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Einer der bewegendsten Momente des Hermann B. oder Hermann B.'s Heimkehr

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14.03.2006
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Einer der bewegendsten Momente des Hermann B. oder Hermann B.'s Heimkehr

Seine Eltern hatte er vor über einem Jahr zuletzt gesehen. Damals war er 20 Jahre alt gewesen. Jetzt saß im Zug. Richtung Westen. Richtung Heimat. Wieder auf dem Weg zu ihnen.

Seiner Mutter hatte er damals gesagt, dass er sich zu Hause von ihr verabschieden wollte. Er hasste Abschiedsszenen. Daher bat er sie, nicht mit zum Bahnhof zu kommen. Aber sie weinte trotzdem. Nur sein Vater sollte ihn ein Stück begleiten, weil er es ihm nicht so schwer machen würde. Schweigend und schweren Schrittes gingen sie bis zum Wildenbruchplatz. Dort trennten sich ihre Wege. Der Vater ging zur Arbeit, Hermann bog zum Bahnhof ab. Sie umarmten sich nur kurz, sich gegenseitig auf die Schulter klopfend. „Bis bald, mein Junge“, sagte der Vater. Als Hermann sah, dass der Vater schluckte, sagte er: „Wird schon, Vater. Ist ja bis jetzt immer gut gegangen.“ Er wollte zuversichtlich klingen. Irgendwann musste ja dieser Wahnsinn ein Ende haben.

Der Wahnsinn, den der Vater, ein strammer Sozialdemokrat, schon Jahre vorher detailgenau prophezeit hatte. Damals, als Hermann begann, sich zum Entsetzen der Eltern für die HJ zu begeistern. Sein Vater war ruhig und gelassen geblieben, gelassen wie er immer schien. „Du musst nicht immer alles glauben, was man dir erzählt, Hermann“, hatte er knapp gesagt. Die Stimme allerdings war derart klar und überzeugend gewesen, dass Hermann nachdenklich geworden war. Der Vater leitete das, was er sagen wollte stets mit dem einen verbotenen Satz ein: „Denk selber nach!“

Kurz vor seinem 21. Geburtstag, den er bereits wieder an der russischen Front verbrachte, hörte er zufällig die Nachricht, dass seine Heimatstadt im November 1944 den schwersten Luftangriff überstehen musste, den es dort gegeben hatte. Diesmal war es also nicht gut gegangen. Eine unsichtbare Schlinge zog sich um seinen Hals. Er verbiss sich die Angst, machte sich hart. Musste selbst sehen, wie er jeden einzelnen Tag überstand.

Einen Monat später geriet er in russische Kriegsgefangenschaft. Mit fast 3.000 anderen Soldaten. Manche hielten die Qualen, die Schmerzen und die Hoffnungslosigkeit nicht aus, unternahmen unter den Augen der Russen einen Fluchtversuch und wurden prompt erschossen. Delegierten Selbstmord, nannte er das. Viele seiner Kameraden lagen morgens tot in ihren Betten. Verhungert. Einmal brach eine Zwischenetage in der Baracke ein und erschlug eine Menge Gefangener. Typhus und Ruhr überstand er. Im Fieberwahn erschienen ihm Vater, Mutter, Bruder und Schwester, erleichtert lächelnd, ihn wieder zu sehen.

Irgendwann begann er aus Angst vor dem Verrücktwerden Selbstgespräche zu führen: „Hermann, du kommst hier raus!“ trichterte er sich ein und schaffte so das Unmögliche. Im November 1945 wurde er aus der Gefangenschaft entlassen. Als einer der 200 überlebenden deutschen Soldaten. Die Russen hatten ihn eines Morgens in einen Zug gesetzt. „Dawai, dawai!“ Schnell, schnell, befahlen sie den Deutschen. Und kaum, das er es so recht begriffen hatte, fuhr der Zug los.

Jetzt wollte er leben. Jetzt, wo der Wahnsinn ein tatsächlich ein Ende hatte. Er war gerade 22 Jahre alt geworden.

So rollten die Räder Tag um Tag. Während der endlos erscheinenden Fahrt döste er. Von Mangel und Krankheit geschwächt, gab er sich wie gewohnt seinen Wiedersehens-Träumen hin. Dass seine Füße sein Gewicht kaum tragen konnten, wurde ihm zum ersten Mal in Göttingen auf dem Bahnsteig bewusst, als er einen Aufenthalt hatte und umsteigen musste. Dort war er mit einer Frau ins Gespräch gekommen. Wo er herkomme, was er erlebt hatte, wo er hinwolle, frage sie ihn. Er antwortete ihr ungern. Er wollte nur wissen, wie es zu Hause aussah. Die Frau lächelte ihn mitleidig an und sagte: „Wo Sie hinwollen, steht kein Stein mehr auf dem anderen.“ Schwindelig war ihm da geworden, weil der den Boden nicht mehr gespürt hatte. Die Beine konnten seine 40 Kilo nicht mehr halten. Die Frau half ihm, sich auf ihren schäbigen Koffer zu setzen. Dennoch: Er wollte das alles nicht glauben. „Wird schon“, beruhigte er sich.

In der darauf folgenden Nacht hatte er kein Auge zugemacht. Die Bilder mit den freudigen Wiedersehens-Szenen, sein Halt während der Gefangenschaft, zersplitterten vor seinem inneren Auge. Sein Blick glitt immer wieder in die Ferne, seine Hände umklammerten krampfhaft seine Oberschenkel, die er mühelos mit einer Hand umfassen konnte.

Nach tagelanger Fahrt kam er in seiner Heimatstadt an. Mühselig setzte er einen Fuß vor den anderen. Seit Tagen hatte er nichts Vernünftiges mehr gegessen. Seine durchgetretenen Schuhe waren mit schmutzigen Lumpen umwickelt, damit sie nicht ganz auseinander fielen. Die zerfransten Hosenbeine endeten an den Waden. Er trug eine alte sowjetische Armeejacke, die weder passte noch wärmte. Wann er sich das letzte Mal gewaschen hatte, daran konnte er sich nicht erinnern.

Es war später Nachmittag, als er den Bahnhofsvorplatz betrat. Sein stumpfer Blick glitt über die zerstörten Häuser, die ihn erniedrigt grüßten. Der Bahnhofsvorplatz glich einer Mondlandschaft. Schutt legte sich auf seine Seele. Ohne Vorwarnung befiel ihn ein Zittern. Es begann in den Knien und kroch tückisch seinen ermatteten Körper empor. Atmen … er musste atmen. Und … denken. Er musste anfangen zu denken. Er konnte es doch bisher. Irgendwie.

Seine Vorstellungskraft versagte, denn er konnte sich nicht mehr ausmalen, dass sein Elternhaus noch stand. Es stand direkt gegenüber den Industrie-Anlagen von Thyssen.

Seine Vorstellungskraft versagte aber auch, sich die Eltern, die Schwester tot vorzustellen. Den gutmütigen, weisen Vater nie mehr sehen? Die Umarmungen seiner warmherzigen Mutter nicht mehr spüren. Das lebensbejahende, plötzlich aufbrechende Gelächter seiner Schwester Gerti, das die ganze Familie ansteckte, nie mehr hören? In seinem Kopf und seinem Herzen breitete sich ein großes verzweifeltes Nein aus. Er hätte nicht die geringste Ahnung, wo er dann heute Abend schlafen würde, was er in den nächsten Tagen essen würde. Seine Hoffnung glitt ihm aus den Händen.

Schleppend ging er weiter. „Einen Schritt nach dem anderen, Hermann!“ mahnte er sich und entschied intuitiv einen anderen, als den gewohnten Weg über den Wildenbruchplatz zu gehen. Zögernd nahm er Kurs auf die Vereinsstraße. „Die Beine bewegen, Hermann! Rechts, links, rechts, links“, sagte er zu sich.“ Noch trugen sie ihn. Er beschritt die Straße wie in Trance.

Am Beginn der Straße, auf der linken Seite hatten früher seine Schwester Gerti und sein vermisster Bruder Heinz im gleichen Textilgeschäft gearbeitet. Zu seinem Erstaunen sah er, dass das Haus noch stand. Das Geschäft gab es ebenfalls noch. Ein ängstlicher Hoffnungsschimmer glimmte unerwartet auf.

Vor dem Geschäft standen ein paar junge Frauen, im Gespräch vertieft. Vielleicht waren es Kolleginnen seiner Schwester. Ob er sie fragen konnte, ob sie etwas von ihr gehört hatten? Er sah an sich hinunter und wurde vor Scham mutlos. In seine Mutlosigkeit hinein ergoss sich plötzlich schallendes, lebensbejahendes Lachen, das ihn blitzartig elektrisierte.

Sein Brustkorb fühlte sich an, als wären ungestüme Fohlen in die Freiheit entlassen worden. Seine Gedärme aber krampften sich zusammen. Wenn sie es nun nicht war? Die Hoffnung musste im Zaum gehalten werden. Seine hageren Beine konnten dem widersinnigen Sturm in seinem Körper nicht mehr lange standhalten. Das spürte er.

Aber dann sah er, wie sich die junge Frau, der das Lachen gehörte, wie auf Kommando mit einer energischen Handbewegung aus dem Pulk löste und zielstrebig auf ihn zukam. Je näher sie kam, desto aufgeregter wurde ihr Schritt. Er erkannte sie nun. Tatsächlich. Sie war es. Er wollte ihren Namen rufen. Konnte aber nur schlucken. Seine Kehle brachte keinen einzigen Ton hervor.

Dann stand sie vor ihm. Als er sie ansah, wurde ihm klar, dass sie ihn nicht erkannte. Er musste sich sehr verändert haben. „Sind Sie Hermann B.?“ fragte sie mit hoffnungsfreudigem Lächeln, obwohl ihre Stimme Unsicherheit verriet.

„Ja“, sagte er erleichtert und zu Tode erschöpft. Dann brach er schluchzend zusammen. Auch seine Schwester weinte haltlos.

Nachdem sie sich einigermaßen gefangen hatten, umfasste Gerti fürsorglich den Arm ihres großen Bruders und sagte weich: „Komm, Hermann! Gehen wir nach Hause. Wir wohnen jetzt in Ückendorf. Unser Zuhause ist zerbombt. Aber wir haben ein Neues. Der Krieg ist vorbei. Und du bist wieder da. Vater und Mutti werden außer sein sich vor Freude.“

 

Hi momarei,

zwischendurch sind die Gefühle durchaus nachzuvollziehen, auch wenn ich einige Angaben für übertrieben halte. Vierzig Kilo sind bei einem Mann normaler Größe wohl eher im letalen Bereich anzusiedeln, das Umfassen des Oberschenkels mit nur einer Hand halte ich für eine Legende. Bei meiner Hand wäre der Oberschenkel dann vier Zentimeter im Durchmesser, das ist jedenfalls das Maß, das ich erhalte, wenn ich Mittelfinger und Daumen in einem Kreis aneinander halte. Auch mit so schmalen Oberschenkeln wäre dein Prot wohl eher tot.
Solche Übertreibungen des Elends halte ich angesichts der Situation für unnötig.
Stilistisch und sprachlich erscheint mir der Text etwas bieder und durch die narrative Erzählweise auch manchmal etwas weit weg vom Prot.
Vom Plot her frage ich mich, ob du mal Borchert gelesen hast?
Ein fehlendes Wort ist mir aufgefallen.

Das lebensbejahende, plötzlich aufbrechende Gelächter seiner Schwester Gerti, das ganze Familie ansteckte, nie mehr hören?
es fehlt "die"

Lieben Gruß, sim

 
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Hallo Sim,
lasse das mit dem letalen Bereich mal meinen Onkel hören. Diese Geschichte ist absolut wahr. Weil sie so unglaublich ist, habe ich sie auch aufgeschrieben. Er war mehr tot als lebendig als er zu Hause ankam. Er hat diese Geschichte meinem Bruder und anlässlich seines 83. Geburtstags erzählt und hat uns ziemlich erschüttert, da er absolut kein Märchenerzähler ist. Von Übertreibung kann also absolut keine Rede sein.

Was genau ist "bieder" für dich? Habe ich nicht verstanden. Was genau soll ich verbessern. Deine Kritik ist mir zu allgemein.

Und: Magst du Borchert nicht?

Danke für den Rechtschreibhinweis.

Viele Grüße momarei

 

Hallo momarei,

ich mag Borchert sogar sehr, genau das macht es für deine Geschichte schwierig. Sie vermag es nicht, mich zu packen.
Morphin hat gut ausgedrückt, was ich als bieder empfand.
Anders als du, kenne ich deinen Opa natürlich nicht. Ob sie wahr ist, es für mich als Leser unerheblich, denn wahr ist nicht gleichbedeutend mit glaubhaft.
Dabei ist mir natürlich bewusst, dass es immer wieder Situationen gibt, über die man denkt, wenn ich das so schreiben würde, nähme es mir niemand ab.
Die eine Hand um den Oberschenkel ist ja eine häufig verwendete Floskel, die veranschaulichen soll. Sie muss man nicht auf die Goldwaage legen. Bei den vierzig Kilo sieht es angesichts der Begebenheit, in der du sie schildest anders aus, denn da wäre die Frage, woher weiß der Prot es in dem Moment? Wann stand er auf der Waage? Die Genauigkeit lenkt (mich) hier also ab.
Zwischen "im letalen Bereich" und "mehr tot als lebendig" gibt es keinen so großen Unterschied.

Lieben Gruß, sim

 

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