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Einfach Erwin
Da bildete sich Gewalt hinter seiner Stirn.
Er wünschte den Kollegen im Büro einen schönen Feierabend, griff nach seinem Mantel, zog die Tür auf und brachte die Treppe hinter sich. Am Eingang hielt er sein Portemonnaie vor den berührungslosen Leser.
Dann wünschte er auch der Frau am Empfang einen schönen Feierabend.
Draußen schneite es, und Erwin hastete zu seinem Peugeot. Er musste noch einkaufen. Dieser Gedanke beschäftigte ihn seit dem Morgen. Er stand jenseits der Routine, denn einkaufen ging Erwin sonst immer Samstags. Aber dieses Wochenende musste er einem Freund bei seinem Umzug helfen, also war es für Erwin wichtig, die Erledigungen schon heute zu besorgen; nach der Arbeit; nicht erst am Samstag.
So etwas brachte einen aus dem Trott, und man konnte es schnell vergessen. Deshalb hatte er den Gedanken über Stunden festgehalten, um nach Feierabend nicht versehentlich gleich in die Wohnung zu fahren.
Jetzt, wo er auf dem Parkplatz des kleinen Marktes stand, zerriss der Gedanke in Fetzen und befreite Erwin von seinen Anstrengungen.
Der Schneefall wurde heftiger. Eine weiße Decke über allem.
Einen Einkaufszettel hatte Erwin natürlich nicht geschrieben. Den hatte er vergessen. Er war wütend. Auf sich selbst, und auf seinen Freund. Freundlich lächelte er einen Angestellten an, und brachte das Drehkreuz hinter sich. Die Euromünze verschwand im Wagen. Erwin klapperte die Regale ab. Konnte er durch das Begehen einer einzelnen, flüchtigen Handlung sein Leben zerstören?
Diese Frage ging ihm oft durch den Kopf. In letzter Zeit noch häufiger. Eine unpassende Bemerkung, ein spontaner Ausbruch aus dem Trott. Gewalt, vielleicht. Möglicherweise auch gar nichts. Die Arbeit auf dem Schreibtisch liegen lassen.
Wie würde die Umwelt darauf reagieren?
Die Frau griff nach einer Konservendose. Sie war zu klein, ihre Hände kamen einfach nicht dran. Erwin schob den Wagen beiseite.
"Warten Sie, ich helfe Ihnen."
Und schon hatte er die gewünschte Dose in der Hand. Die Frau lächelte. Ein hübsches Lächeln.
"Danke. Die machen die Regale hier viel zu hoch", sagte sie.
Und dann, ohne darüber nachzudenken, und ohne, dass Erwin sein Handeln überhaupt richtig bewusst war, bewirkte er etwas. Ein dunkler Tropfen bahnte sich seinen Weg vom Haaransatz der Frau, und wurde von ihrer rechten Augenbraue aufgehalten.
Ihr Blick war ausdruckslos. Sie schrie nicht nach Hilfe. Es war alles sehr schnell gegangen. Dann drehte sie sich um, ging zur Kasse, drängelte sich an einem Kunden vorbei, und verließ den Markt.
Erwin stand da, betrachtete die Dose, an der Blut klebte. Er stellte sie zurück ins Regal. Niemand hatte etwas mitbekommen.
Er brachte seinen Einkauf zuende, und fuhr nach Hause.
Im Bett dachte er noch lange über das Passierte nach. Ihr Gesicht, voller ungläubigem Entsetzen. Sie tat Erwin leid, die Frau.
Aber da war noch etwas. Eine Erleichterung einerseits, doch auch Enttäuschung auf der anderen Seite. Immer hatte er geglaubt, sein normales Leben ließe sich mit nur einem Handgriff zunichte machen. So war es nicht gewesen. Tatsächlich war überhaupt nichts geschehen.
Es kam ihm nach wie vor unwirklich vor, als wenn das Unterbewusstsein für einen Augenblick die Kontrolle über das wache Ich übernommen hätte. Grübelnd schlief er ein.
Das Weckradio schleuderte er vom Tisch. Die Musik spielte trotzdem weiter. Erwin richtete sich mühsam auf, wischte einen grausamen Traum weg. Er nahm den Wecker, und stellte ihn zurück auf den Tisch. Auf dem Weg ins Bad machte er kehrt, schleuderte den Wecker erneut auf den Boden, und trat darauf. Das Plastik splitterte, aber er musste zehnmal zutreten, bis die Musik endlich verschwand.
Heute putzte er sich nicht die Zähne.
"Es ist echt super nett. Nur noch den Schrank, dann sind wir fertig. Du hast was gut bei mir."
"Hey! Kein Thema. Ich helfe gern."
Das verdammte Ding ist schwer, ging es Erwin durch den Kopf.
Die Treppe wollte und wollte kein Ende nehmen.
Ein weiterer Gedanke entstand in ihm: Ob es ihn schwer verletzen wird?
"Sorry Klaus, ich muss kurz absetzen."
Erwin ließ los. Jenseits des schweren Holzschranks hörte er eine panische Stimme.
"Mach´ keinen Scheiß, wir sind gleich oben, ich kann den von hier aus nicht ..."
Und dann ratterte das Möbelstück die Treppe runter, und Klaus ratterte mit.
Es ist nicht deine Schuld gewesen. Mach´ dir keine Vorwürfe, sollte er später sagen. Der Kiefer war allerdings hinüber, und man würde immer was sehen, soviel Mühe sich die Chirurgen auch gaben.
***
Vielleicht war es nötig gewesen, sich Gewissheit zu verschaffen. Anfangs klammerte Erwin sich an diese Überlegung. Später verschwammen die Bilder, und er wurde sich bewusst, dass er den Schrank einfach nicht mehr hatte halten können.
Diese Frau im Supermarkt. Weshalb war sie einfach gegangen, nachdem ihr die Dose auf den Kopf gefallen war?
Erwin fand schnell zurück in sein altes Leben.
Wenn er mit Klaus zusammen im Garten des Hauses saß, da lachten sie manchmal über die Szene auf der Treppe; stellten sich selbst als Comicfiguren vor, denen ein überzeichnetes Missgeschick passiert. So akzeptierte Klaus auch die Narbe, die auf seiner Wange geblieben war. Narben sind Erinnerung ...
... und manchmal, wenn Erwin einen Brieföffner benutzt, oder er einer Frau im Supermarkt hilft,
... da kommen Gedanken, aber keine Handlungen,
... denn er weiß, dass sie nichts ändern, und
... keiner würde anzweifeln, dass Erwin ein glücklicher Mensch ist.