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Eine unwiderstehliche Gelegenheit zur freiwilligen Selbstaufgabe
Mitternacht.
»Weißt du, Christian, was ich mit Spider-Man für ein Problem habe?« fragte mich Sam.
Wir hingen am Tisch unserer Stammkneipe, die den überaus treffenden Namen Rein und wieder Raus trug.
Sam hatte schon vor Stunden seinen ganz persönlichen Rubikon überquert, jene Grenze, die die Lebenden von den Besoffenen trennte - für eine Umkehr war es jetzt schon viel zu spät.
Und man merkte es ihm deutlich an: seine Pupillen waren weit wie Teller, er gestikulierte wild und selten in nur eine Richtung und war motorisch schon so überfordert, dass er sich mit der einen Hand hin und wieder am Tisch abstützen müsste, während er in der anderen das Bier hielt.
»Chihihihi...«, sagte Gustl. Gustl war ein bebrillter, schmächtiger Typ und trotzdem ganz in Ordnung. Nur fehlte ihm scheinbar das Enzym, um Alkohol richtig abbauen zu können, denn er hatte nun etwa zwei Gläser intus und befand sich in einem Zustand, den ich gerne als halluzinogenes Delirium bezeichnete. Ich konnte mir unmöglich vorstellen, welche Visionen und Trugbilder sein ethanolgetränktes Hirn ausbrütete, aber seine Augen sahen sicher Welten, die einem normalen Menschen auf ewig verschlossen bleiben würden.
Ich sah Sam etwas merkwürdig an und versuchte, meine Augen auf seine Nase einzustellen, was schwerer war, als ich dachte, da er plötzlich zwei hatte.
»Spider-Man«, fuhr Sam fort, »ist unlogisch.« Er dachte wohl, wenn er diese Aussage einfach so in den Raum werfen würde, müsse automatisch jemand widersprechen. Da aber meine Zunge gerade mit anderen Dingen beschäftigt war – nämlich faul und träge herumzuliegen und Bakterienkulturen zu züchten – belies ich es bei einem müden Grunzer.
Gustl brachte schon mehr zustande: »Chihihihi...«
»Stell dir mal vor, Spider-Man wäre nicht in New York, stell dir mal vor, er hätte nicht diese tollen, hohen Wolkenkratzer...«, erklärte nun Sam seine gewagte These. »Was, wenn zum Beispiel, irgendein Bauernjunge von einer radioaktiven Spinne gebissen werden würde...« Erstaunlich wie treffsicher ihm der Konjunktiv gelang, in seinem Zustand.
»Spider-Man auf dem Dorfe«, fuhr Sam fort und lachte höhnisch. »Wo sollte der sich rumschwingen? Das möchte ich gern mal sehen... Ohne Wolkenkratzer ist Spider-Man doch gar kein Superheld...«
»Und wie sollte eine radioaktive Spinne aufs Land kommen?« stellte ich die Frage, auf die jeder gewartet hatte.
»Da gibt es unzählige Möglichkeiten...«, widersprach Sam. „Stell dir mal vor... irgendsoeine HighTech Firma pumpt radioaktive Abfälle in einen Fluss, es gibt saueren Regen auf einer Weide weit entfernt und dann frisst eine Kuh dieses Gras und als der Melkjunge zufällig die Milch in einen Eimer ...«, er überlegte kurz, »...melkt, da fällt eine Spinne hinein und beißt ihn.« Sam hatte sich richtig in Rage geredet und starrte mich am Ende mit weit aufgerissenen Augen an.
»Chihihihi...huuihihihi«
Das war zwar in etwa der Kommentar, der auch mir eingefallen war, aber ich verkniff ihn mir und nippte stattdessen an meiner unvollkommen Schaumkrone, die das mathematische Zerfallsgesetz schon deutlich verkleinert hatte.
»Wieso ausgerechnet beim melken?« fragte ich schließlich.
»Wie?« fragte mich Sam.
Drei Halbe nach Mitternacht.
»Das Klo sieht furchtbar aus«, sagte Sam, als er sich gerade wieder hinsetzte. »Warst du das?«
»Chihihi...«
»Ich glaube, Gustl war schon seit Stunden nicht mehr auf dem Klo...«, gab ich zu bedenken.
»Und wann warst du das letzte Mal?« fragte er mich.
Ich sah ihn etwas verdattert an. »Vorhin«, sagte ich.
»Wann?«
»Ich hab es nicht aufgeschrieben...«
»Und wie hat es bei dir ausgesehen?«
Ich überlegte. »Okay...«, sagte ich schließlich. »Ganz okay. Gut, ich hätte jetzt nicht daraus essen wollen, aber...« Mein Blick fokussierte sich tunnelartig immer mehr auf eine Stelle, leider war diese Stelle Sams Gesicht.
»Wer könnte das dann gewesen sein...?« fragte sich Sam und sah sich im Raum um. »Der da drüben, vielleicht...« Er deutete auf einen fetten Typen, der ein speckiges Hemd und dazu eine alte Lederjacke samt Aufnähern trug. Er hatte einen schlecht gestutzten Bart und stand allein an der Bar, hin und wieder nippte er an seinem Bier. Und das Bizarre war: er sah wirklich aus wie jemand, der nur bedingt Kontrolle über seine Zielgenauigkeit auf dem Klo hatte.
»Chihihi...«
»Schon möglich«, gab ich widerwillig zu. Ich fühlte mich noch nicht betrunken genug für diese Art Gespräch.
»Ich werde ihn fragen«, beschloss Sam.
»Was?« ächzte ich. Ich sah Sam und maß dann mit einem kurzen Blick die Chancen, die er gegen den Typen an der Bar haben könnte, nachdem dieser sich von Sams Anschuldigung vollkommen zu Recht - mhm - angepisst fühlen würde.
»Nein, ehrlich, das ist ja eine totale Sauerei... Ich frage ihn.«, ereiferte sich Sam. Er wollte schon aufstehen, doch ich hielt in zurück.
Er sah mich finster an. »Hast du das gesehen? Komm, sieh’s dir an!«
»Ich denke gar nicht dran...«
»Doch, ich bestehe darauf...«
»Nein.«
»Jetzt stellt dich nicht so an... Komm schon.«
»Aber... wir sieht das denn aus, wenn zwei Männer zusammen aufs Klo gehen?«
»Keine Widerrede.«
»Chihihi... huuuichihichi...«
Fünf Halbe und einen Magenbitter nach Mitternacht.
»Und, was geht?« fragte Sam Gustl.
»Chihihihihi...«
»Naja«, meinte Sam und wandte sich wieder mir zu.»Weißt du, was ich gestern geträumt habe?«
Ich sah mich panisch um. »Nein«, sagte ich schließlich vorsichtig. Ich fühlte mich wie ein Gestrandeter auf einer einsamen Insel, der gerade festgestellt hat, dass die einzige CD, die er in einem angeschwemmten CD-Miniplayer gefunden hat, von Britney Spears ist: Ich war zu betrunken, um wegzulaufen, aber zu nüchtern, um mir das anzuhören.
»Ich habe von einer Hühnerfarm geträumt«, erzählte Sam grinsend. »Und ich war der Hirte...«
»Haben Hühner einen Hirten?« fragte ich, nun doch etwas neugierig.
Sam sah mich verwundert an und zuckte mit den Schultern. »Natürlich nicht«, sagte er dann.
»Aber...«
»Aber was?«
»Nichts.«
»Jedenfalls...«, fuhr er fort, »... jedenfalls habe ich auf die Hühner aufgepasst. Auf alle. Und sie hatten alle Strickwesten an.«
»Welche Farbe?«
Das schien ihn tatsächlich zu verwirren. Er runzelte die Stirn und sein Blick wurde glasig. »Ich weiß es nicht mehr«, gab er dann zu. Er lehnte sich zurück und sah Gustl hilfesuchend an.
»Chihihi...«, machte Gustl.
Sieben Halbe, einen Magenbitter, ein Schinkenbaguette und zwei Kurze nach Mitternacht.
»Christian?«
»Sam?«
»Chihihi...«
»Ich habe noch nie das Meer gesehen...«
»Wir waren letzten Sommer an der Adria...«
»Nicht das Meer«, fegte Sam meinen gutgemeinten und wahren Einspruch zur Seite.
»Welches dann?«
»Du weißt schon...«
»Ich hab nicht den blassesten Schimmer...«
»Du hörst mir nie zu.«
»Ich habe dir genau zugehört...«, sagte ich. »Jeder Wort habe ich verstanden. Ich hänge nur so an deinen Lippen, Kumpel. Nie wäre ich abgelenkt oder ... uninteressiert. Ich würde dir immer zuhören. Immer.«
»Du bist ein wahrer Freund«, sagte Sam. »Du...« Und dabei deutete er ungefähr einen Meter neben mich und beäugte mich mit dem linken Auge, während das rechte langsam auf seine Nase zuwanderte.
»Christian?«
»Sam?«
»Um was geht es eigentlich...?«
»Ich habe keine Ahnung mehr, was du gesagt hast. Alles weg. Restlos.«
»Weil du nie zuhörst.«
»Ach, sei doch ruhig...«
»Von dir lasse ich mir nicht den Mund verbieten... Penner.«
»Wichskopf.«
»Arschloch.«
»Oh, originell, Gruselfratze.«
»Gruselfratze? Sind wir im Kindergarten... Schweinsgesicht?«
Wir hörten ein Rumpeln.
»Ist Gustl gerade unter den Tisch gefallen?« fragte mich Sam.
»Ich hab nicht hingeguckt... Wo waren wir gerade?«
Neuneinhalb Halbe, einen Magenbitter, ein Schinkenbaguette, zwei Kurze und zwei Gin Tonic nach Mitternacht.
»Sam?« Ich nippte an meinem kühlen Bier. »Sam?«
»Mhm?« machte Sam. Er hatte seine Stirn auf die Tischplatte gelegt und schon seit geraumer Zeit nichts mehr gesagt.
»Ich habe nachgedacht, Sam«, sagte ich. »Warum sagt man eigentlich Umweg und nicht Unweg? Das geht mir irgendwie nicht in den Kopf. Ein Umweg ist doch ein Weg, der ... du weißt schon... der länger ist als der eigentlich Weg. Und da ist es ja dann eigentlich ein Unding, den längeren Weg zu gehen. Also ist es doch nur logisch, dass es Unweg heißen müsste. Es ist unsinnig diesen Weg zu gehen, unerfreulich, unpassend, ... na ja, eben ein Unweg... Und es schreibt sich wesentlich kürzer... Die Zeitersparnis, die man bei jedem Satz hätte, in dem Unweg vorkommt, die wäre doch enorm... Ich verstehe das nicht... Sam?«
»Mhm?«
»Hey, Jungs«, sagte schließlich Erwin, der Barmann.
Ich sah ihn an, konnte aber nicht genau erkennen, ob Erwin uns anlächelte oder anfunkelte. So wie ich die ganze Umgebung nur noch äußert fragmentarisch wahrnahm. In der Ferne glaubte ich ein Feuer zu sehen, um das gut gelaunte Elfen tanzten, die lauthals Oh when the saints sangen.
»Sperrstunde«, sagte er und brach den Bann der ewig scheinenden Nacht.
»Oh«, sagte Sam.
»Getrennt oder einzeln?«
»Tja«, sagte ich.
»Puh« sagte Sam.
»Ist der tot?« fragte Erwin und deutete auf Gustl. Erst jetzt fiel mir auf, dass er seit einer Weile nicht mehr gekichert hatte. Er hing in seinem Stuhl, den Kopf im Nacken und den Mund geöffnet. Ein langer Speichelfaden hing an seiner Backe und zog sich bis zur Tischkante.
Sam schüttelte den Kopf. »Nee, der schläft nur.« Er griff Gustl in die Hose und zog dessen Portemonnaie (zum Glück musste ich das Wort nur denken und nicht aussprechen) hervor.
»Was machst du da?«
»Ich zahle, Blödkopf.«
»Aber das kannst du doch nicht ...«
»Hey, glaubst du ernsthaft, Gustl weiß noch, wie viel er getrunken hat?«
»Punkt für dich«, meinte Erwin.
»Hey, Erwin?« fragte Sam. »Noch ein Gratisschnäpschen zum Abschied? Für deine Stammgäste?«
Noch immer neuneinhalb Halbe, einen Magenbitter, ein Schinkenbaguette, zwei Kurze und zwei Gin Tonic nach Mitternacht.
Wir schwankten also zu dritt aus der Kneipe, ich hatte Gustl, der komatös neben mir hing und auf meine Schulter sabberte an der einen Hand und den etwas verwirrten Sam an der anderen.
»Christian«, sagte Sam. »Ich fahre uns heim.«
»Du kannst nicht fahren«, sagte ich nachsichtig.
»Was soll das heißen? Trag mich bitte einfach zum Auto und ich fahr euch heim... euch alle.«
»Du kannst nicht...«, wiederholte ich.
Sam riss sich von mir los, verlor den Halt und landete auf dem kalten, harten Boden vor dem Rein und wieder raus. »Von dir lasse ich mir nichts verbieten, Sülzkopf.«
»Du hast dein Auto zu Hause stehen«, erklärte ich ihm. »Wir sind zu Fuß hier.«
»Oh«, sagte Sam. Er ließ sich von mir aufhelfen. Ich stützte ihn und wir gingen weiter. Plötzlich lachte er laut auf. »Hey, Christian«, sagte er dann, »versuch doch mal ganz schnell zu sagen: 'Wir fahren gen Italien.' Ganz schnell... Hihihi...«
»Du bist ein Kindskopf.«
»Christian?«
»Ja, Sam?«
»Ich glaube, ich bin verliebt in dich.«
Zu wenig Stunden nach dem Einschlafen. Viel zu wenig.
Ein infernalisches Dröhnen hämmerte sich in meine Gehirnwindungen. Erst nach einer Weile und nachdem ich den Wecker gegen die Mauer geworfen hatte, merkte ich, dass es das Telefon war, das diese unmenschlichen Geräusche machte. Und es hörte nicht auf.
Ich sprang aus meinem Bett und war so wütend, dass ich ohne Bedenken sämtliche roten Knopfe gedrückt hätte, die man in irgendwelchen russischen Atomschutzbunkern finden konnte, hätte man mir die Möglichkeit gegeben. Ich riss den Hörer von der Gabel und sagte:
»Jaaah?« Dabei versuchte ich in meine Stimme blanke Mordlust hineinzulegen.
»Christian?« Die Stimme fand nur über Unwege in mein Gehirn.
»Sam?« Ich konnte seine Fahne durch den Hörer hindurch riechen. Vielleicht war es aber auch meine eigene.
»Mir geht es hundeelend...«, sagte Sam mit der Reue der Verkaterten.
»Tatsächlich?« erwiderte ich. Mein Kopf fühlte sich an, als würden dreißig Zwerge darauf eine Kathedrale bauen.
»Ich bin neben Gustl aufgewacht...«, sagte Sam schließlich, etwas kleinlaut.
»Ach?«
»Ja und ich kann mich an nichts erinnern... War irgend etwas besonderes gestern Nacht?«
»Chihihi... huihihihi...«