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Eine schreckliche Horrorgeschichte
„Schatz, hast du meine Ohrringe gesehen?" fragte Lady Gilbert, während sie in ihr seidiges blaues Abendkleid schlüpfte. Ihre Stimme war rauchig.
Der Angesprochene rümpfte die Nase ob des Nichtwissens, welches sich in ihm ausbreitete. „Keine Ahnung", erklärte er. Sir Gilbert war selbst umständlich beschäftigt, seine Socke anzuziehen, was ihm schließlich zu seiner sprudelnden Freude auch gelang.
Die Verheirateten waren vor einigen Wochen zum Ball des Grafen Morovitch geladen worden, und hatten die Einladung freudig angenommen. Nach all den mißlungenen Börsenspekulationen freute sich Sir Gilbert schon, endlich wieder Oberwasser zu bekommen.
Der Sir stopfte sich das künstliche Gebiß zwischen die Mundwinkel, dann war er fertig. Seine Frau war bald darauf später auch fertig. Dann warteten sie.
Der Sonnenuntergang war aus dem Fenster gut zu beobachten. Jenseits des Horizontes tauchte das Gestirn den Himmel in Röte, was ein wenig aussah wie ein Meer von Blut.
„Ist das nicht ein exzellenter Ausblick?" fragte Sir Gilbert seine Frau, das ungute Vorgefühl unterdrückend.
„Ja", sagte selbige strahlend. Sie wirkte um Jahre jünger, wenn sie lächelte. „Graf Morovitch ist wirklich sehr großzügig."
„Um sieben Uhr beginnt der Ball, wir müssen uns gut vorbereiten", sagte Sir Gilbert.
„Weißt du, wer sonst noch alles eingeladen ist?" fragte sie.
„Nein", sagte Sir Gilbert, „aber sie sind sicher auch adelig wie wir. Da könnte ja jeder kommen, oder?"
„Wie recht du hast, mein Schatzimausi", kicherte die Lady, und bald wurde es sieben Uhr.
Sir Gilbert wurde warm ums Herz, wenn er daran dachte, wie sehr er seine Frau doch liebte.
Der große Kronleuchter im Ballsaal strahlte die Nacht hinfort wie tausend Glühwürmchen, und es sah prächtig aus. 13 Paare waren eingeladen und hatten sich im Ballsaal versammelt, um der Freuden des bevorstehenden Festes teilhaftig zu werden. Sie wollten, wie alle anderen, sehen und gesehen werden, denn darum ging es ja allgemein bei solchen Gesellschaften.
Die Sonne war schon lange untergegangen, denn die Tage waren kürzer als die Nächte. Am Himmel hing der bleiche Mond wie ein warnender Totenkopf. Doch er wurde nicht beachtet.
Man tanzte feierlich und trank und sang ein wenig, und man wartete auf die Ankunft des Grafen, der sich viel Zeit mit seinem Auftritt ließ. Aber das Essen bis dahin war schon mal gut.
Irgendwann kam er dann endlich, es war genau 21 Uhr.
„Ah, Graf Morovitch", sagte Lady Gilbert. „Welche Ehre, Sie kennenzulernen. Ihre Party ist einfach super!"
„Ja, Gnädigste", sagte Morovitch und entblößte seine Vampirzähne. „Aber bevor die Nacht vorbei ist, wird es ein ganz besonderer Tag gewesen sein, hahaha!"
Morovitch streckte seine fledermausartige Hand aus und quetschte ihren Kopf zusammen. Sir Gilbert mußte hilflos mitansehen, wie seine über alles geliebte Frau sinnlos sterben mußte, und eine Gänsehaut streichelte seinen gichtigen Rücken. Wäre er doch bloß nie hergekommen! Was für ein Teufel war dieser Graf Morovitch nur? Töten war unrecht und Gewalt keine Lösung!
Die beiden glatzköpfigen Frauen, die den Grafen begleiteten, stürzten sich auf die Gäste und saugten sie bis zum letzten Tropfen aus. Dann waren alle tot, nur Sir Gilbert weinte noch um seine Frau und liebkoste zärtlich ihre eingedrückte Schädeldecke.
„Nun zu dir, Sterblicher", sagte Morovitch triumphierend. „Du wirst mein Diener sein. Sieh mir in die Augen!" Er machte eine fluschende Handbewegung mit dem linken Arm.
Sir Gilbert wollte dem verhaßten Teufel nicht in die bösen Augen sehen, sondern lieber weiter um seine Frau trauern, doch plötzlich spürte er ein unbändiges Verlangen, es dennoch zu tun. Er hob den Kopf und sah Morovitch in die kalten, toten Augen. Die Uhr schlug zwölf, und dann wurde es dunkel.
Sir Gilbert mußte von nun an dem Grafen zu Diensten sein, bei Tag und in der Nacht. Doch er war glücklich, denn er hatte vor Trauer den Verstand verloren. Und bald fühlte er, daß er ein großes Privileg zu gratulieren hatte, und freute sich seines Lebens. Er fand auch sehr bald eine neue Frau und gründete eine Familie. Der Graf aber war böse wie immer.