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Eine weitere Stufe nach unten
Es begann, als Jessica ihn verließ. Seine Jessy. Sie würde ihn nicht mehr lieben, hatte sie ihm gesagt und verschwand; aus Leipzig; aus Bens Leben. Dann kam der erste Joint. Er würde sich gleich viel besser fühlen, als ob er flöge, meinte Diego. Und Ben war geflogen, aber auch hart auf den Boden der Realität aufgeschlagen, als die Wirkung nachließ. Seit einem halben Jahr genügte Marihuana nicht mehr. Kokain war jetzt an der Tagesordnung und sein ständiges Helferlein für alle Schikanen des Alltages.
Ben kokste, um aufstehen zu können; es bis auf Toilette zu schaffen. Er zog eine Line, damit er etwas gegen die Nasenbluten unternehmen konnte, die sich kurz nach dem Schnüffeln einstellten.
Als er sich an diesem Morgen, kurz vor fünf, im gläsernen Spiegel einer Schaufensterscheibe betrachtete, erkannte sich Ben kaum selbst. Das Haar helle Haar, schwarz übertönt. Die schwarz gerahmte Brille gegen Kontaktlinsen getauscht. In Pullover und Hosen, die ihm nicht gehörten.
Sei alles nur, damit ihn niemand erkenne, hatte Diego gemeint; neben ihm stehend, mit der Zigarette am Mundwinkel.
Und Ben fragte sich, ob er wirklich bereits so tief gesunken sei.
„Diego, ich kann das nicht.“ wisperte er seinem Freund entgegen, dem einzigen, den er noch hatte.
„Sei nicht so 'ne Memme. Sie ist nur 'ne Frau.“ zischte er zurück.
Eben, weil sie eine Frau sein, dachte Ben, schwieg aber lieber.
Früher, als sein Leben noch geregelt war, seine Welt noch heil, hätte er nie einer Frau auch nur ein Haar krümmen können. Und heute, am 5. Januar, stand er vor einem kleinen Laden in der Großen Fleischergasse, auf eine Frau wartend, die er überfallen würde.
Der Zweifel schien ihm ins Gesicht geschrieben, was Diego ermutigte, seinen Plan noch einmal zu erläutern.
„Mach dir keinen Kopf, Mann. Der Plan ist doch einfach: Hingehen, Anrempeln, bissl Plaudern“ - er grinste diabolisch - „und dann ist das Püppchen so verängstigt, dass sie uns die Kohle freiwillig gibt.“
„Und wenn uns jemand sieht?“
„Kleiner, glaub' mir, keiner wird hier irgendwas seh'n. Das ist Leipzig, Mann. Keiner sieht was und wenn doch, hält man sich die Augen zu.“ Er legte demonstrativ eine Hand über die Augen.
„Hmm.“
Diskussionen mit Diego erschienen sinnlos, der Plan einfach und plausibel. Also schwieg Ben lieber wieder, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Er stand einige Minuten da und starrte den Schneeflocken nach, die den grauen Gehweg mit unschuldigem Weiß bedeckte.
„Komm' schon, es geht los.“ Diego stieß seinen Ellenbogen unsanft in Bens Rippengegend und sie setzten sich in Bewegung.
Eine Blondine kam ihnen entgegen. Pferdeschwanz, Ende dreißig, zierlich - ein perfektes Opfer.
Das sie Geld hatte, sah man. Elegant gekleidet und mit geschulterter, weißer Gucci-Handtasche lief sie auf die beiden jüngeren Männer zu.
Als sie mit Diego auf gleicher Höhe war, rempelte dieser sie unsanft an.
„Entschuldigung.“ piepste ihre leise Stimme. Sie wollte weiter gehen, aber Diego ließ es nicht zu.
„Hey Süße, das macht man aber nicht. Erst auf Tuchfühlung geh'n und sich dann verpissen wollen.“
Er versperrte ihr den Weg, Ben blieb hinter ihr stehen und sah zu. Bitte lass es schnell vorbei sein, dachte er.
„Gehen Sie mir aus dem Weg. Bitte.“ Das letzte Wort noch immer leise, aber energischer betont.
„Was denn, was denn. So viel Höflichkeit, von so 'ner alten Schachtel. Nee, nee, ich will 'ne Entschädigung.“
Mit fiesen Lächeln auf den Lippen, grapschte Diego forsch nach der großen Umhängetasche. Sie zog die Schulter zurück.
Und dann eskalierte es.
Ben wusste, wenn Diego nicht bekam, was er wollte, wurde es ungemütlich. Er entflammte schier vor Wut. Seine Hand schleuderte der zarten Frau direkt ins Gesicht. Ben zuckte zusammen, als er das dumpfe Klatschen vernahm.
Das Gesicht seines Freundes rückte auf Augenhöhe des Opfers. Er flüsterte ihr etwas entgegen, doch Ben verstand es nicht. Er sah nur die Reaktion, die ein angewiderter Blick und das Abwenden des Kopfes war.
Die Blondine versuchte sich nochmal an dem Mann vorbei zu drängen, erfolglos. Diego zog an ihrem Haar und bog ihren hübschen Kopf zurück. Ein zweiter Schlag. Sie fiel zu Boden.
Als sie sich aufrichten wollte, was auf dem schneebedeckten, gefrorenen Untergrund schwer genug erschien, erhielt sie einen Tritt, genau in die Magengrube.
Ben hörte, wie sie mit dem Kopf zurück auf den harten Boden knallte. Dann lag sie reglos da. Diegos Fuß stand noch immer auf ihrem Bauch. Wie ein Jäger, der sich mit seiner Beute für ein Foto in Pose geworfen hat, schoss es Ben durch den Kopf.
„Jetzt mach schon, Mann! Ich bin hier doch nicht der Alleinunterhalter, oder wie seh' ich das?!“
Ben kam in Bewegung. Beugte sich über die bewusstlose Frau, entriss ihr die Tasche – schwer und scheinbar Prall gefüllt. Dann die Jacke; Markenware mit Pelzkragen; sicher teuer gewesen. Ihm genügte das, doch Diego hetzte ihn weiter.
„Nimm' die Kette und die Ohrringe noch mit. Das sind bestimmt echte Brilli's!“
Die Kette war kein Problem, obwohl seine durchgefrorenen Fingerspitzen fummeln musste, um sie richtig zu fassen. Ein kraftvoller Ruck, ein leises Knirschen, als zwei der goldenen Kettenglieder aufbrachen.
Die Ohrringe waren schwieriger. Er konnte den Verschluss nicht öffnen, diese Art kannte er nicht. Jessy hatte stets nur die getragen, die man einfach auf- und zuklappen konnte. Diego wurde unterdessen immer nervöser.
„Geh' weg, ich mach' das!“
Er stieß ihn zur Seite und betastete, mit seinen grobschlächtigen Wurstfingern, selbst die Schmuckstücke. Keine Chance, er bekam sie ebenfalls nicht auf. Dann, mit einem gewaltvollem Zug, riss er die Ohrringe einfach aus ihren Ohrläppchen. Zwei dünne, blutige Rinnsale liefen am Hals der Ohnmächtigen hinab.
Diego erhob sich wortlos, warf ihr einen Handkuss zu und rannte los.
Ben hinterher, Richtung Hauptbahnhof.
Nach wenigen Minuten ließen sie sich auf die bezogenen Sitze der Straßenbahnlinie 13 fallen. Richtung Eisenbahnstraße. Nach Hause. Ben blickte Diego an, der zufrieden aus dem Fenster grinste.
Er selbst spürte wieder die Sucht. Zu viel Stress – zu wenig Kokain. Seine Beinmuskeln brannten vom schnellen Lauf. Sein Herz raste und die Gedanken überschlugen sich.
Was hatte er nur getan? Jetzt war er auch noch ein Frauenschläger und Dieb. Er fühlte, dass er einen nächsten Schritt gegangen war. Eine weitere Treppenstufe nach unten.
Und doch schrie alles in ihm nach dem weißen Pulver, welches ihn am Leben hielt und dafür sorgen würde, das heutige Geschehnis schnellst möglich zu verdrängen.