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Eine Zugfahrt, die ist lustig. Eine Zugfahrt, die ist schön.
Die Landschaften sausten dahin. Ich konnte die Geschwindigkeit richtig spüren, mit der sich der Zug fortbewegte. Viel sehen konnte ich nicht. Der ICE war vollkommen überfüllt.
Ich war genervt. Erst kam der Zug zu spät und dann war er auch noch so voll. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich mit einem Dutzend weiterer vollbepackter Passagiere in den Eingangsbereich zu quetschen und mich auf dem engen Gang auf den Boden zu setzen. Ich saß direkt vor der Klotüre, aus dessen Spalt ein ekelerregender Geruch mir in die Nase stieg. Ich wollte gar nicht wissen, wie viele Menschen sich an diesem Tag dort schon erleichtert hatten. Dass der Boden feucht war, bemerkte ich erst später, als meine Hose das dann auch schon leicht war. Mehr möchte ich gar nicht darüber sagen.
Auf jeden Fall, war es ein echtes Abenteuer von Hannover nach Würzburg zu kommen!
„Wir wünschen Ihnen viel Spaß und eine angenehme Reise mit der deutschen Bahn!“
Diesen Spruch hätten die sich echt sparen können!
So saß ich also vor dem Klo, der Boden war nass, es war eng, fremde Leute drängetn sich mit ihren Hinterteilen und koffern an mir vorbei und der Zug hatte Verspätung. Es konnte nur besser werden.
Doch ich war nicht die einzige Begeisterte, die voller Euphorie die Zugfahrt genoss. Alle Passagiere teilten so einen gewissen Gesichtsausdruck. Manche saßen auf ihren Koffern und lasen. Manch andere hörten Musik und starrten vor sich hin. Wieder andere hielten ihre Augen geschlossen und hofften wohl schnellst möglich nach Hause zu kommen. Genau wie ich! Die junge Frau neben mir, etwa 20 las ein Buch. PS: Ich liebe dich. Sie war jetzt schon die dritte an diesem Tag, die ich dieses Buch lesen sah. Doch man merkte, viel Lust zu lesen hatte sie auch nicht. Stattdessen unterhielt sie sich mit mir. Es ist schon erstaunlich, was für Leute man im Zug kennen lernt. Man erfährt Lebensgeschichten und Erlebnisse, die unterhaltsamer und realer sind, als PS: Ich liebe dich.
Nun saßen wir also alle gemeinsam in diesem Gang, machten ab und zu einem Toilettengänger Platz, unterhielten uns miteinander, wurden von den Bewegungen der Bahn leicht hin und her gewiegt und versuchten all das Schlechte zu verdrängen, dass uns so ärgerte. Genau das war es. Eine Zugfahrt eben: Nichts Besonderes. Nur stressig, anstrengend und unbequem wenn man keinen Platz bekam. Doch zum Teil auch interessant und kontaktfördernd.
Ab und zu stieg jemand aus und dann wieder jemand zu. Leerer wurde es nicht. Trotzdem verwickelte ich mich immer wieder in ein Gespräch. Die unterschiedlichsten Gestalten tummelten sich dort. Ein Geschäftsmann im schicken Anzug, zwei nette BWL- und ein Sinologie-Student der gerade an seiner Kaligraphie übte. Die Frau neben mir war Krankenschwester, dann war da noch ein Lehrer, zwei Punker. Ein Schriftsteller der die ganze Zeit über sein großes Vorbild Dan Brown und seine Theorien philosophierte. Viele Rentner und eine allein erziehende Mutter mit ihren Kindern. Viele Gesichter und viele Geschichten und doch eine gemeinsame Reise.
Eine Gruppe Kulturfahrer, wie sie sich nannten, waren besonders gut drauf. Sie ließen Plastikbecher rumgeben und schenkten ihren Leidensgenossen Wein aus.
Da verlangsamte sich der Zug auf einmal. Eine neue Haltestelle? Mitten in der Pampa?! Die Leute wunderten sich, doch noch bevor jemand aussteigen konnte, schallte eine Durchsage durch den Zug:
„Es besteht kein Grund zur Aufregung. Bitte steigen Sie nicht aus und bleiben Sie auf Ihren Plätzen. Aufgrund eines unbekannten Objektes sind wir gezwungen zu warten bis die Gleise geräumt werden. Es kann einige Zeit dauern bis die Fahrt weitergeht. Die Deutsche Bahn bittet um Verständnis und fordert Sie nochmals auf den Zug nicht zu verlassen.“
„Toll!“, dachte ich nur. Meinen Anschluss würde ich garantiert verpassen. Gemurmel war von überall her zu hören. Nur die Kulturleute nahmen es mit Humor und rissen ihre Witze. Andere nahmen die Situation sehr ernst und waren beunruhigt. Spekulationen machten die Runde.
Ein unbekanntes Objekt. Was das wohl war? Eine Kuh oder irgendein anderes Vieh? Ein Baum? Oder Müll? Oder sogar ein richtiger Mensch? Ein Toter?! Was war es das die Schienen blockierte und den Weg nach Hause?
So ging das die ganze Zeit. Und während die meisten der Leute sich den Kopf darüber zerbrachen, behielten andere besorgt und nervös ihre Uhr im Auge. Einen nervte das Warten besonders.
„ Warum musste sich da einer unbedingt vor unseren Zug werfen?! Warum nicht vor die scheiß Regionalbahn?!“ , platzte es aus ihm heraus. Doch darauf wusste keiner zu antworten. Vielleicht war es ein psychisch Kranker, der sich vor den Zug geschmissen hatte. Jemand, der mit sich und seinem Leben nicht mehr klar kam. Ein Unfall. Oder sogar ein Mord!
„Vielleicht wurd’ da jemand ufd’ Gleis gschubst!“, sagte eine alte Omi, die gut auf die Rolle der neugierigen Mutter vom Bullen von Tölz gepasst hätte.
„Krass“, fing einer der Punker an. „Wenn ich mir vorstelle, dass da alles voller Blut ist…“ „ So ein Quatsch! Das Ding wurde angefahren und nicht niedergemetzelt wie bei deinen Counter-Strike-Spielchen!“, erwiderte sein Kumpel. Eins der Kinder fing an zu heulen. „Jetzt hört doch auf mit den Horrorgeschichten!“, schimpfte die Mutter. Und schon waren alle ganz still. Nur noch das Schluchzen des Kindes und das Gemurmel aus den Abteilen drang auf den Gang.
Eins war klar: Wenn tatsächlich eine Leiche auf den Gleisen lag, dann würde es noch sehr lange dauern, bis die Polizei alles protokolliert und festgehalten hatte.
Und es ging und ging nicht weiter. Der Zug bewegte sich kein Stück und die Anspannung wuchs stetig an. Was fiel dem Ding ein genau vor unserem Zug zu sterben!? Wenn es überhaupt ein Ding war und überhaupt gestorben! Es war ein Rätsel, das uns alle beschäftigte.
Ich hoffte nur schnellstmöglich nach Hause zu kommen. Auch Nicole, die junge Frau neben mir schaute nervös auf die Uhr. Es stellte sich heraus, dass sie den gleichen Anschlusszug erwischen musste wie ich. Ansonsten hieß es für uns beide 2 Stunden warten! Doch ich war beruhigt, nicht alleine auf dem Bahnhof warten zu müssen.
„Die deutsche Bahn bittet Sie um Verzeihung. Der Zug fährt jetzt weiter.“ Applaus durchfuhr den ICE wie eine LaolaWelle.
Ich verpasste natürlich meinen Anschluss.
Doch was war es nun, das unbekannte Objekt?
Tja… wie, was und warum, das weiß ich bis heute immer noch nicht...
Dies ist eine wahre Geschichte vom Oktober 2005.
(c) beeljata