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- 24.04.2003
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Einschlafen will Walter nicht
Walter nimmt seinen Fuß von der Bremse und steigt aus.
Die junge Frau liegt auf der Straße, hält sich das Knie, dreht sich von einer Seite auf die andere.
"Hui, das hat aber gerummst", sagt sie.
Walter will sich neben sie knien, aber da ist sie bereits aufgestanden.
"Ganz schöner Schubser." - Sie lacht schrill.
Walter fasst ihr vorsichtig an die Schulter. Aus ihrer Nase tropft klare Flüssigkeit.
"Ich hab´ Sie nicht gesehen, es tut mir Leid, alles in Ordnung?"
Sie nickt.
"Klar, war bloß ein ziemlicher Rumms."
Unbeholfen stolpert sie über den Asphalt, kann kaum das Gleichgewicht halten.
"Ich muss einkaufen. Die machen gleich zu."
Ein älterer Herr kommt näher, deutet mit seinem Spazierstock auf den dunklen Fleck, der sich auf der Straße gebildet hat. Einige Haarsträhnen sind darin.
"Die ist voll aufgeschlagen. Ich habs gesehen."
Walters Magen verkrampft sich, ihm wird übel. Die junge Frau geht auf den Supermarkt zu. Er läuft ihr hinterher, hält sie fest.
"Ich rufe einen Krankenwagen."
Kaum hat er den Satz gesprochen, spürt er, wie weich ihr Oberarm ist; wie Gummi.
Ihre Knie zittern und dabei lächelt sie.
"Mir ist so komisch."
Ihre Augen sind dunkelrot. Die Jeans ist vorne komplett aufgerissen. Walter sieht den Schienbeinknochen hinter der Wunde. Er stützt die Frau, führt sie zu seinem Wagen.
"Wie heißen Sie?"
"Laura. Mir ist so komisch."
"Es tut mir so Leid."
Ihm kommen die Tränen.
Der ältere Herr hat ein Handy aus seinem Mantel geholt und eine Nummer gewählt. Als er auflegt, hilft er Walter dabei, Laura auf die Rückbank des Audis zu legen.
Walter stolpert ein paar Schritte zurück. Die Motorhaube ist völlig verbeult, der Kühlergrill nach innen verbogen. Ein Fingernagel liegt auf der Frontscheibe.
"Was haben Sie sich dabei gedacht", will der ältere Herr wissen. - "Hier einfach so durchzurasen."
Walter stützt sich an der Tür ab.
"Ich weiß nicht. Ich weiß nicht."
Laura bäumt sich auf.
"Gekochten Schinken und zwei Flaschen Milupa. Bringen Sie mir die mit? Für Fiona. Wo ist sie eigentlich?"
Dann liegt sie plötzlich reglos da.
Als der Krankenwagen kommt, hat sie einen leeren Gesichtsausdruck.
Walter sitzt auf dem Bürgersteig und heult.
Er hat es nicht fertig gebracht, unter den Wagen zu schauen.
Auch der ältere Herr weiß nicht so recht wohin, und zittert nur.
Eine Menschentraube hat sich um den Audi herum versammelt. Beschimpfungen fallen, Köpfe werden geschüttelt. Größtenteils aber gucken die Menschen sich die zwei Leichen an und geben blankes Entsetzen vor.
Das arme Kind, die arme Mutter. Raser! Hingerichtet gehört der!
Schließlich muss die Polizei die aufgebrachte Menge zurückhalten.
Walter wird mitgenommen. Eine Faust schlägt gegen die Seitenscheibe.
"Letzte Woche hatte ich fast einen Unfall, weil ich am Steuer telefoniert habe", stellt er fest.
"Seitdem mache ich das nicht mehr. Und dann klingelt eben das Handy, und ich denk´ mir: Hey! Du schaltest das jetzt aus, weil du am Steuer ja nicht mehr telefonieren willst, und ich nehm´ es aus dem Handschuhfach, und es fällt mir zwischen die Beine. Dann greife ich nach unten, ich bücke mich, und plötzlich rummst es."
Walter schluchzt.
"Hui, das hat aber gerummst, hat sie gesagt, und dann ist sie einfach aufgestanden. Das Kind habe ich gar nicht gesehen, nur gespürt, dass der Wagen einen Satz nach oben gemacht hat."
Er kann sich nicht mehr beherrschen, fängt wieder an zu heulen.
"So schnell war ich gar nicht. Schneller als erlaubt, ja, aber so schnell wars nicht."
Der Polizeiwagen biegt auf die Autobahn ab. Einer der Beamten dreht sich zu ihm um.
"Tun Sie mir einen Gefallen, und halten Sie einfach bloß die Klappe."
Er hat das Kind gesehen. Walter nicht, er hat sich die Augen zugehalten. Ob es noch gelebt hat? Ob er Fiona hätte retten können?
Sie fragen eine Menge, beschimpfen ihn, machen ihm Vorwürfe.
Der Ehemann ist inzwischen da. Walter hört ihn brüllen, hört ihn schreien und macht sich fast in die Hose. Sie lassen ihn nicht in den Raum.
"Der würde Sie töten", sagt ein Beamter.
Spät in der Nacht bringen sie Walter nach Hause.
Es ist kalt und windstill. Er sucht seinen Schlüssel, steckt ihn ins Schloss und betritt seine Wohnung.
Im Wohnzimmer setzt er sich auf die große grüne Couch und wartet auf den Morgen.
Einschlafen will Walter nicht.