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Eine Winzigkeit zuviel
Ich bin müde. Alle, leer, erschöpft, ko. Arme und Beine wiegen unmöglich viel, und das, obwohl ich sie auf dem Sofa abgelegt habe. Mein T-Shirt klebt noch an Brust und Rücken und wenn ich Pech habe, bleiben Salzflecken auf dem dunkelblauen Stoffbezug. Das Fenster ist weit offen und vermutlich werde ich früher oder später zu frösteln anfangen. Aber der Flügel ist genau einen halben Meter zu weit entfernt, um ihn erreichen und schließen zu können. Die Dusche am anderen Ende des Flurs, eingeklemmt zwischen Toilette und Waschbecken meines winzigen Bads ist völlig unerreichbar. Zum Glück habe ich mir eine Wasserflasche aus der Küche geholt, ehe ich meine Gebeine hier nieder bettete. Durst ist etwas Höllisches, aber irgendwie mag ich das Gefühl auch, wenn ich die letzten Kilometer laufe und mein Hals vor Sehnsucht nach Flüssigkeit ausbrennt. Jeder Schritt in die richtige Richtung bringt mich näher und näher und ... kein anderer Gedanke hat Platz.
Nicht die Party gestern Abend. Nicht der Nachhauseweg in Sommerdunkelheit, die nie so finster wird wie eine Winternacht. Nicht das flüchtige, beinahe zufällige Zusammenstoßen zweier Hände, die sich finden und verlieren und wieder finden. Nicht das Schweigen, nachdem bereits so viel gesagt wurde, und das dennoch nicht zu still ist, sondern in das man sich einkuscheln will wie in eine vertraute Couchdecke.
Wenn ich mich nur müde genug laufe, schläft auch die kribbelnde Hoffnung auf einen Anruf, eine Email, eine SMS ein.
Ich schließe die Augen, durch die rotbraune Dunkelheit flackern Blitze und merkwürdige Kreise. Die Luft streicht über meine erhitzte Haut, das Fensterholz knallt gegen den Blumenübertopf, den ich als Barriere aufs Brett gestellt habe. Terracotta mit uralten Aufklebern aus Nutellagläsern und Hanutapackungen darauf. Nationalspieler der WM 1990, ein Rudi Völler mit verblichener Löwenmähne neben Lucky Luke, der auf einem Grashalm kaut. Ein Relikt aus dem Davor. Ich kann sämtliche Gegenstände in meiner Wohnung in davor und danach teilen.
Beinahe alle Bücher im Regal: danach. Uhr über dem Kühlschrank: danach. Schrank im Flur: davor. Vier von sechs Bettbezügen in der Kommode: danach. Die rotlackierte Minigießkanne: davor.
Und so weiter.
Ich kann mich riechen, aber es riecht nur feucht, noch hat sich der Schweiß nicht zersetzt. Wenn ich hier liegen bleibe, bis mein Shirt getrocknet ist, kann ich den ganzen Tag in meinen muffigen Sportklamotten bleiben und es wird niemanden stören. Weil es niemand weiß. Weil niemand diese Wohnung betreten wird, am wenigsten er.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, Eugen Roth.
Vielleicht wäre es einfacher, wenn jeder es sofort sehen könnte. Ein Bein zu wenig, ein Arm zu wenig, ein Kopf zu viel. Dann hätte es den Spaziergang gestern Nacht, durch Mückenschwärme unter Straßenleuchten und bittersüßen Sommerblumengeruch, nie gegeben. Weil niemand eine zweiköpfige Frau nach Hause begleiten würde.
Mir sieht man nichts an. Nicht sofort. Da scheint nichts zu wenig, nichts zu viel, auf den ersten, den zweiten, den dritten Blick.
Er könnte mich küssen und würde es nicht merken. Wir könnten händchenhaltend die Alten Meister anschauen gehen und hinterher am Kai Eis essen. Er könnte meine Brüste berühren und er würde nichts merken. Wir könnten eng umschlungen auf diesem Sofa liegen und uns DVDs ansehen.
Aber irgendwann, irgendwie würde es ihm auffallen. Das gar nicht so große weiße Pflaster, das behutsam polsternd an meinem Unterbauch klebt. Genau dort, wohin sich seine Hand suchend tastet, zärtlich, schmeichelnd. Erschreckt würde er innehalten, besorgt, sanft fragend meinen Blick suchen, nach der beruhigenden Erklärung darin.
Und ich könnte lügen. Bestimmt gibt es einige Ursachen, weshalb ich dort eine Wunde, eine schlecht verheilte Narbe habe, eine OP, eine Frauensache, vielleicht ein kleiner chirurgischer Eingriff, die Entfernung eines Muttermals.
Doch anschließend werden seine Hände weitertasten und den schmalen, weichen Beutel berühren. Für den es keine Lüge gibt und dessen Wahrheit zu schmerzhaft ist. Für mich. Weil es dann zu Ende ist. Eine Winzigkeit zuviel. Kein ganzer Kopf, aber ein schmaler Plastikbeutel.
Darum werde ich weiter laufen. Mir die Arme, Beine und vor allem den Kopf müde laufen. Tag um Tag.
So wie ich Tag um Tag in meinem winzigen Bad stehen werde, das Pflaster wechseln, darauf achten, dass der schmale Plastikverschluss sauber bleibt, keimfrei, die Wundränder rosig und nicht geschwollen. Und den Beutel wechseln, so routiniert, wie andere Menschen das Klo benutzen.