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Eine Sommernacht im Winter
Ich rieche ihr Parfum, atme es wie Luft, stelle mir vor, wie es wäre, Mira voll und ganz in mich hineinzusaugen, bis nur noch die blonde Locke von ihr existiert würde, die ich in meiner Hand halte. Ich weiß nicht, wieso sie sich eben ein paar Haare abgeschnitten hat und sie in meine ausgestreckte Hand gelegt hat. Aber sie lächelte so wissend, dass mir jede Erklärung egal war. Mit geschlossenen Augen glaube ich plötzlich zu fühlen, wie sie zu verschwinden droht. Ich mache sie wieder auf und blicke in ihr Gesicht, in diese verzaubernden grünen Augen und denke, dass dies hier im Moment der Mittelpunkt des Universums sein muss. Nur sie und ich. Oder ich und sie. Hier hat nichts mehr seine Ordnung, nur noch unsere Berührungen zählen und wie sie mich ansieht. Ich streiche einzelne Haare von der Locke in meiner Hand zwischen Daumen und Zeigefinger und reibe sie vorsichtig, als würde man aus ihnen Gold spinnen können.
“Du siehst mich wieder so an, Christian ... ganz so, als würdest du etwas sagen wollen, dich dann aber doch nicht trauen.”
Ihre Augen blicken mich fragend an. Wenn es etwas an ihr gibt, das man als eine Prüfung einstufen könnte, dann ist es wohl, diesem Blick ohne Gefühlsregung standzuhalten. Für einen Moment bin ich mir sicher, dass sie in mich hineinsehen kann. Ich muss kräftig schlucken und will sie bitten, damit aufzuhören, mich so anzustarren. Aber mein Mund kann die Wörter nicht formen.
Mira lächelt. Vermutlich will sie die gespenstige Ruhe zwischen uns mit einem Lachen durchbrechen. Aber diesmal spiele ich nicht mit. Ich bleibe weiter still, fühle mit der Hand über ihre nackten Oberschenkel, lasse die Haare einzeln darauf zurück. Es ist so wundervoll, sie atmen zu hören, so herrlich zu wissen, dass sie ganz alleine mein ist.
“Das kitzelt”, flüstert sie plötzlich. Ich streichle unter dem Nachthemd über den Bauch. Sie kichert und auch ich muss grinsen. Wieder schließe ich meine Augen, horche, ob es irgendwo etwas zu hören gibt, versuche mein Denken vollkommen abzuschalten, nur um diesen Moment besser auskosten zu können. Dies ist keine Illusion, sagt eine Stimme in mir und ich danke ihr, dass sie dies tut. Selbst, wenn jemand ein brennendes Eisen mit der Aufschrift “Träumer” auf meinen Körper pressen würde, ich könnte doch nicht aufwachen. Jeder einzelne Atemstoß von Mira beweist mir das.
Dann beuge ich mich zu ihr herüber und küsse ganz sachte ihren Hals und die Schultern. Seit Stunden habe ich kein Wort mehr gesagt, wird mir plötzlich klar und trotzdem denken wir das gleiche, als ich an ihrem Nachthemd ziehe. Sie trägt nichts darunter. Ihre Hände tasten sich an meinem Bauch herunter und versuchen, meine Hose zu öffnen. Sie kichert, ich erinnere mich an unser erstes Mal, und daran, wie schön es war. Ich berühre ihre flachen Brüste, massiere sanft darüber, ziehe sie ein wenig zu mir hoch. Dann küssen wir uns, ich schmecke ihr Parfum oder glaube es doch zu mindestens. Ihre Haare streichen über mein Gesicht, ich suche ihre Augen, finde sie, küsse sie auf den Hals und lasse mich fallen, für Sekunden, dann sind es Minuten und irgendwann, da ist es nur noch dieser eine Augenblick.
Als ich ihr von dem Plan, mitten im verschneiten Januar, für drei Tage nach Sylt zu fahren, erzählte, war sie vollauf begeistert. Einfach losfahren und nicht so viel nachdenken, hatte ich gesagt und war unglaublich glücklich, als sie ja sagte.
Während der Fahrt hatte sie meist ein wenig unbeteiligt aus dem Fenster gesehen, als würde sie auf etwas Bestimmtes warten, was ihrer Meinung geschehen soll. Eisiger Wind hatte gegen die Scheibe geweht. Eine winterliche Landschaft war an uns vorbei gezogen, weiße Wälder und Städte, deren Lichter geheimnisvoll glitzerten.
Mir war klar geworden, dass das Schönste an dieser Reise doch sie bleiben würde. Nur sie anzuschauen, wie sie aus dem Fenster blickt, oder wie sie ihr Gepäck nimmt, um von einem Bahnsteig zum nächsten zu laufen. Immer wieder wanderten meine Augen zu ihrem Mund, als würde ich darauf warten, dass sie was sagt. Wir hatten uns nur Tickets für billige Regionalzüge leisten können. Stunden fuhren wir durch das Rheinland, der Zug immer dem breiten Fluss folgend, dann ins tiefste Niedersachsen.
„Stell dir vor, wir könnten auch einfach hier aussteigen“, meinte sie einmal, als der Zug irgendwo im nirgendwo zum Halten gekommen war. Ich blickte aus dem großen Fenster und sah einen Ort, von dem ich noch nie gehört hatte und dessen Namen, den ich auf dem blauen Ortsschild lesen konnte, auch gleich wieder vergas, als wir seine Grenzen hinter uns gelassen hatten.
„Ja, das könnten wir echt.“
Gleichzeitig spürte ich aber schon die Motoren und wusste, dass es gleich weitergehen würde. Wir sahen noch einmal auf das Dorf mit dem einem Kirchturm, und die überall noch geschmückten Tannenbäume, die darauf warteten, weggeworfen zu werden.
„Jetzt ist es zu spät.“
Ich nickte nur und sah den kleinen Bahnhof im Dunkel des frühen Abends verschwinden.
Obwohl Sylt eine Insel ist, kann man sie bequem mit dem Zug über einen kilometerlangen Damm erreichen. Als wir spät abends in Westerland ankamen, war sie in meinen Armen eingeschlafen, einen der Stöpsel meines mp3-Players in dem linken Ohr. Der andere war mir aus dem rechten Ohr gefallen. Die Musik war schon seit längerem verstummt.
„Hey, aufwachen. Hörst du nicht die Wellen, wie sie gegen die Küste krachen?“
Mira blinzelte verschlafen.
„Heute ja mal ganz romantisch, ne? Hör sie aber.“
Wir kramten unsere Sachen heraus und machten uns auf die Suche nach der kleinen Wohnung, die meiner Familie schon seit langem gehörte und an die ich viele Kindheitserinnerungen hege. Ein großer Raum mit einem Doppelbett, einer Kochnische und dem kleinem Bad, in das sie als erstes verschwand. Ohne noch viel nachzudenken, warfen wir uns auf das ungemachte Bett.
„Hey Christian, nicht einpennen“, sagt sie, als ich mich ein wenig von ihr wegdrehe. Wieder habe ich kurz das Gefühl, dieses kann nur ein Traum sein. Aber da ist sie wirklich, meine Hände können ihre Beine berühren, ohne dass sie sich auflöst. Ich würde nur zu gerne einen Ausdruck dafür finden, wie gut es sich angefühlt hat, und wie es ist, dass sie mich liebt. Aber es geht nicht und so muss ich hoffen, dass sie es auch so weiß, wie dankbar ich bin, sie zu haben. Jetzt will ich wirklich etwas antworten, aber meine Stimme versagt aufs neue. Vielleicht kann sie meine Gedanken von den Augen ablesen.
„Jaja... mit mir schlafen und dann kein Wort mehr reden. Typisch Mann!“, sagt Mira schließlich. Ich grinse. Hoffentlich reicht ihr das. Was soll ich auch gegen die Sprachlosigkeit tun, an der allein sie schuld ist?
„Was machen wir denn als erstes?“, sagte sie heute morgen.
„Uns den Strand und die Stadt ansehen, denk ich mal.“
Durch das Wohnzimmerfenster sahen wir nach draußen. Über Nacht hatte es aufgehört zu schneien. Jetzt glitzerte alles nur noch weiß vom Schnee und golden von der aufgehenden Sonne.
Dick eingepackt zogen wir die Haustür hinter uns zu und gingen einfach gerade aus. Einmal meinte sie, wir sollten lieben abbiegen. Doch eines sollte man einfach über Sylt wissen. Man kommt zwangsläufig an einen der kilometerlangen Strände, welche die Insel wie eine Grenze gegen die Nordsee einzäunen.
Die im Sommer so heißen Dünen jetzt verschneit und kalt zu sehen, war seltsam. Vor sich herwirbelnde Schneeflocken und eisiger Wind streiften meine Nase. Ich versuchte, am Horizont Schiffe auszumachen, doch wie hier auf dem kalten Sandstrand gab es keine Anzeichen von Leben. Unaufhörlich befiel mich das Gefühl, dass es so wie es gerade war, nicht stimmen konnte. Aber ich glaube nicht, dass ich an Touristen oder auf dem Boden liegende Coladosen meinte.
„Ist was?“
Mira sah mich ungeduldig an. Sie wollte weitergehen, ich sah es daran, wie ihre Füße in Richtung der Dünen zuckten.
„Weiß nicht, irgendwie so seltsam hier. Alles so ruhig, sehe einfach andauernd vor mir, wie es ist, wenn hier Sommer ist.“
„Na komm, lass uns weitergehen.“
Ich nickte und rannte zu ihr. Trotz ihrer zweifelnden Blicke zog ich ihr den rechten Handschuh aus und nahm ihre Hand in meine Rechte. Nur sie, ihre nackte Haut spüren, dass war es, was ich wollte.
Unser Spaziergang wollte wie der Strand nicht mehr aufhören, so schien es mir. Vielleicht hätten wir die ganze Insel einmal umkreist, hätte es diesen Leuchtturm nicht gegeben. Die Sicht war schlecht, schon nach wenigen hundert Metern verdunkelte sich alles in Nebel. Hinter uns befand sich eines der vielen Vogelschutzgebiete, vor uns die raue, freie, bis ins scheinbar unendliche reichende Nordsee. Und auf einem kleinen Steinansatz dieser blau-weiße Leuchtturm.
“Wie es wohl sein muss, hier zu leben. Im Winter und im Sommer?”, sagte Mira ganz leise.
Wie als Antwort ging plötzlich der Lichtscheinwerfer des Turms an und leuchtete auf die See heraus. Ich folgte der Richtung, sah aber kein Schiff.
“Es ist sicher nicht einsamer für den Wärter als im Sommer.”
Erst spät am Mittag gingen wir wieder nach Hause. Die Insel schien weiterhin wie ausgestorben im dichten Schneegestöber. Auch in Westerland umgab uns die die reine Seeluft, der deutlich spürbare Wind und nur mich Miras Wärme, die durch ihre Hand in mich floss.
Ich fragte mich, wie viele Menschen wohl noch auf der Insel waren und dachte wieder an den Leuchtturm. Wie ein Insekt stach mich die Erkenntnis, dass ich keine Sonne brauche, um mich wohl zu fühlen, dass ich kein Feste feiern muss, um fröhlich zu sein.
Ich atmete tief ein, so tief, dass mich Mira seltsam ansah und grinsend fragte, ob alles mit mir in Ordnung wäre. Ich nickte nur, wartete, bis sie wegsah und atmete aus.
Und ganz plötzlich wurde mir klar, dass dies der schönste Tag meines bisherigen Lebens sein musste.
Ich verstehe nun, warum ich nicht spreche und antworte. Aus Angst, es könnten diesen Moment zerstören, als könnte ein einziges Wort alles zusammenbrechen lassen, wie ein Rammbock ein Stadttor. Und trotzdem sage ich plötzlich etwas. Meine Hände fühlen auf dem Bett herum, finden eine ihrer blonden Strähnen. Meine Stimme ist unwirklich leise. Ich weiß gar nicht, was ich bezwecken will. Mein Kopf ist so seltsam leer. Vielleicht bin ich nicht anders als der Leuchtturmwärter und will ihr einfach den Weg zeigen.
„Wenn du dir jetzt was wünschen könntest. Was wäre es?“
Mira überlegt. Dann dreht sie sich zu mir und streicht über meine linke Wange. Es geht nicht anders, ich muss ihr in die Augen sehen. Ein Seufzen, ich weiß nicht, ob es meines oder ihres ist, durchbricht kurz die Stille.
„Ich würde mir eine Sommernacht im Winter wünschen.“
Marburg, 9.2.2006