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Eine Winzigkeit zuviel

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18.02.2009
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Eine Winzigkeit zuviel

Ich bin müde. Alle, leer, erschöpft, ko. Arme und Beine wiegen unmöglich viel, und das, obwohl ich sie auf dem Sofa abgelegt habe. Mein T-Shirt klebt noch an Brust und Rücken und wenn ich Pech habe, bleiben Salzflecken auf dem dunkelblauen Stoffbezug. Das Fenster ist weit offen und vermutlich werde ich früher oder später zu frösteln anfangen. Aber der Flügel ist genau einen halben Meter zu weit entfernt, um ihn erreichen und schließen zu können. Die Dusche am anderen Ende des Flurs, eingeklemmt zwischen Toilette und Waschbecken meines winzigen Bads ist völlig unerreichbar. Zum Glück habe ich mir eine Wasserflasche aus der Küche geholt, ehe ich meine Gebeine hier nieder bettete. Durst ist etwas Höllisches, aber irgendwie mag ich das Gefühl auch, wenn ich die letzten Kilometer laufe und mein Hals vor Sehnsucht nach Flüssigkeit ausbrennt. Jeder Schritt in die richtige Richtung bringt mich näher und näher und ... kein anderer Gedanke hat Platz.
Nicht die Party gestern Abend. Nicht der Nachhauseweg in Sommerdunkelheit, die nie so finster wird wie eine Winternacht. Nicht das flüchtige, beinahe zufällige Zusammenstoßen zweier Hände, die sich finden und verlieren und wieder finden. Nicht das Schweigen, nachdem bereits so viel gesagt wurde, und das dennoch nicht zu still ist, sondern in das man sich einkuscheln will wie in eine vertraute Couchdecke.
Wenn ich mich nur müde genug laufe, schläft auch die kribbelnde Hoffnung auf einen Anruf, eine Email, eine SMS ein.
Ich schließe die Augen, durch die rotbraune Dunkelheit flackern Blitze und merkwürdige Kreise. Die Luft streicht über meine erhitzte Haut, das Fensterholz knallt gegen den Blumenübertopf, den ich als Barriere aufs Brett gestellt habe. Terracotta mit uralten Aufklebern aus Nutellagläsern und Hanutapackungen darauf. Nationalspieler der WM 1990, ein Rudi Völler mit verblichener Löwenmähne neben Lucky Luke, der auf einem Grashalm kaut. Ein Relikt aus dem Davor. Ich kann sämtliche Gegenstände in meiner Wohnung in davor und danach teilen.
Beinahe alle Bücher im Regal: danach. Uhr über dem Kühlschrank: danach. Schrank im Flur: davor. Vier von sechs Bettbezügen in der Kommode: danach. Die rotlackierte Minigießkanne: davor.
Und so weiter.
Ich kann mich riechen, aber es riecht nur feucht, noch hat sich der Schweiß nicht zersetzt. Wenn ich hier liegen bleibe, bis mein Shirt getrocknet ist, kann ich den ganzen Tag in meinen muffigen Sportklamotten bleiben und es wird niemanden stören. Weil es niemand weiß. Weil niemand diese Wohnung betreten wird, am wenigsten er.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, Eugen Roth.
Vielleicht wäre es einfacher, wenn jeder es sofort sehen könnte. Ein Bein zu wenig, ein Arm zu wenig, ein Kopf zu viel. Dann hätte es den Spaziergang gestern Nacht, durch Mückenschwärme unter Straßenleuchten und bittersüßen Sommerblumengeruch, nie gegeben. Weil niemand eine zweiköpfige Frau nach Hause begleiten würde.
Mir sieht man nichts an. Nicht sofort. Da scheint nichts zu wenig, nichts zu viel, auf den ersten, den zweiten, den dritten Blick.
Er könnte mich küssen und würde es nicht merken. Wir könnten händchenhaltend die Alten Meister anschauen gehen und hinterher am Kai Eis essen. Er könnte meine Brüste berühren und er würde nichts merken. Wir könnten eng umschlungen auf diesem Sofa liegen und uns DVDs ansehen.
Aber irgendwann, irgendwie würde es ihm auffallen. Das gar nicht so große weiße Pflaster, das behutsam polsternd an meinem Unterbauch klebt. Genau dort, wohin sich seine Hand suchend tastet, zärtlich, schmeichelnd. Erschreckt würde er innehalten, besorgt, sanft fragend meinen Blick suchen, nach der beruhigenden Erklärung darin.
Und ich könnte lügen. Bestimmt gibt es einige Ursachen, weshalb ich dort eine Wunde, eine schlecht verheilte Narbe habe, eine OP, eine Frauensache, vielleicht ein kleiner chirurgischer Eingriff, die Entfernung eines Muttermals.
Doch anschließend werden seine Hände weitertasten und den schmalen, weichen Beutel berühren. Für den es keine Lüge gibt und dessen Wahrheit zu schmerzhaft ist. Für mich. Weil es dann zu Ende ist. Eine Winzigkeit zuviel. Kein ganzer Kopf, aber ein schmaler Plastikbeutel.
Darum werde ich weiter laufen. Mir die Arme, Beine und vor allem den Kopf müde laufen. Tag um Tag.
So wie ich Tag um Tag in meinem winzigen Bad stehen werde, das Pflaster wechseln, darauf achten, dass der schmale Plastikverschluss sauber bleibt, keimfrei, die Wundränder rosig und nicht geschwollen. Und den Beutel wechseln, so routiniert, wie andere Menschen das Klo benutzen.

 

Hallo Nikita,

hat mir gut gefallen, eine sehr einfühlsame Schilderung eines Schicksals und mE sehr treffend beschrieben.

Am Anfang hat mich dieses "davor" und "danach" etwas gestört, am Ende wusste ich es dann einzuordnen und kann gut nachvollziehen, dass man als Betroffene das Leben nach Schicksalsschlägen vielleicht so einteilt.
Gefallen haben mir vor allem die Vergleiche mit den Armen, Beinen oder Köpfen, mit dem Offensichtlichen, aber die Winzigkeit zuviel, die am Ende vielleicht eine Beziehung verhindert. Und dann versucht sie den Schmerz über die eigene Unzulänglichkeit wegzulaufen oder vielleicht davon zu laufen.

Ein paar Sächelchen sind mir noch aufgefallen:

Wir könnten händchenhaltend die Alten Meister anschauen gehen und hinterher am Kai Eis essen gehen.

Da ist mir ein "gehen" zuviel: ... die Alten Meister anschauen und hinterher am Kai Eis essen gehen.

kleiner chirurgischer Eingriff,

nach "kleiner" Komma.

Und den Beutel wechseln, so routiniert, wie andere Menschen das Klo benutzen.

Und hier meine ich nach "routiniert" KEIN Komma, aber ich kann mich täuschen.

Jedenfalls sehr gerne gelesen.

Liebe Grüße
Giraffe :)

 

Danke Giraffe!

Das mit dem zweimal gehen fiel mir auch auf!

aber das Komma nach kleiner muss nicht stehen, weil es der chirurgische Eingriff ist und sich klein darauf und nicht nur auf eingriff bezieht!

Danke!

 

Hey NikitaF,

ich mag Deine Sprache und die Ruhe die von ihr ausgeht. Ich mag Deine Art, Dich mit Schicksalsschlägen auseinander zu setzen, die nicht "Holzhammer mäßig" auf den Leser einschlagen, sondern den Alltag im Blick behalten und somit eine ganz eigene Dynamik entwickeln.

Mir hat sie ausgesprochen gut gefallen, Deine Schilderung der "Unzulänglichkeit", die keine ist, aber in Zeiten des "perfekten" Körpers als solche empfunden wird - durch die Anderen und irgendwann auch durch sich selbst. Leider. Dieses "anders sein" und die damit einhergehende Ausgrenzung, die Einsamkeit in die man sich zurück zieht, das alles findet Platz in der doch recht kurzen Geschichte.

Das Laufen, die Suche nach einer Bestätigung / Befriedigung, das Hoffen auf das körperliche Ko, was einen schlafen lässt, ist ein schönes Bild.
Das Vorher - Nachher vollkommen nachvollziehbar.

Textkram:

eingeklemmt zwischen Toilette und Waschbecken unseres winzigen Bads

Wer ist uns? Hat sie dem Beutel eine eigene Persönlichkeit gegeben. hat mich zum Ende hin verwirrt, wenn sie über ihr Alleinsein spricht.

Jeder Schritt in die richtige Richtung bringt mich näher und näher und...kein anderer Gedanke hat Platz.

Leerzeichen vor und hinter den Punkten

Nicht das flüchtige, beinahe zufällige Zusammenstoßen zweier Hände, die sich finden und verlieren und wieder finden.

So sanft, so zart, so schön :).

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, Eugen Roth.

Was für ein Satz!

Dann hätte es den Spaziergang gestern nacht,

Nacht

Er könnte mich küssen und würde es nicht merken. Wir könnten händchenhaltend die Alten Meister anschauen gehen und hinterher am Kai Eis essen. Er könnte meine Brüste berühren und er würde nichts merken. Wir könnten eng umschlungen auf diesem Sofa liegen und uns DVDs ansehen.

Händchen haltend?
Schön wie Du aufführst, was alles geht, ohne entdeckt zu werden.
Wie Du die Spannung steigerst, indem man sich fragt, was denn nun nicht geht.

Erschreckt würde er innehalten, besorgt, sanft fragend meinen Blick suchen, nach der beruhigenden Erklärung darin.

Mein Lieblingssatz!

Darum werde ich weiter laufen. Mir die Arme, Beine und vor allem den Kopf müde laufen. Tag um Tag.
So wie ich Tag um Tag in meinem winzigen Bad stehen werde,

Beabsichtigt? Ich fand es nicht so passend.

Sehr gern gelesen und berührt
Beste Grüße Fliege

 

Liebe Fliege, welch wundervolle Kritik!

Oh mann, bin richtig geplättet....*schweb*

Ja, das "unser" ist falsch, werde es ändern.Und das Tag um Tag ist beabsichtigt, es soll sozusagen die Parallele aufzeigen.

Und ganz generell: ist eigentlich klar, was mit der Prot los ist?

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo NikitaF,
deine Geschichte hat etwas, ist dicht und gefühlvoll erzählt und die Sprache gefällt mir auch.
Nachdem du aber selbst fragst, ob allen klar ist, was genau mit der Prot los ist, muss ich gestehen, genau benennen kann ich da nichts. Es handelt sich aus meiner Sicht um irgendein reales oder vermeindliches Gebrechen. Ob es sich dabei aber um einen künstlichen Darmausgang, eine vollzogene oder nicht vollzogene Geschlechtsumwandlung oder sonst irgendeinen realen oder eingebildeten Makel handelt, kann ich anhand des Textes nicht eindeutig entschlüsseln. Wenn es sich um einen künstlichen Ausgang handelt, wie ich annehme, ist das mit schweißtreibendem Ausdauersport kompatibel?
Vielleicht gibts du einem blinden Tor wie mir, dem deine Story trotzdem irgendwie gefallen hat, mal einen Tipp.
Gruß
tomtom

 

Hallo NikitaF,

ein Kürzestkommentar mit so etwas ennst Du dich ja aus ;) - wozu gibt es eigentlich Stomakappen und zweitägliche Darmirrigation? Ich gehe von einem Darmstoma aus, Urostomen werden nur noch in den wenigsten Fällen angelegt, eher ein künstlicher Harnausgang über die Bauchdecke, mit intermittierendem Katheterismus.

Und: ich denke, ein Leser ohne medizinische oder pflegerische Vorbildung bzw. ohne einen solchen Fall persönlich zu kennen, kann nicht erkennen, was die Frau hat. Für das Gros Deines Publikums bleibst Du zu kryptisch.

Die Gefühlslage der Prota erreicht mich kaum - es sei denn, es wäre kurz nach der Operation, oder sie würde im Text selbst die Zurückweisung wegen des Stomas erleben.

Aber, sorry, es gibt einfach zu viele Menschen mit irgendwelchen körperlichen Behinderungen oder "Defekten" (grauenhaftes Wort), die nichtsdestotrotz in einer glücklichen Beziehung mit einer Person leben, die sich erst einmal in dem Umgang mit dem Handicap einfinden musste.

Diese Beziehungsentwicklung hätte ich spannend gefunden, zu erzählen. Oder wie das Alltagsleben in einer solchen Beziehung praktisch aussieht, oder von mir aus auch das beziehungslose Alltagsleben: Sport, Arbeit, Kleiderkauf etc.
Oder von mir aus auch konkret, wie eine Beziehung daran scheitert, dass jemand keinen "defekten" Gegenüber möchte.

Aber so isses mir zu wenig - ein bisschen Betroffenheit für ein tragisches Schicksal.

LG, Pardus

 
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Hallo!

Ich lese jedwede Kritik mit Spannung, Pardus, schrieb ich bereits.
Mich interessiert das Thema einfach, weil es sich um eine Behinderung handelt, die eine Nicht-Behinderung ist oder sein könnte. Eine mehr psychische Behinderung, als eine reale, auch wenn das wechseln der Kathederbeutel gewiss nervig ist.
Ich gab der Prot kein Alter, aber eins darfst du dir - ich gehe mal davon aus, pflegeleicht und gesund - vorstellen: dass die angst einen Menschen so sehr in die Isolation zu treiben vermag, dass er sich rein vorstellungstechnisch bereits jede Option auf normale Partnerschaft nimmt.

Ich meine, stell dir einen halbwüchsigen Jungen vor, gesund, strotzend vor Lebenskraft (jaaa, ein wenig Klischee darf sein): und dennoch nimmt er das Maßband her und misst und prüft im schlaffen, im erstarkten Zustand....zu klein, zu dünn, zu...?
Unsicherheiten über Unsicherheiten und das ohne Gebrechen!
Jetzt stell dir selbige Person vor, der die Scheisse unkontrollierbar aus der Bauchdecke läuft. Trägt das zur Selbstsicherheit bei, hilft das, daran zu glauben, dass er bei Frauen besser ankommt?

Was die empathie betrifft, die Gefühlswelt meiner Prot: sie verdrängt, versteckt ihre Gefühle (ich denke, beim zweiten Lesen wird dir das deutlich), läuft vor ihnen davon. Insofern muss und darf es keine blumige rührige Schilderung derselben geben.

@Tomtom: die Idee mit der Geschlechtsumwandlung ist interessant :-)
Dankr fürs Feedback!

@Pardus:

Der möglichkeiten viele...
http://de.wikipedia.org/wiki/Enterostoma

 

Hallo Nikita!

Die Dusche am anderen Ende des Flurs, eingeklemmt zwischen Toilette und Waschbecken meines winzigen Bads(Komma) ist völlig unerreichbar.

Durst ist etwasHöllisches

die nie so finster wird(kein Komma) wie eine Winternacht.

Ich kann sämtliche Gegenstände in meiner Wohnung in davor und danach teilen.

Schöne Stelle.

Beinahe alle Bücher im Regal: danach. Uhr über dem Kühlschrank: danach. Schrank im Flur: davor. Vier von sechs Bettbezügen in der Kommode: danach. Die rotlackierte Minigießkanne: davor.
Und so weiter.

Das hingegen würde ich streichen, es ist ja schon klar.

liegen bleibe(Komma) bis mein Shirt getrocknet ist

Dann hätte es den Spaziergang gestern Nacht, durch Mückenschwärme unter Straßenleuchten und bittersüßen Sommerblumengeruch(Komma) nie gegeben.

Würde ich da setzen, weil. :)

Insgesamt fand ich es schön zu lesen, ich mochte die Sprache. Das Thema an sich hätte aber mehr hergegeben als eine schlichte Selbstreflexion. Sie überlegt ja nur. Das ist schon schön, wie in deinem Text, sie hat ja ein Problem, über das sie nachdenken muss. Aber das Schräge ist: Sie selbst weiß ja, was mit ihr nicht passt, aber in der Geschichte macht sie es spannend, weil sie ja erst am Ende sagt, was mit ihr nicht stimmt.

Warum passiert das so?

Wenn sie reflektiert, muss sie es ja vor sich selbst nicht so spannend machen. Dann wären ihre Gedanken anders sortiert, nicht wie in einer Geschichte. Daher wirkt die Erzählung auf mich künstlich, konstruiert.

Schöne Grüße,

yours

 

Hallo Yours, danke für das Aufzeigen der Schreibfehler und die Mühe!

Ja, warum das Ende als Pointe...ich glaube, das ist ein bisschen das Strickmuster meiner Kgs, sie mit der Aufkärung, Überraschung enden zu lassen...warum genau? Ich vermute, die angst des Autors, den Leser nicht genug fesseln zu können :-)

Danke Weltenläufer fürs Zusammenfügen, mein Fehler, bin das so gewohnt, werde es aber bedenken!

 

Hallo NikitaF,

ohne es für deinen Text negativ oder positiv zu bewerten, empfinde ich ihn zunächst als eine Geschichte spekulativer oder vorausinterpretierender Unterstellung. Deine Protagonistin empfindet nach einer Operation ihren Körper als Makel. Gerade diesen entsprechend zu "strafen" oder so zu belasten, dass er spürbar wird, ist psychologisch stimmig, auch wenn es natürlich andere Reaktionsweisen gäbe. Aber hier ist ja von deiner Protagonistin die Rede, sie reagiert nun einmal so. Dabei ist es fast egal, ob der Makel in einer amputierten Brust, einem künstlichen Harn- oder Darmausgang, künstlichen Gliedmaßen oder vielleicht auch nur in einem Gendefekt liegt. Er wird als solcher empfunden und in der Vorstellung der Empfindung des kompletten Umfelds unterstellt. Wenn ich mich hässlich finde, müssen alle anderen es auch tun. Die Welt sieht mich nur und ausschließlich mit meinen Augen. In diese Idee kann man sich festbeißen und verrennen, man kann sie zum Maßstab seines Lebens machen und dies danach ausrichten, sich zurückziehen, Kontakte vermeiden, sich quasi die Seele aus den Leib laufen und sich dabei immer wieder bestätigen, wie recht man hat. Andere Erfahrungen werden ja nicht zugelassen. So empfinde ich deine Protagonistin. Als ergäbe sie sich in ihr Schicksal ohne dies anzunehmen. Auch das ist psychologisch stimmig, es gäbe Alternativen, wie gesagt, aber über die erzählst du nichts und musst es auch nicht, denn es wäre ja nicht die Erzählung über deine Protagonistin. Insofern empfinde ich deine Geschichte in der Darstellung gelungen.

Ein guter Freund von mir lebt seit seinem dritten Lebensjahr durch eine Blasenkrebsoperation mit einem künstlichen Harnausgang in der Bauchdecke und seit er es erfassen kann mit dem Wissen um die durch die lebensrettende Maßnahme entstandene Zeugungsunfähigkeit. Nun habe ich zu ihm keine erotische Beziehung, gebe aber gern zu, dass ich, für den Fall, ich hätte, zunächst vielleicht verunsichert wäre, z.B. den Bauchnabel einfach zu küssen. Sicherlich aber keine Verunsicherung die bliebe.
Und von meinem Freund weiß ich, dass er ein ihn zufriedenstellendes Sexualleben hat und in einer glücklichen Beziehung lebt.
Mit dieser empirischen Gegendarstellung möchte ich deine Geschichte nicht infrage stellen, sie ist so möglich und in sich schlüssig, wie sie da steht.
Aber zum Glück muss es eben nicht so sein.

Liebe Grüße
sim

 

danke dir, Sim, für deine lange und ausführliche Kritik.
Ich glaube, es ist ein Grundproblem - vielleicht auch besonders ein Grundproblem der Autorin im Besonderen - das eigene Denken und Empfinden auf andere zu übertragen.
Ich habe längere Zeit mit essgestörten Frauen und Mädchen gearbeitet. Da sitzt vor dir ein Häuflein Mensch, zusammengeschrumpft auf das pure Skelett, entstellt durch das Hungern und erzählt dir, er habe nichts anderes verdient, nichts Gutes im Besonderen und das Leben im Allgemeinen erst recht nicht. Warum? Weil die Patientin wertlos sei, erklärt sie, hässlich, dumm, dick natürlich, aber insgesamt als Mensch einfach wertlos. Darum hat sie das Leiden verdient.
Und du siehst ein Geschöpf, das gerade sein abitur/Studium/die ausbildung mit überdurchschnittlicher Auszeichnung beendet hat, die für ihre Geduld, Liebenswürdigkeit, Sensibilität, ihren Witz und Humor gemocht, geliebt wird - von vielen, nur nie , niemals von ihr selbst.
Und es macht dich rasend, dass dieser Mensch das Hungern festhält, weil er sich so hasst - aus Gründen, die er zwar aufzählen kann, die aber stets nur ihn als einzigen überzeugen können.
Aber solange er - sie daran GLAUBT und keinen Gedanken an ein "anders" zulässt - solange ist es Realität, für diesen Menschen.
Leider.

 

Holla Nikita,

ich fange einfach mal mit dem Formalkram an:

Das T-Shirt klebt noch an Brust und Rücken und wenn ich Pech habe, gibt das Salzflecken auf dem dunkelblauen Stoffbezug. Das Fenster ist weit offen

Die Häufung von "das" empfinde ich als etwas zuviel des Guten.

Das Fenster ist weit offen und vermutlich werde ich früher oder später zu frösteln anfangen. Aber der Flügel ist genau einen halben Meter zu weit entfernt, um ihn erreichen und schließen zu können. Die Dusche am anderen Ende des Flurs, eingeklemmt zwischen Toilette und Waschbecken meines winzigen Bads ist völlig unerreichbar.

Das Fenster, der Flügel, die Dusche.

Ist dieser explizite Ding-Bezug in dieser Dichte beabsichtigt? Die eben eingeführte Ich-Erzählerin verschwindet sofort hinter einem Wust von Dingen ...

Jeder Schritt in die richtige Richtung bringt mich näher und näher und ... kein anderer Gedanke hat Platz.
Nicht die Party gestern Abend. Nicht der Nachhauseweg in Sommerdunkelheit, die nie so finster wird wie eine Winternacht. Nicht das flüchtige, beinahe zufällige Zusammenstoßen zweier Hände, die sich finden und verlieren und wieder finden. Nicht das Schweigen, nachdem bereits so viel gesagt wurde, und das dennoch nicht zu still ist, sondern in das man sich einkuscheln will wie in eine vertraute Couchdecke.

Den Bezug verstehe ich nicht. Beziehen sich die jeweiligen "Nicht" auf den "keinen anderen Gedanken"?


Zum Inhalt:

Was mir an der Geschichte gefällt, ist ihre Mehrdeutigkeit an der Stelle wo Du von "Davor" und "Danach" sprichst.

Für mich gab es beim Lesen nur eine einzige Möglichkeit: Protagonistin knabbert an einer zerbrochenen Beziehung (und ist unfähig eine neue Beziehung zu beginnen).

Dass im Rahmen der "Pointe" etwas ganz anderes auftaucht, das sich aber beim zweiten Lesen als völlig folgerichtig erweist, ist ein Qualitätsmekmal.

Auch das Bild der scheinbaren Marathonläuferin wird dadurch irgendwie stimmig, die Frau die sich noch bewiesen möchte, wie sportlich fit sie ist ...

Du beweist mit diesem Beziehungsgeflecht dass die Geschichte mehr ist, als ein reines melancholsiches Stimmungsbild ohne Handlung.

Lieben Gruß,

AE

 

Danke dir, AE! Deine anmerkungen bringen mich ins Grübeln - bin ich doch selbst jemand, dem Abwechslung wichtig ist, sei es bei der Wahl der Artikel, der Begrifflichkeiten, der Zustände. Nichts ist öder, als stupide Aneinanderreihung von Aufzählungen...nun muss ich nachdenken, was ich alternativ schreiben kann...

Zur Aufzählung der Dinge: ich glaube, ich wollte einfach das Bild schaffen, das Tableau, das sich auch ganz ohne Handlung denken lässt: eine erschöpfte, durchschwitzte Frau auf ihrem Sofa, allein in der Whg bei offenem Fenster.
Um dem Leser ein Bild anzubieten - und dann nicht weiter beschreibend den Zustand auszuweiten. Oder so.

Danke jedenfalls!

 
Zuletzt bearbeitet:

hallo NikitaF,

die Geschichte hat mich erreicht. Was man hätte besser machen können, wäre mir vielleicht beim dritten Lesen aufgefallen; Du hast ja schon genug Hinweise. Die kleine Irritation , daß man erstmal an eine vergangene Beziehung denkt, finde ich nicht passend.
Es gibt viele Phasen bei der Verarbeitung dieses Traumas; von der Zeit mit Symptomen, aber ohne Diagnose, der Diagnose selbst, der OP, der Zeit im Krankenhaus und der Reha. Bis zum neuen Selbstverständnis und halbwegs erfüllten Leben ist es ein weiter Weg, oft ist er zu weit.
Ich habe in meiner Zeit im Zivildienst viele Patienten mit künstlichem Darmausgang betreut und es jedesmal anders erlebt; jeder Patient hatte seine eigene Geschichte, seine besonderen Hürden zu überwinden.
Ich weiß von vielen alten Menschen, die sich freuen, auf diese Weise noch einige Jahre oder sogar Jahrzehnte am Leben teilzunehmen, meist am Leben anderer. Keine Menschen, die noch joggen.
Einmal war auf der Station eine junge Frau, gerade das Abi hinter sich, und stand vor genau so einer Operation - der blanke Horror. Es war eine Riesenerleichterung, als sich nach einigen Tagen herausstellte, daß der Eingriff vermeidbar war.

Unter den vielen Stufen, die ein Betroffener gehen muß, hast Du Dir eine ausgesucht, die es ermöglicht, mit sehr viel Leichtigkeit und Ruhe den Schicksalsschlag zu schildern. Eine sehr interessante Phase; der große Schock ist vorbei, nun geht es darum, ob und wieviel vom alten Leben wiedergefunden werden kann. Es ist genau der Übergang, für den sich die Kurzgeschichte eignet.

Gruß Set

 

Hallo NikitaF,

lange habe ich mich begragt, was du mit dieser Geschichtesagen willst und erst gegen Ende ist es mir aufgefallen. Dein Text hat etwas, aber ich muss sagen, dass du dich auf bloße Erklärungen beschränkst.

Dein Schicksalsschlag kommt gut rüber, aber in diesem fall würde ich mir wünschen, dass du mehr auf seine gefühle eingehst, als du es getan hast.

Einige Fehler sind mir auch aufgefallen, die ich für störend empfinde.

1. Ich bin müde. Alle, leer, erschöpft, ko.

Du bist Ko. von Knock out. Das würde bedeuten, dass du K.O. oderf K.o. schreiben solltest, aber der Punkt dazwischen sollte gesetzt werden.

2. Arme und Beine wiegen unmöglich viel, und das, obwohl ich sie auf dem Sofa abgelegt habe.

Eine Sache, die ich nicht verstehe. Der Satz ist gut, aber mich stört das ", und das," diese beiden Wörter würde ich streichen. Der ganze Satz bekommt mehr geltung, wenn du nach viel, obwohl schreibst.

3. Mein T-Shirt klebt noch an Brust und Rücken und wenn ich Pech habe, bleiben Salzflecken auf dem dunkelblauen Stoffbezug.

Das Wort "noch" sollte entfernt werden, da du vom laufen kommst udn jedem klar sein sollte, dass du schwitzt. So lange ist dein Lauf noch nicht her.

4. Das Fenster ist weit offen und vermutlich werde ich früher oder später zu frösteln anfangen.

Auch hier stört mich die Annahme. Du bist nicht zum ersten Mal gelaufen und besitzt diese Erfahrung. Du weißt, dass du zu frösteln beginnen wirst, warum dann ein "vermutlich"? Schreib doch "es ist eine Frage der zeit, bis ich ...", oder, "nicht mehr lange und ich ...
Aber eine Annahme?

5. Zum Glück habe ich mir eine Wasserflasche aus der Küche geholt, ehe ich meine Gebeine hier nieder bettete.

Hier stört mich das geholt, ich würtde sagen, dass du sie mitgebracht hast. Bei Gebeinen drängt sich mir der Gedanke an Leichen auf. Hier würde ich müde Knochen oder ähnliches vorziehen.

6. Durst ist etwas Höllisches, aber irgendwie mag ich das Gefühl auch, wenn ich die letzten Kilometer laufe und mein Hals vor Sehnsucht nach Flüssigkeit ausbrennt.

aber irgendwie mag ich das Gefühl auch,

diesen Satzteil würde ich ans Ende stellen, damit der Satz nicht unterbrochen wird.

7. Beinahe alle Bücher im Regal: danach. Uhr über dem Kühlschrank: danach. Schrank im Flur: davor. Vier von sechs Bettbezügen in der Kommode: danach. Die rotlackierte Minigießkanne: davor.
Und so weiter.

Hier habe ich mich gefragt, wann du mit der Aufzählung aufhörst. Meines Ertachtens stört sie den lesefluss und ist absolut überflüssig, weil du schon gesagt hast, dass du alles einteilen kannst.

8. Mir sieht man nichts an. Nicht sofort. Da scheint nichts zu wenig, nichts zu viel, auf den ersten, den zweiten, den dritten Blick.

Das " Nicht sofort." streichen, da du eine dopeldeutige Meinung hast. Du kannst nicht schreiben, dass man nichts sieht und dann behaupten, zumindest nicht auf den ersten Blick. Bei deiner Betrachtung scheint ja auch nichts zu fehlen.

Das waren die Fehler, die mich noch gestört haben. Ansonsten ist der text gut zu lesen und kommt durchaus esenswert herüber.

Gruß
Kyrios

 

Hallo Kyrios, danke für die Mühe, ich werde die aufgefallenen Dinge einarbeiten!

 

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