei Mama und Martin ein.
Es ist noch mal ein Versuch, sagen Mama und Papa.
Es ist für immer, hofft Martin. Und er glaubt ganz fest daran, damit es wahr wird.
Mama und Papa streiten sich immer noch ab und zu. Aber das ist nicht so schlimm. Hauptsache, alle sind wieder eine Familie. Mama, Papa und Martin – und der weiße König, der auf einem Ehrenplatz über dem Fernseher steht.
Wenn Martin ihn nicht gerade braucht, um Papa im Schach zu besiegen.