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Einen Augenblick lebendig
Sie sagt mir, ich soll mich beruhigen. Sie sagt, cool bleiben. War doch nichts. Ist doch überhaupt nichts passiert. Sie sagt, atme tief durch, schließ die Augen dabei und dann fühle.
Fühl die Welt und fühl die Scheine in deiner Tasche. Fühl den Regen, den Wind, der ihn dir ins Gesicht trägt. Fühl die Alarmglocke … du sollst sie nicht hören, nur fühlen. Fühl die Hand in deiner Hose. Fühl die Sterne über dir, die Kombiwagen, die über die Straße rollen. Fühl all die Mädchen, die gerade in diesem Augenblick gefickt werden.
Und jetzt, fühl dich.
Es ist nicht so, dass ich keinen Schiss gehabt hätte. Schiss vor Männern, die mir ihre Finger in meinen Hintern stecken, um darin nach Drogen zu schürfen. Schiss vor Anwälten, Richtern und Untersuchungshaftgitterstäben. Und ob ich Schiss gehabt habe.
Aber jetzt, da ist die Angst weg. Da stehe ich hier, mit ihrer weichen, kleinen Hand in der Hose, mit den langen Fingernägeln, die über meine Vorhaut kratzen und nirgends Angst. Nur, dass es sich gut anfühlt, nicht allein die Hand, sondern alles. Das Geld in meiner Jackentasche gibt Wärme ab, heizt meinen Körper von Außen wie eine Wärmflasche. Ich lächle, während Wasser in Strömen über mein Gesicht fließt und kurz denke ich daran, dass das Geld nass wird. Ich frage mich, wie viel es eigentlich ist.
Sie fragt, und, wie fühlst du dich?
Sie hat gewusst, dass ich mich gut fühlen würde.
Da ist etwas erwacht in mir. Etwas, das ich bis heute nicht wirklich gekannt habe. Als würde es etwas geben, das wichtig wäre. Das mich lebendig macht. Wenn auch nur für einen Augenblick.
Ich sage, Wahnsinn. Ich sage, so etwas wie das hier, das kannte ich nur … das kannte ich bis jetzt noch nicht.
Ich öffne die Augen, sehe in die ihren und sage: Ich liebe dich.
In diesem Augenblick ist es tatsächlich wahr.
Wir schlagen die Richtung zu meiner Wohnung ein. Meine Hände sind in den Jackentaschen vergraben und Ninas Arm ist in meinen eingeharkt. Die Skimaske hängt an meinem Gürtel, feucht und schwer wie ein toter Fisch. Meine rechte Hand spielt mit den Geldscheinen, als würde sie versuchen, Karten zu mischen. Wir schweigen. Schweiß verklebt meine Achseln mit dem T-Shirt und Regen läuft mir über den Rücken.
Ninas dünne federähnliche Haare kleben an ihrer Stirn, müssen ihr die Sicht versperren. Mascara verläuft unter ihren Augen wie Schatten und die Schneidezähne, mit denen sie auf ihrer Unterlippe kaut, glänzen im Dunkeln.
Sie ist nicht wirklich schön. Sie ist dünn und knochig, sie schminkt sich zu stark und wenn sie neben mir aufwacht, klebt ihr Gesicht am Kopfkissen. Sie rasiert sich an unzähligen Stellen ihres Körpers, weil sie das Gefühl einer Rasierklinge liebt, obwohl dort sichtbar keine Haare wachsen. Und trotzdem kann ich ihr die Anziehung, die sie auf mich ausübt, nicht absprechen.
Sie ist meine erste Freundin. Ich bin zweiundzwanzig und sie ist das erste Mädchen, das ich je gefickt habe. Nicht das erste, das je von mir gefickt werden wollte, nur das erste, das ich ficken konnte.
Ich kann nicht mit jedem Mädchen schlafen. Ich kann nicht jede Haut unter meinen Fingern fühlen. Nicht jedes Mädchen ist angenehm, nicht jedes zu ertragen.
Keine vor ihr hat mir etwas gegeben, die anderen wollten mir nur etwas nehmen.
Sie geht vor mir in die Wohnung und wirft sich ins Bett. Ich sage ihr, dass sie nass vom Regen ist und ich darin heute noch schlafen will.
Im Bett, meine ich.
»Weichei.« Sie lächelt dabei. »Da hast du ungefähr tausend Euro in deiner Tasche, die du heute Vormittag noch nicht hattest und alles, was du zu mir sagt, ist: Mach das Bett nicht nass. Da soll noch jemand überrascht sein, dass du dich nicht durchsetzen kannst.«
»Ich kann mich durchsetzen.«
»Beweis es«, sagt sie und wälzt sich im Bett. »Beweis es, beweis es, beweis es.«
Ich gehe in die Küchennische, stelle den Wasserhahn auf kalt und trinke aus meinen Handflächen. Das Licht geht immer wieder an und aus und ich verdrehe die Augen, als mir klar wird, dass sie mit dem Schalter spielt, um mich zu reizen.
»Wenn das so ist, schlaf ich auf der Couch.«
»Oho! Er will auf der Couch schlafen!«
Ich fische das Geld aus meiner Tasche, lasse die Scheine einzeln durch die Finger gleiten und setze mich dann auf den wackeligen Barhocker, der vor der Küchentheke steht und dessen eines Bein kürzer ist als die restlichen. Ich fange an, das Geld vor mir auszubreiten.
Geldscheine geben mir ein gutes Gefühl. Sie sind knittrig und weich und selbst, wenn sie erst wenige Jahre alt sind, haben sie etwas Erhabenes an sich. Etwas Altes, Erfahrenes. Das Meiste sind Fünfziger. Zwei Hunderter, der Rest Zwanziger und Zehner. Ich frage mich, ob etwas von dem Geld bereits einmal mir gehört hat.
Hinter mir fängt Nina an zu erzählen. Wie ich bei der Sache ausgesehen habe, so gefährlich, so männlich. Sie sagt, du hast ausgesehen wie ein echter Kerl. Nicht wie Dennis, sondern wie ein Filmstar.
Ich habe geleuchtet, sagt sie, während ich mit der Waffe ihres Vaters auf den Verkäufer gezielt habe. Geleuchtet wie ein Stern, und nicht nur sie habe das gesehen.
Dass die Waffe nicht geladen gewesen ist, weiß sie nicht.
Ich sollte das zum Beruf machen, meint sie, sagt mir immer wieder, dass ich ein Talent hätte, von dem niemand eine Ahnung gehabt hätte und dass ich doch dieses Talent nicht wegwerfen sollte, müsste mir doch klar sein, wie wenig Begabungen ich sonst habe.
Ich nicke nur. Dass sie mir hier kein Kompliment macht, ist ihr nicht bewusst.
Nina sagt, mein Held. Mein Held außerhalb der Mauern.
Was genau das bedeutet, weiß ich nicht.
Vor mir liegen eintausendfünfundachtzig Euro. Wenn man es hochrechnet, nicht viel. Aber es ist nicht das Geld, das zählt, sondern das Gefühl, ausgerechnet diese Scheine zu besitzen. Geld, das vor wenigen Stunden noch jemand anderes gehört hat.
Nina schläft seufzend. Sie trägt noch immer die feuchte Jacke und ihr Haar glänzt im Neonlicht.
Sie wohnt nicht mehr zu Hause. Weder hat sie mich gefragt, ob sie hier einziehen kann, noch habe ich sie darum gebeten, hier ist sie jetzt trotzdem. Kosmetikartikel bevölkern den Medizinschrank in meinem Badezimmer, das Aspirin, das Dolormin, Magnesium- und andere Brausetabletten stehen jetzt im Gefrierfach und Eiswürfel besitze ich keine mehr.
Wenn ich etwas gegen Kopfschmerzen nehme, bekomme ich davon Gehirnfrost.
Fünf Cola Light Flaschen stehen im Kühlschrank, ungefähr zwanzig verschiedene Joghurte, von denen sich die Hälfte bereits Wochen über dem Verfallsdatum befindet, und überall Lippenpflegebalsame. Meine Getränke stehen im Schrank unter der Spüle, der Mülleimer steht in dem Herd, den wir schon lange nicht mehr benutzt haben, aber den meisten Abfall werfen wir aus dem Fenster in einen Garten, der aussieht, als hätte ihn noch nie jemand betreten.
Seit Nina hier wohnt, ist fast jeder Gegenstand zweckentfremdet worden. Meine Getränke sind immer warm und kühlen kann ich sie nicht, weshalb ich fast nur noch Leitungswasser trinke. Trotzdem werde ich sie nicht bitten zu gehen.
Ich lernte Nina vor zwei Monaten kennen. Ich stand Schlange vor der Geisterbahn eines Rummelplatzes und wartete darauf, dass der Dreißigjährige mit dem billigen Make-Up meine drei Euro gegen ein Ticket austauschte, das mir fünf Schritte weiter ein Vierzigjähriger mit etwas besserem Make-Up wieder abnehmen würde. Ich hielt das Ganze für sinnlos. Nicht die Ticket-Tauscherei, sondern die Geisterbahn. Ich wollte Angst haben, doch als ich in das Gesicht der beiden Männer blickte, war mir klar, dass ich diese dort drin nicht finden würde. Man hörte Mädchen kreischen, Jungs lachen, weil sie wussten, wo diese Mädchen Schutz suchen würden. Ich stand hier allein, niemand, der sich an meinen Arm klammerte.
Hinter mir sagte jemand, Geisterbahnen seien der Versuch, dass wir in unserer modernen Gesellschaft Angst vor dem Tod bekommen würden. Dasselbe Schema wie in Horrorfilmen. Irrationale Ängste werden vorgegaukelt, um rationale zu erzeugen. Seien wir ehrlich, wer von euch hat sich schon mal wirklich über den Tod Gedanken gemacht?
Es wurde gekichert.
Ja ja, lacht nur. Spätestens, wenn ihr einmal seht, wie vor euren Augen ein kleiner Junge von einem Cabrio zu Mus gefahren wird, vergeht euch das.
Ich drehte mich um. Vier Mädchen standen zwei Reihen hinter mir. Die meisten lächelnd und betrunken von billigem Bier, das in Zelten bereits an vierzehnjährige ausgeschenkt wurde. Nina nicht. Ihr war es Ernst.
Denkt doch darüber nach, sagte sie und band sich das Haar im Nacken mit einem Zopfgummi zusammen, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand euch mit einem Messer zerfleischt, im Gegensatz dazu, dass ihr in einen U-Bahn-Schacht stürzt? Es ist wahrscheinlicher, dass ein Krokodil euch zur Hälfte auffrisst, als dass jemand mit einem Anglerhaken euch die Kehle aus dem Hals reißt und dann eure Augen verspeist.
Die anderen Mädchen hielten das wohl für einen Versuch, ihnen Angst zu machen, doch als ich Nina in die Augen blickte, war mir klar, dass das keine Scherze waren. Sie war davon überzeugt.
Der Geschminkte riss mir die Karte aus der Hand und der besonders grimmige Gesichtsausdruck ließ mich eher auflachen, als dass er mir Angst gemacht hätte. Ich ging hinein.
Es war düster. Spiegel hinten an den Wänden und an der Decke und hinter mir sagten Lautsprecher, ich sollte meinen Arsch bewegen, ich dreckiger kleiner Feigling. Ich blieb stehen, an mir gingen bereits die nächsten Jugendlichen vorbei, aber ich wollte auf die Mädchen warten. Auf eines davon.
Doch als sie eintraten, wusste ich kurz nicht, was ich sagen sollte. Das Licht unzähliger Schießbuden beleuchtete sie von hinten und als Nina an mir vorbeiging, stieß sie mich mit ihrem Ellbogen in die Hüfte. Sie entschuldigte sich nicht.
Sie waren mir bereits einige Meter voraus und ich sagte: Also, wenn du jemanden suchst, der Ahnung vom Tod hat, hier bin ich. Ich sagte: Sieh mich an, irgendwie bin ich doch längst tot. Am verwesen.
Ich übertrieb völlig, doch ich wollte ihr Interesse gewinnen.
»Wenn du jemanden suchst, der weiß, was Schmerzen bedeutet, nimm mich.«
Sie drehte sich noch einmal um und dann lächelt sie. Sie fragte mich, was ich bin.
Auf der Suche, sagte ich. Auf der Suche nach dem Leben.
Wir trafen uns eine langweilige Woche lang, die nur daraus bestand, auf Bänken, in Cafes oder Kinosesseln zu sitzen und in die Stille oder Lärm zu schweigen. Popcornfilme und Passanten liefen an uns vorbei und alles, was wir zueinander sagten, waren Begrüßungs- und Verabschiedungsfloskeln.
Ich war zu dieser Zeit arbeitslos, meine Eltern zahlten mir und meinem Bruder, der sich bereits seit Wochen nicht mehr hatte blicken lassen, die Wohnung, nur um uns nicht mehr zu Hause zu wissen, und Nina schwänzte oft die Schule. Als ich sie danach fragte, sagte sie nur die beiden Wörter: Erwischt werden.
Als ob damit alles gesagt gewesen wäre.
An einem Dienstagnachmittag standen wir in einer Fünf-Mann-Schlange im Kino und warteten darauf, uns Plätze in der fünften Reihe zu kaufen, als ein Mann Ende Zwanzig sich an uns vorbei drängte.
Wahrscheinlich war es die Tatsache, dass die Schlange so kurz war, die mich ausflippen ließ. Die mich dazu brachte, den Kerl am Hemdkragen zu packen und noch während er Hey schrie, nach hinten zu zerren. Im Radio liefen die Beatles mit She loves you. Vielleicht wollte ich meinen Mann vor dieser Frau stehen, die ich doch davon überzeugen wollte, dass ich nichts mehr zu verlieren hatte. Vielleicht brachte mich das dazu, auf den Kerl selbst dann noch einzuschlagen, als bereits zwei andere Leute versuchten, mich von ihm weg zu ziehen.
Vielleicht war es aber auch der erregte Ausdruck in Ninas Augen.
Plötzlich entwickelten sich Gespräche. Wir redeten miteinander, meistens sprach sie. Nina erzählte mir alles über sich, über ihre Eltern, ihre ältere, perfekte, wunderschöne Schwester, beschrieb sie mir in all den lebendigen Einzelheiten, dass ich mir manchmal wünsche, die Schwester würde mit mir im Bett liegen, so großartig ging sie aus Ninas Erzählungen hervor. Nina erzählte mir von ihren Exfreunden, die alle älter gewesen waren als ich, davon, welcher weswegen im Gefängnis sitzt und erst jetzt, als ich vor dem Bett stehe und ihr beim Schlafen zusehe, wird mir bewusst, dass sie immer wieder versucht hat, mich zu einen von ihnen zu machen.
Sie stachelt mich zu Schlägereien an, aus denen ich fast immer als Sieger hervor gehe, was mich selbst überrascht. Sie sagt, wie gut ich aussehe, wenn ich jemandem die Fresse poliere. Dass sie meine Zukunft dabei sehen kann, und diese Zukunft würde ihr gefallen. Sie würde sie mit mir verbringen wollen.
Dass ich mir eine Zukunft mit meiner ersten Freundin eigentlich noch nicht ausmalen wollte, sagte ich ihr nicht.
Zwischen uns fing es an zu knistern. Ich gab ihr Ordnungswidrigkeiten, sie gab mir Sex mit einem beweglichen Mädchen. Ich weiß bis heute nicht, wie alt sie eigentlich ist. Wenn sie schläft, sieht sie aus wie vierzehn, wach geht sie für zwanzig durch. Ich kann ihr Alter nicht schätzen. Aber ich hoffe sie auf wenigstens siebzehn.
Ich werfe einen Blick auf die Geldbündel auf dem Küchentisch, erinnere mich an den ängstlichen Gesichtsausdruck des Ladenbesitzers, an den Schweiß, der unter meiner Skimaske geflossen ist und ein wohliger Schauer läuft über meinen Rücken.
Ich weiß, dass ich mit ihr nicht meine Zukunft verbringen werde, aber wenigstens ein paar Monate. Wenigstens solange, bis ich einen Rückschlag erleide. Wenigstens solange, bis ich das erste Mal Polizistenfinger in meinem Hintern habe.
Wenigstens solange, bis es etwas anderes gibt, das den Tod fern hält. Oder zumindest die Illusion davon.
© Tamira Samir