Einer für Alle
Einer für Alle
Es kam mir gar nicht wirklich vor, was dort geschah.
Zu viert starrten wir auf den vollgeschrieben Wohnzimmertisch, dessen Oberfläche mit obszönen Eddingzeichnungen und debilen Sprüchen bedeckt war, wie man sie normalerweise an den Wänden von Gaststättentoiletten vorfindet.
Beziehungsweise starrten wir auf den kleinen Plastikbeutel der darauf lag.
Bis zur Hälfte war er mit feinem Pulver gefüllt, das von der Farblichkeit her an kleine, runde Kieselsteine erinnerte. Solche, die man beim Badeausflug mit der Familie früher aufgesammelt hat.
Seit Minuten hatte keiner von uns ein Wort gesagt. Nur flaches Atmen und das ledrige Quietschen des Sofas waren zu hören. Hin und wieder auch ein nervöses Husten oder Räuspern. Ansonsten herrschte eine ungewohnte Stille in der vernachlässigten Wohngemeinschaft.
Felix, ein bekennender Fetischist von Hüten mit Karomustern, dem ein Teil der Wohnung gehörte, stand schließlich auf und ging in das Zimmer nebenan um kurz darauf mit einem kleinen Spiegel und einer Rasierklinge wieder zu kommen.
Sein ‚Liebeswerkzeug’. Zumindest nach eigener Aussage. Liebe zu seinem Lebensstil. Zu Sex, Drugs und Rock’n Roll.
Beides lag immer in der obersten Schublade seiner Schlafzimmerkommode. Zwischen Kondomen, Gleitgel und benutzten Taschentüchern. Jeder wusste das. Denn jeder von uns hatte es mindestens einmal holen müssen.
Auf einer dieser Partys.
Die beinahe täglich stattgefunden hatten.
„Na gut. Packen wir’s an.“ sagte Felix als er die mitgebrachten Utensilien auf die Tischplatte legte. Etwas ratlos blieb er kurz stehen und kratzte sich an dem, unsauber geschnittenen, Rand der Nackenhaare, bevor er wieder Platz nahm. Er wirkte noch unsicherer als es gewöhnlich der Fall war.
Beherzt griff nun David - Felix’ Mitbewohner und dessen kompletter Gegenpart, was das Wesen angeht - nach dem Beutel und schüttete den Inhalt auf den Spiegel.
Ein weiteres Mal verweilte unser Blick auf dem Pulver, dass sich wie Sand verteilt hatte und nun eine kleine, abgerundete Pyramide bildete.
In unseren Gesichtern war eine seltsame Mischung aus Ekel, Faszination, Ehrfurcht, und einer grenzenlosen Überforderung mit der Situation, zu sehen.
„Und nun?“
Die Frage kam von Jan. Der links von mir auf der Couch saß. Er war ein hochgewachsener Mann Anfang Dreißig, mit einem stilechten Pilzkopf als Standardfrisur und lernte, zu der Zeit, Bestattungsunternehmer.
Dank ihm hatten wir uns getroffen, um dann den kleinen Haufen Asche zu fixieren, den er uns besorgt hatte.
Es waren genau zwei Gramm.
Zwei Gramm feinste Asche.
Geklaut aus einer Urne, die nun hinter Edelstahl für immer verschlossen bleiben würde.
Geklaut aus der Urne eines Freundes, dem wir Eines hatten versprechen müssen:
Dass jeder von uns, nach seinem Tod, eine Line von seiner Asche ziehen würde.
Ein rein symbolischer Akt um für immer ein Teil der Gemeinschaft sein zu können. Das war seine Art von Humor gewesen. Seine Methode um sich wahrscheinlich ein wenig von der Angst vor dem Tod zu befreien.
Und wäre er in diesem Augenblick anwesend gewesen, so hätte er sich über unser Zögern lustig gemacht.
Irgendwie war diese Vorstellung beruhigend. Auf eine seltsam, makabere Art. Wie, wenn man nach einer Trennung an dem Kissen der Freundin riecht, weil sie einem so fehlt.
Eigentlich war unser gesamtes Vorhaben so ein Festhalten an den letzten Resten die uns geblieben waren.
Im wahrsten Sinne des Wortes.
„Ich leg einfach mal los. Für Jeden von uns eine.“ meinte Felix, bereits die Rasierklinge in der Hand haltend. Gekonnt, antrainiert. Wie ein pawlowscher Hund, der beim Ton der Pfeife zu speicheln beginnt. Man kennt sich aus.
„Was ist wenn etwas übrig bleibt?“ fragte David. Und es war berechtigter Weise. Niemand wollte mehr als nötig nehmen. Das Ganze war auch so schon unangenehm genug. Bei aller Freundschaft. Aber einfach wegschütten konnten wir den Rest auch nicht.
„Wie wäre es wenn wir danach aufs Dach gehen und die verbliebene Asche in den Wind streuen? Er war immer recht gerne da oben und hat sich die Stadt angesehen.“
„…Und ist jedes Mal beinahe im Vollsuff runter gefallen.“ Fügte Felix hinzu.
Bei dieser Bemerkung mussten wir leise lachen. Sie beschrieb ihn recht prägnant. Er hatte immer nahe am Abgrund gelebt. Augenscheinlich sorgenlos. Doch er war immer noch genug da gewesen um einen Absturz zu verhindern.
Als das erheiterte Glucksen wieder abgeklungen war, hob Jan, Aufmerksamkeit heischend, eine Hand.
„Ist ne gute Idee.“ entgegnete er.
Die anderen beiden stimmten schließlich, mit einem Brummen, dem Vorschlag ebenfalls zu.
„Okay…dann mal los!“
Mit der Klinge begann Felix das Bisschen Pulver in zwei Hälften zu spalten um die Eine, dann sorgfältig in vier gleichgroße Portionen aufzuteilen. Mit geübten Bewegungen schob er die Asche über den Spiegel. Verformte und leitete sie in die richtigen Bahnen wie ein Künstler. Bis schließlich für jeden von uns eine perfekte Line bereit lag.
Filigrane Straßen aus silbrig glitzerndem Staub, der nahezu lebendig erschien im fahlen Licht der nackten Glühbirne, die über unseren Köpfen, sanft im Wind hin und her schwang.
„Wer fängt an?“ fragte ich und warf einen Blick in die Runde.
Wir waren alle, recht gleichlange, mit ihm befreundet gewesen. Und hatten auch die ungefähr selbe Anzahl an Stunden mit ihm verbracht. Die Wahl des Ersten würde also nach dem Zufallsprinzip fallen.
„Du!“ bestimmte Jan als Ältester von uns schließlich, und hielt mir einen zusammen gerollten Zwanzig-Euro-Schein hin.
Ich nahm ihn. Doch irgendwie war die Vorstellung abstoßend, mir nun tatsächlich die sterblichen Überreste eines Freundes durch die Nase zu ziehen.
„Ist das eigentlich giftig?“ fragte ich unsicher um das Ganze noch etwas hinaus zu zögern.
„Nicht mehr als das, was du dir sonst so gibst.“ Jans trockener Humor war ermutigend. Zumindest würde ich nicht an dem Zeug sterben oder deswegen in der Notaufnahme landen. Wenigstens nahm ich das, zu gegebenem Zeitpunkt, an.
„Eigentlich ist das ja Kannibalismus.“ meinte David und sah uns, unangenehm berührt ob seiner eigenen Bemerkung, an. Im Grunde genommen hatte er Recht. Zwar steckten wir uns keine ganzen Fetzen von ihm in den Mund; doch würde seine Asche dennoch irgendwann in unseren Magen gelangen.
„Hauptsache er kann uns noch ein letztes Mal zur Illegalität verführen.“ Murmelte ich um daraufhin den Schein in mein linkes Nasenloch zu stecken und mit einem kräftigen Zug die erste Ascheline, vom behandelten Glas, tief zu inhalieren.
Den Kopf in den Nacken werfend drückte ich fest mit drei Fingern auf meinen Nasenrücken.
Es brannte.
Und ich konnte fühlen, wie das widerliche Gemisch aus Schleim und verbrannten Zellen meinen Rachen hinab lief. Obwohl ich mich bemühte möglichst nicht mit meiner Zunge auch nur in die Nähe meines Gaumens zu kommen, konnte ich dennoch etwas Erdiges, beinahe Mineralhaltiges erschmecken.
Nur ganz wenig.
Eher eine Ahnung.
Statt eines echten Geschmacks.
Am liebsten hätte ich geweint als die Brühe drohte wieder nach oben zu schwemmen.
Er hatte sich nie einfach so abwürgen lassen.
Fin