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Eine Schachfigur für Papa

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22.12.2002
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Eine Schachfigur für Papa

Es ist Sonntagvormittag. Martin räumt gerade sein Zimmer auf. Es ist ein großes Zimmer – mit viel Spielzeug -, und es gibt viel aufzuräumen: Die Duplo-Steine gehören in eine Kiste, die Plastiktiere in eine andere. Die Cassetten müssen in das Regal an der Wand, die Autos in den Karton unter dem Bett.
Im Moment liegt alles noch wild durcheinander auf dem Fußboden. Dabei hat Martin schon vor mindestens fünf Minuten mit dem Aufräumen angefangen. Wenn man aufräumen muß, sind fünf Minuten eine lange Zeit, findet Martin.
Er räumt überhaupt nur auf, weil Mama es will. Eigentlich hat er gar keine Lust. Seit Papa nicht mehr da ist, hat Martin zu gar nichts mehr Lust. Und er ist immerzu traurig.
Mama ist auch traurig. Martin merkt das. Dabei haben Mama und Papa sich ganz oft gestritten. Wegen der vielen Streiterei ist Papa vor einem Monat ausgezogen und wohnt jetzt woanders. Nur am Wochenende hat er Zeit für Martin. Mama und Papa sagen, das ist besser als das ewige Streiten.
Aber das stimmt nicht.
Martin wirft einen Blick auf die Cassette in seiner Hand. Lesen kann er noch nicht. Aber an dem Bild erkennt er, daß es eine Märchencassette ist, und er legt sie an ihren Platz im Regal.
Dann wühlt er wieder in dem großen Haufen auf dem Fußboden. Und plötzlich hat er eine Schachfigur in der Hand. Sie ist aus hellem Holz und ganz groß, mit einem Kreuz auf der Spitze. Der weiße König von Papas Schachspiel.
Papa hat oft mit Martin Schach gespielt. Martin hat immer gewonnen, obwohl er Mühe hatte, sich die vielen Regeln zu merken.
Jetzt kann Papa nicht mehr spielen, weil er den König bei Martin vergessen hat.
Auf einmal ist es ganz wichtig, daß Martin zu Papa fährt und ihm die Figur bringt.
Leise geht er in den Flur und zieht seine Schuhe an. Die mit dem Klettverschluß, damit Mama nicht helfen muß. Sie macht gerade das Essen und würde jetzt bestimmt nicht erlauben, daß Martin rausgeht. Und hinterher geht es auch nicht; da wollen sie Opa im Krankenhaus besuchen.
Schon zieht Martin leise die Tür hinter sich zu und hüpft die Treppen hinunter. Jetzt ist er fast wieder fröhlich.
Bis zum U-Bahnhof ist es nicht weit. Martin weiß, daß er vier Stationen weit fahren muß. Er wird einfach mitzählen.
An der ersten Station steigt eine Frau mit einem kleinen Hund ein. Der Hund ist schrecklich niedlich. Er schnüffelt an Martins Füßen, und Martin darf ihn streicheln.
Da hält der Zug wieder, und die Türen gehen auf. Martin erschrickt. Der Hund war so süß, daß er glatt vergessen hat, die Stationen zu zählen. Und die Bahnhöfe sehen alle gleich aus. Soll er hier aussteigen?
Ehe er sich entscheiden kann, fährt die Bahn schon weiter.
Am nächsten Bahnhof steigt Martin aus und geht die Treppen hinauf. Es ist der falsche Bahnhof. Hier kennt Martin sich nicht aus.
Er geht die Straße entlang, aber nichts kommt ihm bekannt vor. Auch nicht, als er an der nächsten Kreuzung abbiegt. Er sucht eine Weile nach Papas Straße, dann will er umkehren und eine Station weiter fahren. Doch jetzt findet er auch nicht mehr zum Bahnhof zurück. Er hat sich verlaufen.
Mama wartet bestimmt schon mit dem Essen. Martin merkt, daß er sehr hungrig ist. Und er merkt, daß er angefangen hat zu weinen.
Als ihn eine fremde Frau anspricht, bekommt er noch mehr Angst und läuft weg. Die Schachfigur hält er ganz fest in der Hand.
Martin läuft weiter, bis er an einem kleinen Park vorbeikommt. Verblüfft bleibt er stehen und betrachtet den großen Bären aus Stein, der am Eingang zum Park steht. Darauf ist er schon ein paar Mal herumgeklettert. Auf der anderen Seite des Parks liegt die Straße, in der Papa jetzt wohnt!
Ganz erschöpft kommt Martin endlich bei Papa an. Der telefoniert gleich mit Mama, die sich schon Sorgen gemacht hat. Dann bringt er Martin nach Hause.
Zu Hause erzählt Martin, warum er zu Papa wollte. Er gibt ihm den König, den er bis jetzt in der Hand gehalten hat.
Mama fängt an zu weinen. Papa nimmt sie in den Arm und tröstet sie.
Dann reden die beiden ganz lange miteinander. Zwischendurch gucken sie oft ins Kinderzimmer zu Martin.
Papa bleibt zum Essen. Danach gehen alle drei noch spazieren. Genau wie früher. Einmal, als Martin aufsieht, hat Papa den Arm um Mamas Schultern gelegt.
Den Besuch bei Opa verschieben sie auf den nächsten Tag. Papa fährt erst wieder nach Hause, als Martin schon schläft.
In den nächsten Wochen kommt Papa viel öfter vorbei. Und zwei Monate später zieht er wieder bei Mama und Martin ein.
Es ist noch mal ein Versuch, sagen Mama und Papa.
Es ist für immer, hofft Martin. Und er glaubt ganz fest daran, damit es wahr wird.
Mama und Papa streiten sich immer noch ab und zu. Aber das ist nicht so schlimm. Hauptsache, alle sind wieder eine Familie. Mama, Papa und Martin – und der weiße König, der auf einem Ehrenplatz über dem Fernseher steht.
Wenn Martin ihn nicht gerade braucht, um Papa im Schach zu besiegen.

 

Hallo Roy!

ICh bin mir nicht sicher, ob Du meinen Kommentar schon gelesen hattest, drum noch einmal in Kutzfassung:
ich finde Deine Geschichte sehr liebevoll erzählt, sie bringt zum Ausruck, was das KInd sich wirklich wünscht. Und es ist wunderbar, dass sie so gut ausgeagen ist.... leider nicht immer die Realität. Ausserdem zeigt sie, wozu das Aufräumen manchmal gut ist...;)

liebe Grüße, Anne

 

Hallo Roy,

vom Aufräumen den Bogen zur Rettung einer Ehe zu schlagen ist sicher nicht einfach, aber Du hast das glaubhaft hingekriegt. Ein schöner Schachzug! (Von Dir und dem Jungen).

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

Hallo Anne,

ich hatte Deinen Kommentar schon gelesen und mich sehr darüber gefreut - tut mir leid, daß ich nicht sofort Zeit fand, zu antworten. Danke, daß Du Dir noch einmal die Mühe gemacht hast. (Ich weiß auch aus der E-Mail-Benachrichtigung, daß al-dente mir geantwortet hatte, aber bevor ich ihren Beitrag lesen konnte, fiel der Server aus; schade, trotzdem danke auch an sie!)

Hallo Woltochinon,

danke auch für Deine Antwort!

Was das Ende der Geschichte angeht: Es bleibt ja ein kleines bißchen offen. Das ist aber schon die überarbeitete Version, weil eine Lektorin (wieder einmal beim Ellermann Verlag) das ursprüngliche Happy-End für unglaubwürdig hielt. Daß die Realität nicht immer so aussieht, weiß ich natürlich, aber ich denke, man sollte Kindern Hoffnung geben. Außerdem klappt es manchmal eben doch; meine eigenen Eltern haben sogar nach der Scheidung wieder geheiratet :-)

Schöne Grüße
Roy

 

Hallo Roy!
Eine süße, herrliche Geschichte.
Das Happy- End finde ich auch gut. Warum denn nicht?

Eine Schachfigur rettet die Ehe und damit die Familie eines kleinen Jungens. Gefällt mir.
Wieder in einem einfachen Stil, wieder genau richitg für Kinder!

Dass der Junge den Mut findet ganz alleine mit der U- Bahn zu seinem Vater zu fahren, finde ich genial.
Ich hätte mich so etwas bestimmt nicht getraut.

bye und tschö

 

Hallo moonshadow,

schön, daß es Dir auch wieder gefallen hat. Besonders freut mich, daß das Happy-End bei Dir und den anderen gut ankommt. Was das angeht, bin ich immer ein wenig unsicher.

Wann kriegen wir denn mal wieder was von Dir zu lesen?

Schöne Grüße
Roy

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Roy,

nun habe ich es endlich geschafft, mich noch einmal mit Deiner Geschichte zu befassen, nachdem der blöde Serverausfall meinen ersten Beitrag gefressen hat.

Auch diese Geschichte gefällt mir sehr. Sie ist ganz sachlich und durchgängig aus der Kindersicht von Martin geschrieben und man kann sich so gut vorstellen, wie es dem Jungen geht. Da ist kein Bruch! Wunderbar. Wie ist man erleichtert, als Martin bei Papa in der Wohnung ankommt, und wie freut man sich über den Hoffnungsschimmer, als die Eltern wieder miteinander reden.
Sehr schön, wie Du die Annäherung von Mutter und Vater beschreibst. Das ist nicht sentimental und nicht übertrieben. Alles bleibt offen, aber die Hoffnung, Martins Hoffnung macht Mut.

Schade, dass es im Leben nicht immer solche Schachfiguren gibt, die nur ihrem Besitzer zugeführt werden müssen, damit sich alles zum Guten wendet....

Viele Grüße
Barbara

 

Hallo Barbara,

auch an Dich (wie vorher schon an Anne) vielen Dank, daß Du Dir noch einmal die Mühe gemacht hast, die Geschichte zu lesen und dann auch noch ausführlich zu antworten. Ich bin sehr froh, daß Dir der Text gefallen hat, und werde aus Deinem Lob sicher die eine oder andere Anregung für zukünftige Erzählungen gewinnen.

Schöne Grüße
Roy

 

Lieber Roy!

Also eigentlich ist es schon eine schöne und sehr gefühlvolle Geschichte, die Du da geschrieben hast. Allerdings finde ich sie nicht unbedingt für Kinder geeignet...

Du schreibst zwar, daß es bei Deinen Eltern so gewesen ist, daß sie wieder geheiratet haben – aber das ist sicherlich eine große Ausnahme. In der Regel kommen die Eltern nach einer Scheidung nicht wieder zusammen und ich finde, man sollte Kindern eher helfen, die Situation zu verkraften, sich damit abzufinden, daß der Papa nicht mehr richtig zurückkommen wird, sondern nur mehr für Besuche, als ihnen Hoffnungen zu machen, die sich nur in den allerseltensten Fällen erfüllen werden. (Oft ja nicht einmal die Besuche...)
Falsche Hoffnungen führen zu Enttäuschungen, und das muß ja nicht sein. – Wenn das Glück zutrifft, ist es bestens, aber zu 99 % werden solche Hoffnungen nunmal enttäuscht. Sie in Kindern zu wecken, die vielleicht gerade beim Verarbeiten sind, macht es ihnen nur noch schwerer, ihre Situation zu akzeptieren.

Die Geschichte selbst ist gut geschrieben und gefällt mir sehr gut – aber für Kinder finde ich sie wie gesagt nicht geeignet, eher für Erwachsene.

Alles liebe,
Susi

 

Hallo Susi,

vielen Dank für Deine Antwort und auch das darin enthaltene Lob.

Über die Frage, ob die Geschichte für Kinder geeignet ist, wurde schon viel diskutiert, u. a. am Rande unserer Lesungen. Soweit ich es überblicken kann, ist die Erzählung bei Kindern bisher immer gut angekommen. Sicher ist sie nicht für jedes Kind gleich gut geeignet, aber ich denke, das gilt für jede Kindergeschichte - und bei Stories für Erwachsene ist es natürlich dasselbe. Im Falle von Kindergeschichten ist es wichtig, daß Erwachsene beim Auswählen behilflich sind.

Ich bin übrigens gerade von einem Familientreffen in Schweden zurückgekehrt - ja, genau, aus dem Lande Astrid Lindgrens; und deren "Pippi Langstrumpf" wurde bekanntlich vom ersten Verlag auch abgelehnt, weil "nicht für Kinder geeignet" ;-) Bei diesem Treffen waren sowohl Kinder, die mit einer Trennung fertig werden mußten, als auch solche aus intaktem Elternhaus (und diese begriffliche Gegenüberstellung ist mir sehr wichtig, egal, was sich immer mehr Elternteile einzureden versuchen). Gerade die Kinder, die das Zerbrechen einer Ehe nur als Zuschauer erleben (bei Freunden, Verwandten, Nachbarn), leiden oft sehr unter den daraus erwachsenden Ängsten, ihnen selbst könne es irgendwann genauso ergehen. Und in dieser Angst möchte ich sie keinesfalls bestärken.

In gewisser Weise bin ich aber Deiner Meinung: Diese Geschichte richtet sich zumindest auch an Erwachsene. Ich bin mir ziemlich sicher, daß sie den einen oder anderen erwachsenen (Vor-)Leser dazu bewegen kann, eine beabsichtigte Trennung noch einmal in Frage zu stellen. Und das ist meistens (leider nicht immer, aber viel öfter, als heute von vielen angenommen) sinnvoll.

Schöne Grüße
Roy

 

Hallo Roy,
auch mir hat Deine Geschichte sehr gut gefallen, auch das Happy-End. Ich denke Geschichten für Kinder sind einfach schöner, wenn sie ein gutes Ende haben. Und dein kleiner Protagonist ist schon ein kleines, starkes Kerlchen, mit dem sich sicher viele Kinder identifizieren werden. Die einzige Gefahr, die ich vielleicht sehen würde, wenn Kinder in ähnlichen Situationen diese Geschichte lesen, dass sie vielleicht Martin nachahmen werden, was ja eventuell nicht ungefährlich sein kann. Denn so ein Ausflug, ganz alleine könnte ja auch mal nicht so glücklich enden, wie in Deiner Geschichte.
Trotzdem schöne Idee mit der Schachfigur und gerne gelesen.

Liebe Grüsse
Blanca

 

Hallo Blanca,

vielen Dank für die lobenden Worte, und entschuldige bitte, daß ich erst jetzt antworte.

Das mit dem Nachahmen ist natürlich immer ein Problem, wenn man starke Kinder in spannenden Situationen schildern möchte. Aber daß sich Martin verläuft und dann zu weinen anfängt, trägt ja vielleicht dazu bei, daß die kleinen Leser so etwas nicht leichtfertig nachahmen.

Schöne Grüße
Roy

 

Hallo Roy

Nachträglich alles Gute zum Geburtstag.

Ich habe mir erlaubt, etwas älteres auszugraben.
Es ist das erste Mal, dass ich hier auf KG.DE einen Text aus der Kinder-Rubrik lese und er hat mir gefallen.

Klar ist es Zufall, dass Martin den Bären, und somit die Strasse von Papa findet. Aber was möglich ist, kann auch eintreffen, somit durchaus plausibel.

Ok, die rasche Versöhnung wirkt zwar leicht konstruiert, hinterlässt bei mir aber am Ende ein (hoffnungsvolles) Lächeln.

Kleiner Negativpunkt:
Was mit unlogisch erscheint, ist der Umstand, dass Martin die Figur bis zum Schluss in seiner Faust hält.
Er hat doch sicher seinen Papa umarmt. Zumindest war es sein höchstes Ziel, die Figur seinem Papa zu geben, da behält (vergisst) er sie doch nicht die ganze Zeit in seiner Hand.

Liebe Grüsse
./

 

Hallo dotslash,

vielen Dank - sowohl für den Geburtstagsgruß als auch für das Ausgraben dieser Geschichte (es war eine meiner ersten hier auf kg.de) sowie dafür, daß sie Dir im Großen und Ganzen gefallen hat. :)

Zu der Figur, die Martin so lange in der Hand hält - ich dachte mir einfach, daß er sie in der ganzen Aufregung (zuerst die Angst, sich verlaufen zu haben, dann die Freude über die Rettung) für eine Weile vergessen hat. Na schön, vielleicht ist es auch eine kleine Konzession an den dramaturgischen Effekt, es sei mir verziehen... ;)

Ändern möchte ich die Geschichte jetzt nicht mehr, zumal sie schon vor einiger Zeit in der Zeitschrift Kurzgeschichten nachgedruckt wurde. Aber ich lerne immer gern aus solchen Hinweisen für zukünftige Geschichten.

Schöne Grüße
Roy

 

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