Mitglied
- Beitritt
- 08.12.2004
- Beiträge
- 1
Einen Moment, bitte
"Einen Moment, bitte. Ich verbinde", dringt es langsam bis in mich vor. Ich bin nervös, furchtbar nervös. Meine ganzen Arme sind schon zerkratzt. Tiefe Striemen ziehen sich vom Handgelenk bis zum Ellenbogen. Es brennt höllisch, aber ich kann nicht aufhören mich zu kratzen. Kann nicht auf meinem Stuhl sitzen bleiben, stehe auf und streife durch die Wohnung.
-verdammt wieso dauert das so lange-
Gott sei Dank bin ich allein zu Hause. Mama und Papa sind einkaufen gegangen, mit meiner kleinen Schwester.
Ich bin froh allein zu sein. Allein sein heißt für mich, mich nicht verstellen zu müssen. Keinem vorspielen zu müssen, wie gut es mir geht. Und vor allem nicht meinem Vater in die Augen schauen zu müssen. In diese verlogenen mir so verhassten Augen. Ich kann seine Nähe nicht ertragen. Aber jetzt ist er nicht da. Das beruhigt mich.
Ich habe den ganzen Nachmittag in Ruhe gelesen. Bis ich diesen Artikel gefunden habe. Diesen schrecklichen Artikel mit dieser verfluchten Telefonnummer. Diese wenigen geschriebenen Worte, die verursacht haben, dass all meine verdrängten Schmerzen wieder aus mir hervorbrechen, die meine tiefen Wunden aufgerissen und mich wie ein Schlag ins Gesicht getroffen haben. Wieso heute? Wieso jetzt? Wo ich mich doch gerade jetzt wieder gefangen hatte, mich aus meinem eigenen Sumpf gezogen und im Leben wieder nach vorne schauen konnte? Wieso?
-Autsch, verflucht-
Sehr unsanft landete ich auf dem Badewannenrand, wer hat dieses blöde Handtuch auf dem Boden liegen lassen? In meinem Kopf dreht sich alles und mich muss mich setzen.
Genau hier war es das erste Mal passiert. Mein erstes Mal. Das klingt so unschuldig und normal für ein Mädchen in meinem Alter, dass ich kotzen könnte. Jedes Mädchen träumt von ihrem ersten Mal. Es soll schön sein. So schön, dass man es am liebsten in die ganze Welt posaunen möchte. Jeder soll es wissen.
Ha, das ich nicht lache. Keiner will auch nur im Geringsten von meinem ersten Mal wissen, nicht einmal ich selbst. Und ich hasse ihn dafür. Dafür, dass er mein Leben auf solch grausame, ekelhafte Weise zerstören musste. Dafür, dass er mich so unnormal gemacht hat. Ja, dafür, dass ich nie jemandem stolz von meinem ersten Mal erzählen kann.
Genau hier, in dieser Badewanne, in diesem unserem eigenen Badezimmer, passierte es. Es war so ein schöner Tag, ich kam gerade aus dem Schwimmbad. Wollte nur schnell baden und dann mit Freunden ins Kino. Ich ließ Wasser ein und hüpfte gut gelaunt durch die ganze Wohnung. Keiner war zu Hause. Als ich fertig war mit meinem Bad, wollte ich gerade nach meinem Handtuch greifen, als die Tür aufging und mein Vater hereinkam. Ich sagte ihm er solle doch bitte noch schnell warten und wieder gehen, weil ich sowieso gleich fertig war. Und normalerweise machte er das auch immer. Doch an diesem Abend ging er nicht.
Er blieb stehen und schaute mich mit ganz seltsamen Augen an. Er schaute mich an, mit einem Blick, den ich noch nie bei ihm gesehen habe. Den ich aber im selben Moment schon ekelhaft und abstoßend fand. Langsam kam er näher, viel zu nahe. Ich wich zurück, doch er blieb nicht stehen. Ich wollte sagen, dass er doch endlich gehen sollte, aber ich konnte nicht, keinen Ton brachte ich über die Lippen. Er fasste mich an. Nicht wie ein Vater seine Tochter anfasst, nein ganz bestimmt nicht… eher wie ein Freier seine Nutte berührt, gierig und voller Verlangen.
Ich wollte schreien, wegrennen, wollte ihn wegstoßen, aber ich bewegte mich keinen Millimeter. Viel zu geschockt war ich. Ich stand einfach nur da und musste zulassen, was mein eigener Vater mit mir anstellte. Ich wehrte mich nicht, konnte mich nicht verteidigen. Dafür war er zu stark. Der körperliche Schmerz den er mir mit seinen perversen Gelüsten zufügte war nicht im Geringsten mit dem zu vergleichen, den er meiner Seele zufügte.
Aber ich war schon längst nicht mehr in mir. Wie aus einer anderen Perspektive betrachtete ich das ganze Geschehen. Als wären es nicht mein Körper; nur eine leblose Hülle. Und in dem Moment als er in mich eindrang, wusste ich, dass ich nie wieder glücklich sein werde. Nie wieder ein ehrliches Lachen über meine Lippen kommen wird, dass er mein ganzes Leben nur wegen seiner Triebe, die er nicht unter Kontrolle hatte, zerstörte. Und das nur um seine Lust zu befriedigen...
Ich weiß nicht wie lange es dauerte, aber plötzlich fand ich mich selbst wieder. Immer noch nackt kauerte ich genau an dieser Stelle auf den kalten Fliesen und genau wie jetzt liefen leise Tränen über meine Wangen. "Frau Doktor Fellner, Psychologin und Nervenärztin, am Apparat, wie kann ich ihnen helfen?", riss es mich aus meinen abscheulichen Gedanken, doch noch bevor ich ein Wort sagen konnte legte ich auf. Niemals werde ich ein Wort darüber verlieren. Niemals und zu niemandem.