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Einfach nur Weihnachten
Einfach nur Weihnachten
Das Brummen der Schiffsdiesel rollte vom Meer her auf den Strand und drängte durch alle Gassen bis hinauf ins Oberdorf, das unmittelbar vor den aufragenden Felsen des Küstengebirges lag. Von diesen reflektiert, wurde es zu einem Blubbern, das wie ein wabbelndes Netz über allem lag.
Da war kein Unterschied zwischen Himmel und Erde, zwischen nah und fern. Dschanas Augen suchten vergeblich nach Halt. Doch da war nichts. Nicht der Schimmer eines Lichts, sie fühlte sich verloren in diesem absoluten Schwarz. Zwölf Jahre alt war sie und lebte seit dem Tod ihrer Eltern beim Großvater.
Der war hinaus gegangen. Sie war ihm gefolgt, auf die Stufen hinausgetreten, vorsichtig tastend. Der seit Tagen wütende Sturm zerzauste ihre Haare. Nur wenige Schritte von ihr entfernt sammelte der Großvater Holzscheite auf, das wusste sie. Die Gewissheit seiner Nähe machte sie stark, ließ keine übermäßige Angst aufkommen vor der Bedrohung da draußen; und doch, die Anspannung ließ sie den Atem anhalten.
„Es ist alles gut“, vernahm sie plötzlich neben sich und spürte mit Erleichterung seine Berührung, als er zurückkehrte.
Es war Krieg auf dem Balkan, Krieg. Selbst ihre kleiner Ort, weit im Süden Dalmatiens, bisher doch so geborgen in der Umarmung des Biokovogebirges, war mit einbezogen. Große, graue Schiffe versperrten den Weg auf die Adria. Seit Wochen hatte sich kein Fischer gewagt hinauszufahren. Seit Wochen waren sie zudem bei Dunkelheit in ihren Häusern gefangen, Großvater, sie und all die Anderen in ihrem Dorf. Seitdem die Kriegsschiffe in ihrer Bucht ankerten, hatten sie Fenster und Türen mit Decken und Laken verhangen, dass abends nicht ein Lichtstrahl nach außen käme. Laken und Decken, so weich und wohlig, waren zur Barriere geworden, kaum zu überwinden.
Das Flackern der Kerze, die Großvater wieder angezündet hatte, ließ Dschana durchatmen. Zwei Holzscheite würden das Feuer im Ofen wach halten, wie ihre Hoffnung, der Weihnachtsmann möge ihren einzigen Wunsch erfüllen – heute am heiligen Abend.
„Ich mag den Krieg nicht, Opa“, sagte sie mit Tränen in den Augen, „ich will das nicht!“
„Eigentlich will ihn niemand“, antwortete er und zog sie eng an sich.
Sie löste sich aus seiner Umarmung, und während ihr eine Träne herabkullerte, fragte sie ihn ärgerlich: „Aber, wenn keiner das will, warum gibt es so etwas Böses?“
„Weißt du“, versuchte er zu erklären, „es fehlt den Menschen oft an Mut, sich zum Guten zu bekennen. Das Böse ist ein Harlekin, gaukelt den Menschen vor in seiner Lotterie auf der Gewinnerseite zu sein, ohne Einsatz. Das Gute verlangt, es fordert, das Gute verschenkt sich nicht.“
Dschana zeigte ein gezwungenes Lächeln: „Das verstehe ich nicht, Opa.“
Wieder zog er sie an sich und streichelte ihr über das Haar.
„Das ist auch nicht leicht zu verstehen, doch sei gewiss, dass Gute gewinnt letztendlich immer. Schon bald werden wir diesen Krieg vergessen haben.“
Sie wollte Großvater gerne glauben. Und wenn auch der Weihnachtsmann nicht direkt die Geschenke brachte, so konnte er doch Wünsche erfüllen, da war sie sich sicher.
Dschana hatte ihren Kopf auf Großvaters Schoß gelegt und die Augen geschlossen.
Wie herrlich war es noch im vorigen Jahr gewesen. Ihre Großtanten waren gekommen, hatten Kuchen mitgebracht. Auch Nachbar Petar, Opas Freund, war dabei. Der hatte erzählt, wie er oben in den Bergen dem Weihnachtsmann begegnet war. Dem war an seinem Schlitten eine Deichsel gebrochen, und da Nachbar Petar Schiffszimmermann war, konnte er den Schaden reparieren. Als Dank durfte er mit dem Weihnachtsmann Geschenke verteilen und Petar wusste von dieser Reise die schönsten Geschichten zu erzählen, von China, Afrika und dem Land wo die Rentiere zu Hause sind.
Plötzlich richtete sie sich auf. Großvater war eingenickt.
„Opa!“, rief sie übermäßig laut, „Opa!“
Der alte Mann blinzelte sie an.
„Hat der Weihnachtsmann auch Angst vor dem Krieg?“
„Nein, … nein, bestimmt nicht!“, sagte Großvater, und da seine Antwort so zögerlich kam, hakte sie nach.
„Glaubst du, er kommt heute zu uns? Es ist so dunkel, er kann uns doch gar nicht finden.“
Großvater lächelte sein liebevolles Lächeln und nahm sie bei den Schultern.
„Es wird ein Licht geben, kleine Dschana, dem sich kein Mensch entziehen kann und auch die dort auf den Schiffen sind Menschen. Auch sie feiern Weihnachten.“
Dschana war skeptisch. Noch vorhin waren über den Schiffen Leuchtraketen aufgestiegen, so wie fast jeden Abend. Im rot flackernden Licht waren die sich in Richtung Küste drehenden Geschütztürme zu erkennen. Die Sirenen hatten sie in die Schutzräumen getrieben. Doch auch heute hatten die dort draußen nicht geschossen, es hatte Entwarnung gegeben, nachdem grüne Signale vom Leitschiff ausgesendet waren.
Obwohl Dschanas Augen durch Blinzeln ihre Müdigkeit zu verdrängen suchten, schlief sie ein, so wie Großvater. - War es das Frösteln oder Großvaters Stimme, die sie zurück in die Wirklichkeit holten?
„Dschana!“, hörte sie, „Dschana, es ist Weihnachten!“
Sie rappelte sich hoch. Großvater hatte die Haustür geöffnet, und bevor sie erschrocken protestieren konnte, sagte er: „Komm, mein Schatz, wir wollen feiern.“
Ihr Zögern beantwortete er mit einem auffordernden Kopfnicken.
Als sie hinaustrat, konnte sie nicht glauben, was sie sah. Schwaches Licht fiel aus Häusern und rechts und links öffneten sich weitere Türen. Es waren so Viele im Freien, wie sie es in den letzten Wochen nicht gesehen hatte. Und alle zog es bergauf. Großvater wartete an der Hausecke, und als sie ihn erreichte, verschlug es ihr den Atem. Oben, auf dem Felsvorsprung im Olivenhain, gab es eine kleine Fichte, kaum größer als sie selbst. Ein Leuchten ging von ihr aus, das alle anzog. Dort angekommen sah sie, dass die Äste des Bäumchens von Kerzen übersäht waren. Es waren dicke und dünne, ganz schlanke und winzig kleine, rote, blaue und weiße. Immer mehr Dorfbewohner kamen und stellten Kerzen auf die Äste, bis kein Platz mehr war und sie die Felsen damit schmückten. Der Sturm, als wüsste er um die Bedeutung dieses Moments, beschränkte sich auf ein Wehen.
Alle waren da, alle aus ihrem Dorf. Jeder hatte etwas mitgebracht und legte es nun am Bäumchen ab. Die Großtanten brachten Kuchen und Petar ein Glöckchen vom Schlitten des Weihnachtsmanns. Großvater hatte eine Flasche Rotwein und einen Schinken mitgebracht.
Und dann war da dieses Geräusch vom Meer her, dieses Tum, Tum. Sie schossen Leuchtraketen ab. Und als dann ihre Bucht in sanftes Grün getaucht wurde, jubelten sie und Dschanas Wunsch war in Erfüllung gegangen: Es sollte einfach nur ein richtiges Weihnachten sein.